Inhalt

VG München, Beschluss v. 21.05.2024 – M 10 E 24.2210
Titel:

Einstweilige Anordnung, Presserechtliche Auskunft des Amtsgerichts ... zur Vorabinformation vor einer Hauptverhandlung, Übersendung eines geschwärzten Strafbefehls als Anklagesatz, Pressehoheit, Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch, Verfahrensfairness

Normenketten:
VwGO § 123 Abs. 1
§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.V.m. Art. 2 Abs. 1
GG Art. 1 Abs. 1
BayPrG Art. 4 Abs. 2 S. 2
PresseRL (Richtlinien für die Zusammenarbeit der bayerischen Justiz mit der Presse) Nr. 3.2.1
Leitsätze:
1. Die Frage der Veröffentlichung und Herausgabe eines Anklagesatzes in Form eines anonymisierten Strafbefehls ist Verwaltungsaufgabe. Insoweit handelt das Gericht als Behörde. (redaktioneller Leitsatz)
2. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt Straftätern keinen Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. Selbst die Verbüßung der Straftat führt nicht dazu, dass ein Täter den uneingeschränkten Anspruch erwirbt, mit der Tat „allein gelassen zu werden“. (redaktioneller Leitsatz)
3. Insbesondere bei der Herausgabe von noch nicht rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen bestehen für die Medien gesteigerte Sorgfaltspflichten. Die Verantwortung für die Beachtung dieser Pflichten liegt dabei grds. bei den Medien selbst. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung, Presserechtliche Auskunft des Amtsgerichts ... zur Vorabinformation vor einer Hauptverhandlung, Übersendung eines geschwärzten Strafbefehls als Anklagesatz, Pressehoheit, Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch, Verfahrensfairness, Presserecht
Fundstellen:
BeckRS 2024, 14238
ZGI 2024, 184
LSK 2024, 14238

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt im Weg des vorläufigen Rechtsschutzes die Unterlassung der Herausgabe eines geschwärzten Strafbefehls als Anklagesatz an Personen, die nicht am Strafverfahren beteiligt ist, insbesondere Medienvertretern.
2
Der Antragsteller war … … … und trat zum … Januar 2024 in den vorzeitigen Ruhestand. Er wird bei der Staatsanwaltschaft …  als Beschuldigter eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen sexueller Belästigung (§ 184i Abs. 1, Abs. 3 StGB) geführt. Gegen den Antragsteller erging am … März 2024 auf Antrag der Staatsanwaltschaft …  durch das Amtsgericht … ein Strafbefehl. Gegen diesen Strafbefehl hat der Antragsteller Einspruch eingelegt. Die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht … ist auf den .. … 2024 terminiert.
3
Bereits am … Juli 2023 hatte die Staatsanwaltschaft …  gegenüber der …-Zeitung Informationen über das gegen den Antragsteller gerichtete Strafverfahren bestätigt. In der Folge wurde in zahlreichen Medien über den Antragsteller unter voller Namensnennung berichtet. Auf den Beschluss der Kammer vom 3. August 2023 (VG München, B.v. 3.8.2023 – M 10 E 23.3767) wird Bezug genommen.
