Titel:
Nachbarklage gegen Errichtung eines Bürogebäudes im Gewerbegebiet
Normenkette:
BauGB § 31 Abs. 2
Leitsatz:
Während Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung regelmäßig als nachbarschützend anzusehen sind (sog. Gebietserhaltungsanspruch), ist bei allen anderen Festsetzungen maßgeblich, ob sie nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurden oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollen (vgl. VGH München BeckRS 2022, 9270 Rn. 23). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage gegen Errichtung eines Bürogebäudes im Gewerbegebiet, Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, Rücksichtnahmegebot, Baugenehmigung, Maß der baulichen Nutzung, Nachbarschutz, Gebot der Rücksichtnahme
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Beschluss vom 08.03.2024 – B 2 Sa 23.872
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13868
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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Die Antragsteller wenden sich als Eigentümer des mit Bürogebäuden, Lagerstätten und Betriebsgebäuden zur Entwicklung und Produktion von Spezialartikeln für den Stahlbetonbau bebauten Grundstücks ... im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzes gegen die am 28. Juni 2023 der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung des Neubaus eines Bürogebäudes auf dem östlich benachbarten Grundstück ... Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des ursprünglichen Bebauungsplans „Gewerbegebiet ...“ aus dem Jahr 1999 bzw. „Gewerbegebiet ... in der Fassung der 1. Änderung von 2008“, der für beide Grundstücke ein eingeschränktes Gewerbegebiet festsetzt. Anlässlich der Erweiterungsabsichten der Beigeladenen wurden mit der 2. Änderung des Bebauungsplans, bekannt gemacht am 20. Mai 2021, für das Grundstück der Beigeladenen maximal fünf Vollgeschosse festgesetzt und bestimmt, dass Gebäude errichtet werden dürfen, die länger als 50 m sind. Die zulässige Traufhöhe wurde auf 18,5 m erhöht. Gegen die 2. Änderung des Bebauungsplans haben die Antragsteller Antrag auf Normenkontrolle gestellt, über den noch nicht entschieden ist; ein ebenfalls gestellter Normenkontrolleilantrag hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 28. November 2023 (Az.: 2 NE 23.1881) mangels Antragsbefugnis abgelehnt.
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Gegen die dem Beigeladenen mit Bescheid vom 28. Juni 2023 erteilte Baugenehmigung haben die Antragsteller am 18. Juli 2023 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist (Az.: B 2 K 23.573); am 24. Oktober 2023 haben sie den Antrag gestellt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag mit Beschluss vom 8. März 2024 abgelehnt. Das Vorhaben verstoße nicht gegen nachbarschützende Rechtsvorschriften zu Gunsten der Antragsteller. Nach dem im einstweiligen Rechtsschutzverfahren als wirksam zu erachtenden, qualifizierten Bebauungsplan erweise sich das streitgegenständliche Vorhaben als allgemein zulässig nach § 30 Abs. 1 BauGB. Angesichts der Lage der Grundstücke in einem Gewerbegebiet könne nicht davon ausgegangen werden, dass den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung seitens der Gemeinde Nachbarschutz beigelegt werden sollte. Das Bauvorhaben verletze nicht das Gebot der Rücksichtnahme.
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Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde. Der Bebauungsplan sei wegen offensichtlichen Verstoßes gegen Art. 3 GG, 118 Abs. 1 BV gleichheitswidrig und als reine Gefälligkeitsplanung städtebaulich nicht erforderlich gemäß § 1 Abs. 3 BauGB. In der Planbegründung habe die Gemeinde ausdrücklich den Willen manifestiert, dass mit der beschlossenen Änderung des Maßes der baulichen Nutzung eine verbesserte Ausnutzung der vorhandenen Gewerbegebiete im Interesse einer Weiterentwicklung der Gewerbetreibenden erfolgen solle. Es blieben jedoch die Nutzungsmöglichkeiten der anderen Gewerbetreibenden beschränkt, während diejenigen der Beigeladenen gleichheitswidrig erweitert würden. Dieser zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans führende Fehler im Abwägungsergebnis nach § 1 Abs. 7 BauGB sei offensichtlich, weil dem Bebauungsplan die ungleiche Behandlung der Gewerbetreibenden durch die unterschiedlichen Maßfestsetzungen auf der Stirn geschrieben stehe. Das Verwaltungsgericht habe nur die Erfolgsaussichten der Hauptsache geprüft, nicht aber andere Elemente der Interessenabwägung und somit Fragen des Suspensivinteresses unberücksichtigt gelassen. Ein Suspensivinteresse bestehe schon deshalb, weil bei unterbleibender Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage eine Fertigstellung des Gebäudes drohe und dies nicht nur den Rechtsschutz gegen die Baugenehmigung, sondern insbesondere auch den Rechtsschutz im Wege der prinzipalen Normenkontrolle vereiteln würde. Die Baugenehmigung begründe einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme, beeinträchtige durch die ungleiche Begünstigung zu Lasten der Antragsteller deren schutzwürdige Nutzungsinteressen. Dem ursprünglichen Bebauungsplan komme hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung zur Anzahl der Vollgeschosse sowie der Gebäudehöhe nachbarschützende Funktion zu und die Antragsteller seien zur Verteidigung dieser ursprünglichen Maßfestsetzungen berechtigt.
