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VGH München, Urteil v. 10.05.2024 – 6 B 18.33216
Titel:

Keine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a Abs. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 2, § 3c, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Bei einer Rückkehr nach Pakistan droht mangels der erforderlichen Verfogungsdichte nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Etwas anderes gilt für diejenigen Ahmadi, zu deren identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es gehört, ihr Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit zu tragen und ihren Glauben in der Öffentlichkeit zu leben (so schon VGH Mannheim BeckRS 2013, 52685). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Pakistan), Flüchtlingseigenschaft, Religiöse Verfolgung, Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya, Ahmadi, Vorverfolgung (verneint), Gruppenverfolgung (verneint), bekennender Ahmadi (verneint), Unverzichtbarkeit öffentlichkeitswirksamer Religionsausübung (verneint), Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft, Pakistan, religiöse Verfolgung, Unverzichtbarkeit öffentlichkeitswirksamer Religionsausübung, asylrelevante Verfolgung, Gruppenverfolgung, erforderliche Verfolgungsdichte, identitätsbestimmende Glaubensüberzeugung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 28.09.2018 – Au 3 K 16.32508
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13864

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. September 2018 – Au 3 K 16.32508 – wird zurückgewiesen.      
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens zu tragen.      
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.     
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes, weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
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Der 1988 geborene Kläger stammt aus einem Dorf im Distrikt S. und ist von Geburt an Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya. Eigenen Angaben zufolge verließ er Pakistan im Juli 2009, hielt sich etwa sechs Jahre lang in O. auf und reiste im Dezember 2015 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein, wo er am 14. März 2016 einen Asylantrag stellte. Zur Begründung gab er im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 24. Mai 2016 an, in seinem Heimatdorf habe es nur vier Ahmadi-Familien und viele fanatische Sunniten gegeben. Nach einer Rangelei mit dem Sohn des Dorf-I. habe dieser in der Moschee davon erzählt und beim Freitagsgebet die Anwesenden aufgerufen, dass die Moslems das Recht hätten, die Ahmadis zu töten, weil diese Ungläubige seien. Der Imam habe ihn, den Kläger, zum Verlassen des Dorfes aufgefordert. Aus Angst vor möglichen Übergriffen sei er zu seiner Tante nach L. gegangen, wo er für drei Jahre Arbeit und Unterkunft gefunden habe. Nachdem ihn aber ein neu eingestellter Mitarbeiter aus seinem Heimatdorf als Ahmadi bezeichnet habe, sei er entlassen worden und nach einem dreimonatigen Aufenthalt in ... (R.) bei seiner Tante mit einem Arbeitsvisum in den O. gegangen, wo er als Vorarbeiter in einer Werkstatt gearbeitet habe. Den Aufforderungen seiner dortigen Kollegen, er solle zum Freitagsgebet kommen, sei er ausgewichen und habe sich mit anderen Ahmadis privat getroffen und gebetet. Die Kollegen hätten dann irgendwann herausgefunden, dass er privat bete. Dann sei verbreitet worden, dass man mit ihm keinen Umgang pflegen solle. Die Mitarbeiter der Werkstatt hätten sich geweigert, mit ihm zusammenzuarbeiten. Der Inhaber habe dann einen neuen Vorarbeiter eingestellt und ihn aufgefordert, eine neue Arbeit zu suchen oder zurück nach Pakistan zu gehen. Nirgendwo habe er eine neue Arbeit bekommen. Mit Hilfe eines Schlepper sei er dann nach Deutschland gekommen.