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Seit der Erstberichterstattung gab es regelmäßig Nachfragen von Medienvertretern nach dem Stand des Ermittlungsverfahrens, u.a. … … …, …, … …, … … … …, … …, … …, … …
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Mit E-Mail vom … März 2024 teilte der Pressesprecher des Amtsgerichts … dem Antragsteller mit, dass aufgrund der wiederholten Presseanfragen den Pressevertretern mitgeteilt werde, dass im Fall einer Einspruchseinlegung gegen den Strafbefehl nach Ziffer 3.2.1 der PresseRL eine Woche vor einer möglichen Terminierung des Verfahrens die Herausgabe eines anonymisierten Anklagesatzes durch die Pressestelle erfolge. Zuvor würden Presseanfragen zu dem vorgeworfenen Sachverhalt nicht beauskunftet. Mit E-Mail vom selben Tag antwortete der Bevollmächtige des Antragstellers, dass es im gegenwärtigen Verfahrensstand unzulässig sei, die Medien über den konkreten Inhalt des Strafbefehls zu unterrichten, insbesondere über die Höhe der ausgesprochenen Geldstrafe. Zudem sei nach einem Beschluss des Verwaltungsgerichts München (B.v. 1.10.2012 – M 22 E 12.3543) die Mitteilung des Anklagesatzes vor seiner Verlesung in der mündlichen Verhandlung nicht zulässig. Am selben Tag erging eine mit dem Bevollmächtigten des Antragstellers inhaltlich abgesprochene Information an die Medienvertreter zum Erlass des Strafbefehls sowie dem Einspruch des Antragstellers. Hierauf erfolgten weitere Nachfragen von Medienvertretern sowie eine erneute Berichterstattung in mehreren Medien.
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Mit weiterer E-Mail vom .. April 2024 informierte der Pressesprecher des Amtsgerichts … den Bevollmächtigten des Klägers, dass aus Sicht des Amtsgerichts ein Auskunftsanspruch der Pressevertreter bestehe, über den Inhalt eines Anklagesatzes anlässlich einer Terminierung eines Strafverfahrens in anonymisierter Form informiert zu werden. Dieser Informationsanspruch werde in Ziffer 3.2.1 der PresseRL näher konkretisiert und ermögliche eine Herausgabe einer Abschrift des Anklagesatzes auf Nachfrage von Pressevertretern in der Regel frühestens eine Woche vor der Terminierung. Der Informations- und Kontrollfunktion der Presse sei in der Abwägungsentscheidung mit dem Persönlichkeitsrecht des Antragstellers der Vorrang einzuräumen. Mit E-Mail vom .. April 2024 leitete der Pressesprecher des Amtsgerichts … dem Bevollmächtigten des Antragstellers die anonymisierte Fassung des Anklagesatzes sowie einen Begleittext, mit welchem dieser an Medienvertreter versandt werden soll, zu. In diesem Begleittext wird ausdrücklich auf die Strafbarkeit nach § 353d Nr. 3 StGB und die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK hingewiesen.
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Mit E-Mail vom … April 2024 teilte der Pressesprecher des Amtsgerichts … sowohl dem Bevollmächtigten des Antragstellers sowie Medienvertretern zwei Hauptverhandlungstermine mit. Mit E-Mail vom … April 2024 teilte der Pressesprecher des Amtsgerichts … dem Bevollmächtigten des Antragstellers nunmehr den … … 2024 als Termin für die Hauptverhandlung mit. Der zweite ursprünglich angesetzte Termin wurde aufgehoben. Diese Information erging auch gegenüber den Medienvertretern.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom .. Mai 2024, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am selben Tag, beantragt der Antragsteller,
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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, es vorläufig, bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu unterlassen, den (geschwärzten) Strafbefehl der Staatsanwaltschaft …  Personen, die nicht an dem genannten Strafverfahren beteiligt sind, insbesondere Medienvertretern, zur Verfügung zu stellen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dem Antragsteller stehe ein öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch zu, denn die Weitergabe des Strafbefehls an Medienvertreter stelle einen schwerwiegenden hoheitlichen Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechte des Antragstellers dar, nämlich eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG. Die Weitergabe des Strafbefehls einschließlich der detaillierten angeblichen Tatbegehung sei geeignet, den Antragsteller nachhaltig und tiefgreifend in seiner persönlichen Ehre zu beeinträchtigen und seinem öffentlichen Ansehen schweren Schaden zuzufügen. Sie würde dazu führen, dass bereits vor Eintritt in die mündliche Verhandlung in der Öffentlichkeit ein Bild vom Antragsteller als überführtem Straftäter entstehe, obgleich der Schutz vor einer öffentlichen Vorverurteilung wesentlicher Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei. Zudem handle es sich nur um eine Pseudo-Schwärzung des Namens des Antragstellers. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts München sei die Übermittlung eines (geschwärzten) Anklagesatzes nicht notwendig (vgl. VG München, B.v. 1.10.2012 – M 22 E 12.3543). Zudem lägen erhebliche Anhaltspunkte dafür vor, dass bereits die Zurverfügungstellung des Strafbefehls in einem strafrechtlich relevanten Schutzbereich liege (§ 353d Nr. 3 StGB). Die Ziffer 3.2.1. der PresseRL sei daher nicht mit dem geltenden Recht vereinbar. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich daraus, dass das Amtsgericht … nunmehr den geschwärzten Strafbefehl am … Mai 2024 veröffentlichen wolle.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Es bestehe bereits kein Anordnungsanspruch. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BayPrG gewähre Pressevertretern ein Auskunftsrecht gegenüber Behörden. Dieser Auskunftsanspruch folge aus dem verfassungsrechtlichen Gewährleistungsauftrag der Pressefreiheit als essentieller Bestandteil der demokratischen Meinungsbildung. Art und Umfang der behördlichen Auskunftserteilung lägen im Ermessen der Gerichtsverwaltung. Die Herausgabe eines anonymisierten Anklagesatzes diene nach den Erwägungen unter Ziffer 1 der PresseRL der Gewährleistung des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtspflege und trage durch die Berichterstattung über Strafverfahren zum besseren Verständnis der Rechtsordnung bei. Pressevertreter würden durch eine Herausgabe eine Woche vor einer Hauptverhandlung in die Lage versetzt, das Berichterstattungsinteresse vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Themen zu prüfen, eine Berichterstattung zu priorisieren oder überhaupt erst in die Planung aufzunehmen. Außerdem könne eine frühzeitige vertiefte Auseinandersetzung der Presse mit dem Tatvorwurf und dem angeklagten Sachverhalt die Richtigkeit einer Berichterstattung fördern. Zu keiner entgegenstehenden Sichtweise führe bei Herausgabe des Anklagesatzes vor der Hauptverhandlung die Besorgnis einer vorweggenommenen öffentlichen Diskussion amtlichen Prozessmaterials mit möglichen Gefahren für die Wahrheitsfindung. Nach § 353d Nr. 3 StGB sei die öffentliche Mitteilung der Anklageschrift im Wortlaut, bevor sie in der mündlichen Verhandlung erörtert werde, strafbewehrt. Darauf würden die Medienvertreter bei der Herausgabe ausdrücklich hingewiesen. Mit der Herausgabe liege keine Strafbarkeit der Justizbehörden vor. Ziffer 3.2.1 der PresseRL sehe eine Abwägung der Pressefreiheit einerseits und der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen andererseits vor. Dabei seien alle Gesichtspunkte des konkreten Einzelfalls einzustellen. Hier sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller sich dann nicht mehr bzw. nicht mehr mit Gewicht auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen könne, wenn dieser kraft Amtes oder wegen seiner gesellschaftlich hervorgehobenen Verantwortung in besonderer Weise im Blickfeld der Öffentlichkeit stehe. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass die Tatvorwürfe die Öffentlichkeit besonders berührten. Der Antragsteller habe als … zur Tatzeit eine herausgehobene Stellung innerhalb der Justiz innegehabt. Der Eintritt in den Ruhestand sei erst vor Kurzem erfolgt, so dass dies nichts an dieser Stellung ändere. Dazu komme, dass der Antragsteller in einem dienstlichen Über- und Unterordnungsverhältnis mit der mutmaßlich Geschädigten stand und der mutmaßliche Tatort das Dienstgebäude gewesen sei. Weiter sei zu beachten, dass der Schuldvorwurf sowie weite Teile des angeklagten Sachverhalts bereits medial bekannt seien. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass eine strafbewehrte öffentliche Mitteilung des Anklagesatzes durch Pressevertreter erfolgen würde. Beim zitierten Beschluss des Verwaltungsgericht München handle es sich um einen Einstellungsbeschluss und eine summarische Prüfung im Rahmen einer Kostenentscheidung. Weitere Einzelheiten des konkreten Falls seien nicht bekannt. Es gebe auch keine Anhaltspunkte für die Besorgnis der Befangenheit beispielsweise von beteiligten Zeugen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Verfahren M 10 E 23.3767 sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
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Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO hat in der Sache keinen Erfolg.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Dabei hat ein Antragsteller sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Maßgebend hierfür sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
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1. Der Antragsteller hat bereits keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach summarischer Prüfung steht dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner kein aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteter und allgemein anerkannter öffentlich-rechtlicher Anspruch auf Unterlassung zu (vgl. auch BayVGH, B.v. 8.11.2021 – 7 CE 21.1531 – juris). Voraussetzung ist die objektive Rechtswidrigkeit der konkreten Form der beabsichtigten presserechtlichen Auskunft.