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Die Antragsteller beantragen,
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unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 8. März 2024 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 28. Juni 2023 anzuordnen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Die Antragsteller bzw. Kläger seien aufgrund verspäteten Vortrags nach § 6 Satz 2 UmwRG materiell präkludiert. Dem Beschwerdevorbringen lasse sich überdies die Verletzung nachbarschützender Vorschriften nicht entnehmen. Es sei nicht plausibel, warum die Gemeinde die Nachbarn in einem Gewerbegebiet mit der Festsetzung von einer Höchstanzahl an Vollgeschossen habe schützen wollen. Nach § 212a Abs. 1 BauGB sei die drohende Fertigstellung eines auf Grundlage einer erteilten aber von Dritten angegriffenen und damit nicht bestandskräftigen Baugenehmigung begonnenen Bauvorhabens, der Nachbarklage im Baurecht immanent und vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt; ein besonderes Suspensivinteresse unabhängig von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache sei nicht ersichtlich.
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Die Beigeladene beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Der streitgegenständliche Bebauungsplan sei nicht evident rechtswidrig. Hinsichtlich der geltend gemachten Ungleichbehandlung (Art. 3 GG) werde auf die planerische Entscheidungsprärogative der Gemeinde verwiesen. Zugunsten der Antragsteller solle die 3. Änderung des Bebauungsplans erfolgen und das Plangebiet erweitert werden.
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Zum weiteren Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die von den Antragstellern dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen nicht die Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, wird die Klage der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 28. Juni 2023 voraussichtlich erfolglos bleiben, da diese nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die zumindest auch ihrem Schutz zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Interesse an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen ist deshalb nachrangig. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses und sieht von einer weiteren Begründung ab. Mit Blick auf das Beschwerdevorbringen bleibt Folgendes zu bemerken:
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1. Es kann mangels Entscheidungserheblichkeit dahingestellt bleiben, ob die Antragsteller mit ihrem erstinstanzlichen Klagevorbringen nach § 6 UmwRG präkludiert sein könnten (vgl. BayVGH, B.v. 5.5.2023 – 1 CS 23.34 – juris Rn. 6), weil sie ihr Rechtsschutzbegehren erst nach Ablauf von zehn Wochen ab Klageerhebung begründet haben. Die Hauptsachenentscheidung fällt hier auch bei vollständiger Berücksichtigung des Vortrags der Antragsteller aller Voraussicht nach zu deren Lasten aus.
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2. Dahinstehen kann weiter im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Rechtsgültigkeit der 2. Änderung des Bebauungsplans „Gewerbegebiet ...“ vom 20. April 2021, bekannt gemacht am 20. Mai 2021, der im Wesentlichen für das auf das Vorhabengrundstück beschränkte Plangebiet zur Ermöglichung einer erhöhten Ausnutzung von gewerblich genutztem Grund die Maßfestsetzungen dahingehend neu regelt, dass fünf Vollgeschosse, eine Traufhöhe von 18,5 m und Gebäudelängen von über 50 m möglich sein sollen. Eine Gemeinde kann sich im Rahmen ihres Planungsermessens auf denjenigen Bereich beschränken, in dem ein planerischer Handlungsbedarf besteht (vgl. BVerwG, B.v. 10.10.2013 – 4 BN 36.13 – BauR 2014, 57; BayVGH, B.v. 28.11.2019 – 1 NE 19.1502 – juris Rn. 17). Eine städtebaulich begründete Planung darf auch privaten Interessen dienen und durch private Bauwünsche angestoßen worden sein (vgl. BVerwG, B.v. 30.12.2009 – 4 BN 13.09 – juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 28.4.2017 – 9 N 14.404 – juris Rn. 29). Allein der Umstand, dass das Grundstück eines einzelnen Eigentümers in Änderung des Bebauungsplans neu beplant wird, schließt die städtebauliche Erforderlichkeit nicht aus; die punktuelle Änderung der Maßfestsetzungen dürfte die Gesamtkonzeption des Bebauungsplans nicht in Frage stellen.
