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VG München, Urteil v. 09.02.2024 – M 1 K 20.2814
Titel:

Beseitigungsanordung, Faktische Baugrenze (verneint), Vorgartenzone

Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 1
BauNVO § 23
BayBO Art. 76 S. 1
Schlagworte:
Beseitigungsanordung, Faktische Baugrenze (verneint), Vorgartenzone
Fundstelle:
BeckRS 2024, 14199

Tenor

I. Der Bescheid vom 9. Juni 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

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Die Kläger begehren die Aufhebung einer Baubeseitigungsanordnung für einen Container.
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Die Kläger sind Miteigentümer des Grundstücks FlNr. 1573/ … Gem. … (Vorhabengrundstück), das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Das Grundstück liegt im unbeplanten Innenbereich; auch örtliche Bauvorschriften bestehen für den Bereich nicht.
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Nachdem sie von einer Nachbarin darauf aufmerksam gemacht worden war, dass auf dem Vorhabengrundstück an der südwestlichen Grundstücksgrenze ein Container – nach den Angaben der Kläger handelt es sich um einen 20-Fuß-Transportcontainer („High Cube“) mit 6 m Länge, 2,44 m Breite und einer Höhe von 2,69 m – errichtet worden war, hörte die Beklagte den Kläger zu 1.) zum Erlass einer Beseitigungsanordnung, die Klägerin zu 2.) zum Erlass einer Duldungsanordnung, jeweils mit Schreiben vom 4. November 2019, an. Der Container sei bauplanungsrechtlich unzulässig, weil er sich nicht in die nähere Umgebung einfüge, die dadurch gekennzeichnet sei, dass die Bebauung jeweils einen Mindestabstand von ca. 4 m zur Grundstücksgrenze einhalte.
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Nachdem eine zunächst vom Kläger zu 1.) avisierte Versetzung des Containers nicht stattfand, verpflichtete die Beklagte den Kläger zu 1.) mit streitgegenständlichem Bescheid vom 9. Juni 2020 zur Beseitigung des Containers (Nr. 1) unter Zwangsgeldandrohung in Höhe von 400,00 Euro für den Fall, dass die Anordnung nicht innerhalb von zwei Monaten nach Bestandskraft des Bescheides erfüllt werde (Nr. 2). Zugleich verpflichtete die Beklagte die Klägerin zu 2.) zur Duldung der Beseitigung (Nr. 3). Der Container sei bauplanungsrechtlich unzulässig, weil er sich nach der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Die Ostseite der Straße sei dadurch geprägt, dass die Gebäude einen Mindestabstand von 4 bis 5 m gegenüber der vorderen Grundstücksgrenze einhielten und somit eine faktische Baugrenze bildeten. Der Container sei demgegenüber unmittelbar hinter der vorderen Einfriedungsmauer errichtet worden. Er rufe aufgrund der von ihm ausgehenden Vorbildwirkung und der durch ihn bewirkten Verengung des Straßenbildes, welches vorliegend als Teil des Ortsbildes zu berücksichtigen sei, städtebauliche Spannungen hervor. Der Kläger zu 1.) werde als Handlungsstörer in Anspruch genommen, weil er nach eigenen Angaben den Container errichtet habe. Es sei ermessensgerecht, die Klägerin zu 2.) zur Duldung der Beseitigung zu verpflichten.
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Die Kläger haben hiergegen am 19. Juni 2020 Klage erhoben und beantragt,
den Bescheid vom 9. Juni 2020 in den Nrn. 1 bis 5 aufzuheben.
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Der aufgrund seines Brutto-Rauminhalts von weniger als 75 m³ verfahrensfreie Container füge sich in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Eine faktische Baugrenze bestehe nicht. Für die Feststellung einer solchen müssten nämlich hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation bestehen. Die tatsächlich vorhandene Bebauung und die daraus folgende Baugrenze dürfe kein bloßes Zufallsprodukt ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert sein, zumal es sich bei einer Baugrenze um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums handle. Maßstabsbildend sei nur die Bebauung mit Hauptgebäuden, nicht jedoch die Bebauung mit Nebengebäuden und Garagen, denn für diese bestünden besondere planungsrechtliche Vorschriften. Das Wohngebäude Hausnummer 10 halte einen Abstand von 3,5 m bis 4 m zur straßenseitigen Grundstücksgrenze ein, der Bereich zur Grundstücksgrenze werde gärtnerisch genutzt. Das Wohngebäude Hausnummer 8 weise einen Grenzabstand von ca. 10 