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a) Gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BayPrG hat die Presse gegenüber Behörden ein Recht auf Auskunft. Die Auskunft darf nur verweigert werden, soweit aufgrund beamtenrechtlicher oder sonstiger gesetzlicher Vorschriften eine Verschwiegenheitspflicht besteht (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 BayPrG). Verschwiegenheitspflichten können nicht nur aus (generellen) „Geheimhaltungsvorschriften“ folgen. Grenzen des presserechtlichen Auskunftsanspruchs können sich auch ergeben, wenn die Beantwortung einer Anfrage Grundrechte Dritter, etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, berührt. In einem solchen Fall sind die widerstreitenden Grundrechtspositionen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen und abzuwägen, ob dem verfassungsrechtlich aufgrund der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Informationsinteresse oder dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht der Vorzug zu geben ist (vgl. BayVGH, B.v. 8.11.2021 – 7 CE 21.1531 – juris).
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Unter Berücksichtigung der einfach- und verfassungsrechtlichen Maßgaben hat der Antragsgegner im vorliegenden Einzelfall die Herausgabe einer anonymisierten Version des Strafbefehls als Anklagesatz an Medienvertreter eine Woche vor der Hauptverhandlung gegen den Antragsteller entsprechend der Ziffer 3.2.1 der PresseRL nicht zu unterlassen. Die Frage der Veröffentlichung und Herausgabe hier eines Anklagesatzes in Form eines anonymisierten Strafbefehls ist Verwaltungsaufgabe. Insoweit handelt das Gericht als Behörde (vgl. OVG NW, B.v. 11.1.2023 – 15 E 599/22 – juris).
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Eine Berichterstattung über Entstehung, Ausführung und Verfolgung einer Straftat unter Namensnennung, Abbildung und Darstellung des Straftäters greift zwangsläufig in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht ein, weil sie sein Fehlverhalten öffentlich bekanntmacht und seine Person in den Augen der Adressaten von vornherein negativ qualifiziert (vgl. BVerfG, B.v. 10.6.2009 – 1 BvR 1107/09 – juris). Wägt man das Öffentlichkeitsinteresse an einer Berichterstattung mit der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, die mit der identifizierenden Berichterstattung über Verfehlungen des Betroffenen verbunden ist, ab, verdient für die tagesaktuelle Berichterstattung über Straftaten regelmäßig das Informationsinteresse den Vorrang. Wer den Rechtsfrieden bricht, durch diese Tat und ihre Folgen Mitmenschen angreift oder verletzt, muss sich nicht nur den hierfür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern er muss auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird (vgl. BVerfG, B.v. 10.6.2009 – 1 BvR 1107/09 – juris).