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Während Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung regelmäßig als nachbarschützend anzusehen sind (sog. Gebietserhaltungsanspruch), ist bei allen anderen Festsetzungen maßgeblich, ob sie nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurden oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollen (vgl. BayVGH, B.v. 20.4.2022 – 9 CS 22.442 – juris Rn. 23).
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Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass sich weder der Begründung des Änderungsbebauungsplans noch der Begründung des ursprünglichen Bebauungsplanes Anhaltspunkte entnehmen lassen, die den Maßfestsetzungen in einem Gewerbegebiet eine zugedachte Schutzfunktion zugunsten der Nachbarschaft erkennen ließen. Selbst wenn die 2. Änderung des Bebauungsplanes unwirksam sein sollte und in diesem Fall die Baugenehmigung unter Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans in der Fassung vom 21. Oktober 2008 hätte erteilt werden müssen, kann sich für die Antragsteller hinsichtlich eines etwaig fehlenden Dispenses von nicht nachbarschützenden Festsetzungen nach § 31 Abs. 2 BauGB eine Rechtsverletzung nur aus einem Verstoß gegen das nachbarschützende Rücksichtnahmegebot ergeben (sog. „versteckter Dispens“ – vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – juris Rn. 10; B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris; BayVGH, B.v. 26.10.2023 – 9 CS 23.1172 – juris Rn. 22 m.w.N.).
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3. Entgegen dem Beschwerdevorbringen resultiert aus dem streitgegenständlichen Vorhaben keine unzumutbare Beeinträchtigung der Nutzungsinteressen der Antragsteller; eine Verletzung des nachbarschützenden Gebots der Rücksichtnahme ist nicht zu erkennen. Das Verwaltungsgericht hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass durch das Hinzutreten des streitgegenständlichen Bauvorhabens der Schutzanspruch nicht zu Lasten der Antragsteller erhöht wird und diese nicht mehr als die Ausschöpfung der in einem Gewerbegebiet zulässigen Immissionsrichtwerte verlangen könnten (vgl. ebenso BayVGH, B.v. 28.11.2023 – 2 NE 23.1881 – juris Rn. 11). Unter Berücksichtigung des in einem Gewerbegebiet abgesenkten Schutzniveaus ergibt sich durch das Bauvorhaben, das nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO einzuhaltenden Abstandsflächen wahrt, auch keine, den Nachbarn unzumutbar beeinträchtigende, erdrückende Wirkung.
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4. Ein besonderes Suspensivinteresse der Antragsteller, das trotz fehlender Erfolgsaussichten in der Hauptsache eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs rechtfertigen würde, liegt nicht vor.
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Selbst die bei offenen Erfolgsaussichten vorzunehmende Interessenabwägung nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wird von § 212a Abs. 1 BauGB in der Weise vorstrukturiert, dass dem Vollzugsinteresse ein erhebliches Gewicht beizumessen ist, wenngleich die Abwägung damit nicht schon präjudiziert ist (vgl. etwa BayVGH, B.v. 27.10.2017 – 15 CS 17.2061 – juris Rn. 34; B.v. 23.11.2016 – 15 CS 16.1688 – juris Rn. 77 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat in § 212a Abs. 1 BauGB dem Interesse an der Verwirklichung des Bauvorhabens „auf eigenes Risiko“ – also ohne rechtsbeständige Genehmigung – grundsätzlich den Vorrang eingeräumt, so dass es weiterer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen; allein die Behauptung, der Bau schaffe „vollendete Tatsachen“, genügt insoweit nicht (vgl. BayVGH, B.v. 26.10.2023 – 9 CS 23.1172 – juris Rn. 18; Kalb/Külpmann in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Oktober 2023, § 212a Rn. 47 m.w.N.). Erst recht hat dies bei fehlenden Erfolgsaussichten zu gelten.
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5. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht billigem Ermessen, die der Beigeladenen im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten für erstattungsfähig zu erklären, weil sie einen Beitrag im Verfahren geleistet und einen Antrag gestellt hat (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und folgt der Streitwertfestsetzung der erstinstanzlichen Entscheidung, gegen die im Beschwerdeverfahren keine Einwände erhoben worden sind.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).