m auf. In diesem Bereich befinde sich die direkt an das Wohngebäude angebaute Garage samt straßenseitiger Vorstellfläche. Im Abstand von ca. 1,5 m zur Straße befinde sich zudem ein Gartenhäuschen. Das klägerische Wohnhaus sei in einem straßenseitigen Abstand von ca. 10 m situiert; straßenseitig sei eine Garage angebaut, der Bereich davor sei begrünt und bepflanzt. Direkt an der Grundstücksgrenze verlaufe eine ca. 1,6 m hohe Mauer. Schließlich weise das Wohngebäude Hausnummer 2 einen Abstand von ca. 6 bis 7 m zur Straße auf. Mit einem Abstand von 5 m zur Straße stehe eine Garage. Somit lasse sich ein städtebaulicher Aussagewert der straßenseitigen Abstände nicht bejahen, vielmehr wirke die Situation als Zufallsprodukt: die Gebäude wiesen aus verschiedenen Gründen einen jeweils unterschiedlichen Abstand zur Straße auf, die Nutzung in diesem Bereich sei unterschiedlich, das insgesamt zu einem uneinheitlichen Erscheinungsbild führe.
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Die Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Es sei für die Annahme einer faktischen Baugrenze nicht ausschlaggebend, dass die Gebäudeflucht entlang der Straße sich nicht einheitlich gestalte. Dies wäre lediglich für die Annahme einer Baulinie notwendig. Die Forderung einer Gleichmäßigkeit der Gebäudestellungen verstoße gegen den Grundsatz, dass § 34 BauGB im unbeplanten Innenbereich nicht mehr als ein Bebauungsplan mit den Werkzeugen des § 9 BauGB regeln könne. Von baulichen Anlagen freie Vorgärten seien ein das Orts- und Straßenbild mitbestimmendes städtebauliches Element und vorliegend sei dieses Prinzip als städtebaulicher Aussagewert erkennbar. Zwar könne, ebenso wie in überplanten Gebieten, grundsätzlich angenommen werden, dass auch außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen Nebenanlagen, Zufahrten, Stellplätze und Hausgärten mit zugehörigen Anlagen wie Gartenhäuschen nicht ausgeschlossen seien. Vorliegend könnte dieses jedoch nicht zugelassen werden, weil dies zu städtebaulichen Spannungen führen würde. Der Container sei das erste Nebengebäude außerhalb der faktischen Baugrenze. Damit entstünde ein neuer Maßstab, der als Vorbild für ähnliche oder sogar jegliche Gebäude im Straßenverlauf dienen könne mit der Gefahr der Entstehung eines vollkommen anderen städtebaulichen Erscheinungsbildes. Das von den Klägern erwähnte Gartenhäuschen sei nicht als Bezugsfall einzustufen, weil es sich um eine unbedeutende bauliche Anlage handle – der streitgegenständliche Container sei mit den einer Garage entsprechenden Ausmaßen deutlich größer, insbesondere könne er zum Betreten und zum Aufenthalt von Menschen genutzt werden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg, denn der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Der streitgegenständliche Bescheid, der zugleich die Baubeseitigung gegenüber dem Kläger zu 1.) und die Duldungsanordnung gegenüber der Klägerin zu 2.) beinhaltet, ist rechtswidrig, denn dem Vorhaben stehen öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegen, insbesondere fügt sich das im unbeplanten Innenbereich gelegene Vorhaben nach der überbaubaren Grundstücksfläche in die nähere Umgebung ein, § 34 Abs. 1 BauBG, weil eine faktische Baugrenze nicht besteht.
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Gemäß Art. 76 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde die teilweise oder vollständige Beseitigung von Anlagen fordern, wenn diese im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden und nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.
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1.1 Die streitgegenständliche Anlage ist formell rechtmäßig ohne Baugenehmigung errichtet worden. Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) BayBO sieht vor, dass Gebäude mit einem Brutto-Rauminhalt von bis zu 75 m³ im Innenbereich verfahrensfrei errichtet werden können.
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1.2 Der Container entspricht zudem den materiellen öffentlich-rechtlichen Vorschriften. Insbesondere ist er bauplanungsrechtlich zulässig. Das Vorhabengrundstück liegt in einem Bereich, für den bauplanerische Festsetzungen in einem Bebauungsplan nicht existieren. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich daher nach § 34 Abs. 1 BauGB, wonach maßgeblich ist, ob es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.