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Der Vorrang des Berichtsinteresses gilt jedoch nicht schrankenlos. So ist auf den unantastbaren inneren Lebensbereich Rücksicht zu nehmen. Die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts muss ferner im angemessenen Verhältnis zur Schwere des Fehlverhaltens und seiner sonstigen Bedeutung für die Öffentlichkeit stehen. Danach ist die Namensnennung, Abbildung oder sonstige Identifizierung des Täters keinesfalls immer zulässig. Das Persönlichkeitsrecht bietet Schutz vor einer zeitlich uneingeschränkten Befassung der Medien mit der Person des Straftäters und seiner Privatsphäre. Hat die das öffentliche Interesse veranlassende Tat mit der Strafverfolgung und Verurteilung die gebotene rechtliche Sanktion erfahren und ist die Öffentlichkeit hierüber hinreichend informiert worden, so lassen sich fortgesetzte oder wiederholte Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich des Täters mit Blick auf sein Interesse an der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft nicht ohne Weiteres rechtfertigen. Eine vollständige Immunisierung vor der ungewollten Darstellung persönlichkeitsrelevanter Geschehnisse ist damit jedoch nicht gemeint. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt Straftätern keinen Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. Selbst die Verbüßung der Straftat führt nicht dazu, dass ein Täter den uneingeschränkten Anspruch erwirbt, mit der Tat „allein gelassen zu werden“. Maßgeblich ist vielmehr stets, in welchem Ausmaß das Persönlichkeitsrecht – einschließlich des Resozialisierungsinteresses – des Straftäters von der Berichterstattung unter den konkreten Umständen beeinträchtigt wird. Für die Intensität der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts kommt es auch auf die Art und Weise der Darstellung, insbesondere auf den Grad der Verbreitung des Mediums an. Die genaue Grenze einer verantwortungsvollen Berichterstattung mit Blick auf eine mögliche Prangerwirkung lässt sich nur im Einzelfall bestimmen (vgl. zum Ganzen BVerfG, B.v. 23.6.2020 – 1 BvR 1240/14 – juris; B.v. 10.6.2009 – 1 BvR 1107/09 – juris).
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Gemessen an diesen Grundsätzen überwiegt im vorliegenden Einzelfall das verfassungsrechtlich aufgrund der Pressefreiheit gewährleistete Informationsinteresse das verfassungsrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht des Antragstellers. Der Antragsteller verweist lediglich pauschal auf die Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei einer Herausgabe des anonymisierten Strafbefehls als Anklagesatz eine Woche vor der Hauptverhandlung. Der anonymisierte Strafbefehl als Anklagesatz enthält vorliegend kaum zusätzliche, der Öffentlichkeit über die Medien nicht bereits bekannte Tatsachen zum Tatvorwurf. Worin der durch die Herausgabe an die Pressevertreter gemäß Ziffer 3.2.1 der PresseRL nachhaltige und tiefgreifende Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers im vorliegenden Fall bestehen soll, bleibt offen. Der Tatvorwurf und die Details hierzu werden bereits seit … 2023 in der Presse öffentlich diskutiert. Von einer „detaillierten angeblichen Tatbegehung“, die geeignet wäre den Antragsteller nachhaltig und tiefgreifend in seiner persönlichen Ehre zu beeinträchtigen und seinem öffentlichen Ansehen (weiteren) Schaden zuzufügen, kann bei den nur wenigen zusätzlichen Details daher nicht gesprochen werden. Auch die von Antragstellerseite vorgetragene „Pseudoanonymisierung“ führt nicht zu einer weiteren Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Antragstellers. Seit der ersten Berichterstattung in der Presse ist der Antragsteller ohnehin mit vollem Namen genannt worden, wobei dahinstehen kann, ob dies rechtmäßig oder nicht erfolgte. Einer Herausgabe steht auch nicht der Straftatbestand des § 353d Nr. 3 StGB entgegen. Die Pressevertreter werden bei der Herausgabe ausdrücklich auf die Strafbarkeit nach dieser Vorschrift hingewiesen. Bei einer vollständigen Veröffentlichung des anonymisierten Strafbefehls als Anklagesatz vor dessen Verlesung in der Hauptverhandlung würde sich der jeweilige Pressevertreter unzweifelhaft strafbar machen. Insbesondere bei der Herausgabe von noch nicht rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen bestehen für die Medien zudem gesteigerte Sorgfaltspflichten (vgl. BVerfG, B.v 14.9.2015 – 1 BvR 857/15 – juris). Die Verantwortung für die Beachtung dieser Pflichten liegt dabei grundsätzlich bei den Medien selbst. Weder ist hier ersichtlich, noch drängt es sich auf, dass die Medien im vorliegenden Fall ihre ihnen obliegenden Sorgfaltspflichten und die Rechte Dritter nicht beachten werden. Die Herausgabe durch das Gericht an lediglich die Pressevertreter mit dem Hinweis auf die Strafbarkeit führt hingegen nach Auffassung der Kammer zudem nicht zu einer Strafbarkeit der herausgebenden Person beim jeweiligen Gericht. Dem steht auch nicht der Einstellungsbeschluss nach einer Hauptsacheerledigung dieses Gerichts entgegen (vgl. VG München, B.v. 1.10.2012 – M 22 E 12.3543). Die dortigen Ausführungen erfolgten lediglich im Rahmen einer vom Gericht zu treffenden Kostenentscheidung. Welcher Sachverhalt dem Verfahren zugrunde lag und worin genau die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts lag, lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen.