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Mit Bescheid vom 11. November 2016 lehnte das Bundesamt sowohl die beantragte Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter als auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die Gewährung subsidiären Schutzes ab. Gleichzeitig stellte die Beklagte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Am 21. November 2016 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und geltend gemacht, in Pakistan würden die Ahmadis wegen ihrer Religion sowohl vom Staat als auch mit Duldung der staatlichen Behörden von nichtstaatlichen Akteuren als Gruppe verfolgt. Er selbst habe wegen seiner Religionszugehörigkeit erhebliche Probleme gehabt und fürchte daher bei Rückkehr nach Pakistan um Leib und Leben. Der Kläger hat eine Mitgliedsbescheinigung der Ahmadiyya Muslim J1., Deutschland, vom 8. November 2017 vorgelegt, wonach er gebürtiges Mitglied der Ahmadiyya-Gemeinde sei. In Deutschland nehme er regelmäßig an den Gebeten in der Moschee sowie in den lokalen und zentralen Gemeindeveranstaltungen teil, entrichtete seine Mitgliedsbeiträge ordnungsgemäß und helfe darüber hinaus in der örtlichen Gemeinde bei ehrenamtlichen Aufgaben aktiv aus; zusammenfassend sei sein Verhalten der Gemeinde gegenüber zufriedenstellend.
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Das Verwaltungsgericht hat aufgrund mündlicher Verhandlung vom 28. September 2018, zu der der Kläger nicht geladen worden war, mit Urteil vom gleichen Tag die Klage abgewiesen. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Pakistan keine Verfolgung allein wegen seiner Religionszugehörigkeit. Er gehöre auch nicht zum Kreis der Ahmadis, für die eine öffentlichkeitswirksame Religionsausübung identitätsprägend sei und die deshalb in Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt sein. Auch ansonsten drohten dem Kläger keine flüchtlingsrechtlich beachtlichen Gefahren.
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Mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzbegehren weiter. Er macht geltend, er gehöre entgegen dem erstinstanzlichen Urteil zu dem Kreis der Ahmadis, für die eine öffentlichkeitswirksame Religionsausübung identitätsprägend sei. Abgesehen davon habe sich die allgemeine Situation für Ahmadis in Pakistan erneut massiv verschlechtert, weshalb landesweit von einer Gruppenverfolgung sämtlicher Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft auszugehen sei. Der Kläger hat eine aktualisierte Mitgliedsbescheinigung der Ahmadiyya Muslim J1. vom 7. Januar 2021 vorgelegt, wonach er derzeit der lokalen Jugendorganisation als Zuständiger für Sonderspenden im Rahmen des „100-Moscheen-Projekts“ dient. Mit Schreiben vom 1. März 2022 teilte der Bevollmächtigte weiter mit, derzeit habe der Kläger in der lokalen Gemeinde K. drei Ämter inne und besuche nach der Corona-Unterbrechung auch regelmäßig das neue Gebetszentrum in B. zum Gebet und Treffen mit seinen Glaubensbrüdern.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. September 2018 und entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. November 2016 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
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hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
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weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bis 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen und seinen religiösen Aktivitäten informatorisch befragt. Insoweit wird Bezug auf das Protokoll vom 5. Mai 2022 genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Beteiligten zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze und Unterlagen, auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zu den Verhältnissen in Pakistan verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung des Klägers bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Bundesamts vom 11. November 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat mit Blick auf die gelten gemachte Verfolgung in Pakistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinn von § 3 Abs. 1 AsylG (1.) noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG (2.). Die Voraussetzungen für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor (3.). Die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung nach Pakistan sind rechtlich ebenso wenig zu beanstanden wie das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (4.).
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Der Senat ist nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel und nach der Gesamtwürdigung des klägerischen Vortrags insbesondere in der mündlichen Verhandlung nicht der Überzeugung, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan Verfolgung wegen seiner Religion droht.
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a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinn des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
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Als Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Eine Verfolgung kann dabei gemäß § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Schutzalternative bestehen, § 3e AsylG.
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aa) § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG definiert den Begriff der Religion. Dieser Verfolgungsgrund umfasst alle Komponenten dieses Begriffs, das heißt öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell und damit die Freiheit, den Glauben im privaten Kreis zu praktizieren wie auch öffentlich zu leben (vgl. EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u. C-99/11 – juris; BVerwG, U.v. 20.02.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 28). Dabei ist aber nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verstößt, bereits eine Verfolgungshandlung im Sinn des § 3a Abs. 1 AsylG. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit vorliegt, der Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verletzt und als Verfolgungshandlung zu qualifizieren ist, sind mehrere objektive und subjektive Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Objektive Gesichtspunkte sind dabei insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie Leib und Leben. Subjektiv ist zu berücksichtigen, ob die religiöse Handlung, die Verfolgung auslöst, für den Einzelnen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Maßgeblich ist, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 29; OVG NW, B.v. 18.1.2018 – 4 A 1302/16 – juris Rn. 30).