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Streitig war insofern lediglich, ob das Vorhaben sich nach der überbaubaren Grundstücksfläche in die nähere Umgebung einfügt.
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Dies ist zu bejahen, denn eine sog. faktische Baugrenze lässt sich aus der Bebauung im Bereich der maßgeblichen näheren Umgebung nicht ableiten. Bei der überbaubaren Grundstücksfläche kann zur Konkretisierung der Anforderungen auf die Vorschrift des § 23 BauNVO als Auslegungshilfe zurückgegriffen werden (BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 8).
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Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass die hier für die überbaubare Grundstücksfläche maßgebliche, sich gegenseitig prägende, nähere Umgebung des Vorhabengrundstücks alleine den östlich des F.-H.-Wegs gelegenen Bereich umfasst. Der westlich gelegene Bereich hebt sich durch eine wesentlich homogenere Bebauung hervor, bei dem sich nicht nur die Grundflächen, das Maß der baulichen Nutzung und die Situierung der Wohngebäude auf den Grundstücken, sondern auch die nicht überbaubaren Grundstücksflächen mit den überwiegend einheitlich tiefen Vorgartenbereichen im Wesentlichen gleichen (s. hierzu die „Google Street View“ Ansicht des F.-H.-Wegs unter www.googlemaps.de). Östlich der Straße hingegen zeigt sich eine durchgängig unterschiedliche Ausrichtung, Grundfläche und Maß der Hauptgebäude mit verschieden genutzten straßenseitigen Grundstücksbereichen, teilweise als Stellflächen für Kraftfahrzeuge, teilweise als offene Gartenflächen und auch als eingefriedete Gartenbereiche. Eine gegenseitige Prägung der jeweilig straßenseitigen Bebauung ist hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen daher nicht gegeben.
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In der so umgrenzten näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks lässt sich ein einheitlicher Abstand oder auch nur Mindestabstand der Gebäude und baulichen Anlagen vom Straßenrand, der zu einer faktischen Baugrenze führen könnte, nicht feststellen. Dabei müssen für die Annahme einer faktischen Baugrenze wegen deren einschränkenden Wirkung auf das Grundeigentum hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation bestehen und die tatsächlich vorhandene Bebauung darf kein bloßes „Zufallsprodukt“ ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert sein (BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 12). Auch kann bei einer höchst unterschiedlichen Bebauung ohne gemeinsame vordere oder hintere Gebäudeflucht von einer vorderen bzw. rückwärtigen Baugrenze nicht gesprochen werden (BayVGH, a.a.O.).
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Gemessen an diesen Maßstäben ergibt sich für die hier maßgebliche Bebauung entlang der östlichen Straßenseite keine städtebaulich verfestige Situation, aus der sich eine faktische Baugrenze ableiten ließe. So weisen bereits die jeweiligen Hauptbaukörper jeweils einen stark abweichenden Abstand zur Straße von 4 m (Hausnummer 10), ca. 10 m (Hausnummern 6 und 4) und ca. 5,50 m (Hausnummer 2) auf. Eine einheitliche Gebäudeflucht der Hauptbaukörper ist nicht auszumachen. Bei Hausnummern 6 und 4 befinden sich Garagen im „Vorgartenbereich“, bei Hausnummer 6 ist die Fläche vor den Garagen befestigt, dergleichen der Zufahrtsbereich der Nordsüd-Richtung ausgerichteten Garage auf dem klägerischen Grundstück. Die Bereiche zwischen den Hauptgebäuden und der Straßen bei Hausnummern 10 und 2 hingegen werden rein gärtnerisch genutzt. Im „Vorgartenbereich“ der Hausnummer 6 befinden sich zwei kleinere Gartenhäuschen. Die von der Beklagten in den Lageplan (Bl. 12 der Behördenakte) eingezeichnete „Baugrenze“ ergibt sich daher als bloßes Zufallsprodukt in einer Situation, in der rein tatsächlich eine einheitlich „ruhige Vorgartenzone“ mit eigenem städtebaulichen Aussagewert angesichts der verschiedenen Abstände und Nutzungen nicht gegeben ist.
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2. Aus oben Gesagtem folgt zugleich die Rechtswidrigkeit der gegen die Klägerin zu 2.) ausgesprochenen Duldungsanordnung.
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3. Die Klage war daher mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.