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Mit der Ziffer 3.2.1 der PresseRL wurden im Übrigen nur konkrete Vorgaben für die Ausübung der Abwägung im Rahmen des presserechtlichen Auskunftsanspruchs nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BayPrG gemacht. So muss es sich um eine Strafsache handeln, die in der Öffentlichkeit besondere Beachtung finden wird. Außerdem wurde eine zeitliche Einschränkung vorgenommen, nämlich frühestens eine Woche vor der Hauptverhandlung. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller eine herausgehobene Position in der Justiz und damit auch der Öffentlichkeit innehatte. Mit dem Antragsgegner geht das Gericht davon aus, dass dies auch noch weiter nachwirkt, da der Eintritt in den Ruhestand erst zum Jahresbeginn erfolgte. Aufgrund dieser herausgehobenen Position ist das Interesse der Öffentlichkeit an einer Berichterstattung über die dem Antragsteller vorgeworfene Tat deutlich höher zu gewichten als das Persönlichkeitsrecht des Antragstellers. Ein weiteres Interesse der Öffentlichkeit ergibt sich aus dem Tatvorwurf selbst, der im Rahmen der immer noch aktuellen „… …“-Diskussion steht. Wie der Antragsgegner zudem vorgetragen hat und auch aus den vorgelegten Akten ersichtlich ist, besteht seit dem Bekanntwerden des Tatvorwurfs im Juli 2023 ein gesteigertes Interesse der Medienvertreter. Es wurde durchgehend von verschiedenen Medien nach dem aktuellen Verfahrensstand gefragt. Weiterhin wurden immer wieder Berichte über den Antragsteller und den Stand des Verfahrens veröffentlicht. Es ist daher weiter davon auszugehen, dass das Verfahren gegen den Antragsteller in der Öffentlichkeit besondere Bedeutung finden wird. Hinsichtlich der Angemessenheit des Zeitraums der Herausgabe des Anklagesatzes vor der Hauptverhandlung wurde nichts von Seiten des Antragstellers vorgetragen.
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Es ist auch weder eine Beeinflussung noch eine Vorverurteilung durch die Herausgabe des anonymisierten Strafbefehls als Anklagesatz eine Woche vor der Hauptverhandlung erkennbar. Er dient lediglich der am Verfahren interessierten Medienvertreter oder kann deren Interesse an der Hauptverhandlung für eine Berichterstattung wecken. Eine Vorabberichterstattung mit allen Details aus dem Anklagesatz würde gegebenenfalls zu einer Strafbarkeit des Pressevertreters führen. Eine Beeinflussung von Gerichtspersonen oder eine Besorgnis der Befangenheit am Verfahren beteiligter Personen ist durch diese bloße Vorabinformation zum Sachverhalt des Tatvorwurfs nicht zu erwarten.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Da mit der Entscheidung eine Vorwegnahme der Hauptsache verbunden ist, wird der Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts angehoben.