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Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit ist gegeben, wenn der Gläubige aufgrund privater oder öffentlicher Ausübung seiner Religionsfreiheit u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u. C-99/11 – juris), oder wenn er seine Religion entsprechend den geltenden Glaubensregeln und seinem religiösen Selbstverständnis unter dem Druck der ihm drohenden Verfolgungsgefahr nicht ausübt, das heißt in Ansehung der Verfolgungsgefahr auf die Glaubensbetätigung verzichtet, obwohl diese für seine religiöse Identität wichtig und prägend ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris).
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bb) Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet im Sinn von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 16; B.v. 15.8.2017 – 1 B 120.17 – juris Rn. 8) entspricht. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16). Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt danach vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 19). Nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt ausgereist ist, d.h. bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. hiervon unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, bei einer Rückkehr ernsthaften Schaden zu erleiden. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung und begründet eine (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Heimatland wiederholen wird.
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b) Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht vorverfolgt ausgereist. Weder die geschilderte Auseinandersetzung mit dem Sohn des Imams anlässlich eines Dorffests noch die anschließende, angeblich mit öffentlichen Drohungen gegen Ahmadis verbundene Aufforderung des Imams an den Kläger, das Dorf zu verlassen, stellen eine individuelle Vorverfolgung dar. Zum einen erreicht der vorgetragene Konflikt schon nicht die Schwelle einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungshandlung. Es ist nicht erkennbar, dass gegen den Kläger tatsächlich Maßnahmen zur Umsetzung der Drohung ergriffen wurden oder diese unmittelbar bevorstanden. Zum anderen fehlt es angesichts dessen, dass der Vorfall sich über drei Jahre vor seiner Ausreise aus Pakistan und ca. neun Jahre vor seiner Einreise in die Bundesrepublik ereignet haben soll, an der erforderlichen Kausalität zwischen der behaupteten (Verfolgungs-)Handlung und der Ausreise.
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c) Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Pakistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft.
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aa) Für die Annahme einer flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgefahr nach den für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäben (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 41) ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrelevante Rechtsgüter (Verfolgungsdichte) erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht, weil auch keine verfolgungsfreien oder deutlich weniger gefährdeten Zonen oder Bereiche vorhanden sind (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 5.12.2018 – 6 ZB 18.33095 – Rn. 5; Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, 5. Update Dezember 2021, 6. Gruppenverfolgung).
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Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei müssen alle gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen zur Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13-15; B.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – juris Rn. 8).
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Es obliegt dem Schutzsuchenden, die Gründe für das Verlassen seiner Heimat schlüssig darzulegen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass er bei verständiger Würdigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung unterliegt.
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bb) Nach Maßgabe dieser Grundsätze lässt die Situation der Ahmadis in Pakistan, wie sie sich aus den dem Senat vorliegenden Unterlagen ergibt, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche regelhafte Vermutung einer Verfolgung allein aufgrund der Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya (noch) nicht zu.
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Zur rechtlichen und tatsächlichen Lage der Ahmadis in Pakistan wird zunächst auf die ausführlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 29. Juni 2020 – 13 A 10206/20 – juris (Rn. 50-66) verwiesen, die der Senat uneingeschränkt teilt. Die dort im Einzelnen wiedergegebenen Verhältnisse sind nach wie vor aktuell und werden durch neuere Erkenntnismittel (v.a. Lagebericht des Auswärtigen Amts – AA – über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan vom 28.9.2021, Stand Mai 2021) bestätigt. Der Senat geht auf dieser Grundlage in Übereinstimmung mit der nahezu einhelligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass allein die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya und die Betätigung des Glaubens durch das Gebet in Gebetshäusern in Pakistan auch derzeit noch nicht die konkrete Gefahr einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung nach sich zieht (vgl. ausführlich VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 –; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 –; SächsOVG, U.v. 18.9.2014 – A 1 A 348/13 –; B.v. 24.6.2021 – 3 A 891/18 –; OVG RhPf, U.v. 29.6.2020 – 13 A 10206/20 –; VG Aachen, U.v. 6.4.2021 – 6 K 2505/20 –; VG Oldenburg, U.v. 16.6.2021 – 6 A 411/21 –; VG Trier, U.v. 10.3.2021 – 10 K 2852/20 –; VG Frankfurt, U.v. 18.1.2021 – 1 K 3326/17 –; VG Augsburg, U.v. 28.10.2021 – Au 3 K 21.30677 –; VG Frankfurt/O., U.v. 19.11.2021 – 2 K 288/20 –; VG München, U.v. 26.10.2021 – M 5 K 17.38136 –; VG Berlin, U.v. 25.10.2021 – 31 K 522.18 –; VG Stuttgart, U.v. 8.7.2021 – A 8 K 4629/18 –; alle in juris; anders VG Sigmaringen, U.v. 30.11.2020 – 13 K 753/18 – juris).
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Umstände, aus denen sich unter Berücksichtigung der quantitativen und qualitativen Voraussetzungen für eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr ergeben würde, dass inzwischen die für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan erforderliche Verfolgungsdichte erreicht wäre, vermag der Senat nicht zu erkennen. Die Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel ergibt keine Anhaltspunkte für eine geänderte Gefahrenprognose. Greifbare Anhaltspunkte dafür hat auch der Kläger nicht vorgetragen. Nach wie vor ist nicht verlässlich bestimmbar, wie viele Ahmadis heute in Pakistan leben (zur Lage 2013 vgl. VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 63; aktuell: AA, Lagebericht vom 28.9.2021, S. 11). Auch die Gemeinschaft der Ahmadiyya selbst verfügt nicht über belastbare Daten zur Zahl ihrer Glaubensangehörigen in Pakistan (vgl. OVG RhPf, U.v. 29.6.2020 – 13 A 10206/20 – juris Rn. 65), so dass zu der Gesamtzahl der Ahmadis in Pakistan weiterhin nur (grobe) Schätzungen zugrunde gelegt werden können. Ausweislich des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amts vom 28. September 2021 schwanken die Zahlen zwischen 500.000 und 4 Millionen.
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Hiervon ausgehend ist unter Berücksichtigung der seit Ergehen der Entscheidung des OVG Rheinland-Pfalz im Jahr 2020 bekannt gewordenen und dokumentierten neuen Vorfälle die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte nach wie vor nicht erreicht. Ob physische Angriffe im Jahr 2021 häufiger als im Vorjahr vorgekommen sind, lässt sich nach Aussage des Auswärtigen Amts nur schwer verifizieren. Nach Angaben des HRCP (Human Rights Commission of Pakistan) wurden in diesem Zeitraum mindestens drei Anhänger der Ahmadiyya-Gemeinschaft getötet, wobei manche Quellen von bis zu fünf religiös motivierten Morden sprechen. Nach Eigenangaben der Ahmadiyya befanden sich mit Stand 31. März 2021 elf Ahmadis in Haft (AA, Lagebericht vom 28.9.2021, S. 11). Zwar kam es seit Ende 2020 zu einer spürbaren Zunahme an rhetorischen Entgleisungen (bis hin zu Mordaufrufen) gegenüber Anhängern der Ahmadiyya – auch von hochrangigen Regierungsmitgliedern – und es besteht nach wie vor immer die Gefahr, dass ein gegen einen Ahmadi gerichtetes Verfahren um den Vorwurf der Blasphemie nach § 295c des pakistanischen Strafgesetzbuchs (Pakistan Penal Code – PPC) erweitert wird. Die Blasphemiegesetzgebung wird vielfach dazu benutzt, Ahmadis aus verschiedensten Motiven unter Druck zu setzen, die nur zum Teil einen religiösen Hintergrund haben. Oft geht es um Streitigkeiten zwischen Nachbarn oder Geschäftsleuten und vor allem um Auseinandersetzungen um Grundbesitz (AA, Lagebericht vom 28.9.2020, S. 13). Im Jahr 2017 wurden laut der NRO „Human Rights Commission of Pakistan“ über 170 „Blasphemiefälle“ behördlich registriert. Die weitere Datenlage zu Blasphemieanklagen ist unklar, das Centre of Social Justice (CSJ) geht davon aus, dass zwischen 1987 und Dezember 2020 mindestens 1.855 Anklagen erfolgten – davon allein 200 im Jahr 2020. Genauere Zahlen zur Anzahl der Verfahren und Verurteilungen wegen Blasphemie liegen nicht vor. Oftmals wird erstinstanzlich auf Druck von Extremisten die Todesstrafe verhängt, die jedoch bislang noch nie vollstreckt und häufig durch ein höherrangiges Gericht aufgehoben wurde (AA, Lagebericht vom 28.9.2021, S. 10). Religiöse Minderheiten sind im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung deutlich überproportional betroffen (AA, Lagebericht vom 28.9.2021, S. 11).
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Ahmadis sind auch überproportional oft Opfer religiös motivierter Straftaten. Eine Diskriminierung findet sowohl im gesellschaftlichen als auch im wirtschaftlichen Bereich statt. Angriffe gegen Ahmadis reichen von Belästigungen bis hin zu Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit. Solche Angriffe werden von staatlichen Stellen in der Regel tatenlos hingenommen (AA, Lageberichte vom 2.11.2012, 8.4.2014 und 30.5.2016). Wahrscheinlich aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit wurden im Zeitraum zwischen Anfang 2011 und Ende 2012 24 Ahmadis ermordet (AA, Lagebericht vom 8.4.2014). Auch im Jahr 2014 verloren insgesamt elf Ahmadis bei gezielten Angriffen ihr Leben (AA, Lagebericht vom 23.7.2015). Im Jahr 2016 sollen drei Ahmadis in Karatschi wegen ihrer Religionszugehörigkeit (Ahmadiyya Muslim J1. – AMJ –, „A Report on Persecution of Ahmadis in Pakistan During the year 2016“ vom 31.12.2016, S. 141) und im Jahr 2017 insgesamt vier Ahmadis in Pakistan infolge religiös motivierter Gewalt getötet worden sein (AA, Lagebericht vom 21.08.2018). Im August 2020 wurde in P. ein wegen Blasphemie angeklagter Ahmadi im Gerichtssaal erschossen. Im Oktober 2020 wurde ein der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehörender Hochschulprofessor in der nordwestlichen Stadt P. im Streit um religiöse Themen mutmaßlich von einem Kollegen erschossen (Briefing-Notes des Bundesamts vom 19.10.2020, S. 7). Am 20. November 2020 wurde ein junger Ahmadi-Arzt in N. und am 11. Februar 2021 ein Ahmadi-Arzt in P. jeweils bei einem vermutlich religiös motivierten Anschlag getötet (vgl. Auskunft der AMJ „Verfolgung fordert sechstes Leben innerhalb weniger Monate“ vom 11.2.2021).
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Es ist jedoch nach wie vor davon auszugehen, dass Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya nicht allein wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind. Zum einen vermögen die Strafvorschriften im PPC bei „einfachen“ Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft, die ihre religiöse Identität nicht aktiv nach außen kundgeben, keine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit hervorzurufen. Nach wie vor stellt keine dem Senat zur Verfügung stehende Quelle in Frage, dass es Ahmadis – wenn auch mit Einschränkungen – grundsätzlich möglich ist, ihre religiösen Riten in ihren Gebetshäusern auszuüben. Dies wird von Seiten des pakistanischen Staates nicht als öffentliche und damit strafbewehrte und strafrechtlich verfolgte Glaubensbetätigung angesehen (vgl. OVG RhPf, U.v.29.6.2020 – 13 A 10206/20 – juris Rn. 67 m.w.N.). In seiner Stellungnahme vom 3. Juni 2020 an das Bundesamt teilt das Auswärtige Amt mit, dass ein Mitglied der Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft das Freitagsgebet in der Moschee der Glaubensgemeinschaft und andere Veranstaltungen der Ahmadiyya in der Regel nach wie vor ungefährdet besuchen kann, wenn auch ein gewisses Grundrisiko der Anfeindungen bzw. Bedrohung durch Dritte nicht ausgeschlossen werden kann. Auch die gegen Ahmadis eingeleiteten Strafverfahren und die Gewalttaten privater Akteure reichen nicht aus, um eine Gruppenverfolgung zu begründen. Hierfür fehlt es an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Es ist nicht davon auszugehen, dass jeder Ahmadi, der sich in Pakistan aufhält, allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft mit einer Verfolgung durch Dritte rechnen muss. Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass der weitaus größte Teil der Ahmadis friedlich mit den muslimischen Nachbarn zusammenlebt (Lagebericht vom 28.09.2020, S. 13). Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird auch durch den Vortrag des Klägers gestützt, der nach seinem Wegzug aus seinem Heimatdorf mehrere Jahre bei seiner Tante in L. gelebt und dort gearbeitet hat, jedoch von keinen gegen ihn oder seine Tante gerichteten Verfolgungshandlungen in dieser Zeit berichtet hat. Auch hat der Kläger nicht etwa von Aktionen Dritter gegen seine weiterhin in Pakistan lebenden Familienmitglieder berichtet, die – bei Wahrunterstellung – als flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen zu werten wären.
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Der – nicht näher spezifizierte oder belegte – Hinweis des Klägers auf „zahlreiche Angriffe, bei denen Ahmadis verletzt wurden oder erheblichen Sachschaden erdulden mussten“, rechtfertigt keine andere Sichtweise. Selbst wenn es nach der Entscheidung des OVG Rheinland-Pfalz vom 29. Juni 2020 weitere Angriffe auf Ahmadis gegeben hat, liegen keine Anhaltspunkte für eine derartige Häufigkeit und Intensität solcher Vorfälle vor, die mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit den Schluss zuließen, für jedes einzelne Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft läge ohne weiteres eine aktuelle eigene Gefährdung vor.
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Die Verpflichtung, bei der Beantragung der National ID-Card in den Formularen unter dem Betreff „Religion“ „Ahmadi“ statt „Muslim“ einzutragen stellt für sich genommen keinen Eingriff in die Religionsfreiheit dar (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 11.1.2017 – A 3 K 2343/16 – juris Rn. 37 ff.). Daher kann sich daraus auch keine Verfolgung wegen des ahmadischen Glaubens ergeben. Zwar mag bereits die Pflicht zur Angabe der Religionszugehörigkeit in Pass- und Ausweisdokumenten als solche eine Verletzung der Religionsfreiheit darstellen (vgl. EGMR, U.v. 2.2.2010 – Nr. 21924/05 – Isik/Türkei). Darin liegt jedoch nicht automatisch eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte im Sinn des § 3a Abs. 1 AsylG. Nicht jede Verletzung der Menschenrechte stellt schon eine Verfolgungshandlung im Sinne des Asylgesetzes dar. Die bloße Eintragung der Religionszugehörigkeit in Pass- und Ausweisdokumenten ist in ihrer Schwere den in § 3a Abs. 2 AsylG aufgezählten Verfolgungshandlungen nicht vergleichbar. Die Erklärungspflichten erreichen offenkundig wenn nicht bereits in objektiver, so jedenfalls – unter der Prämisse, dass es sich nicht um einen Ahmadi handelt, für den eine öffentlichkeitswirksame Religionsausübung identitätsprägend ist (s.u.) – in subjektiver Hinsicht nicht die erforderliche Schwere, um als religiöse Verfolgungshandlung oder Menschenrechtsverletzung angesehen werden zu können (BayVGH, B.v. 24.10.2019 – 6 ZB 19.33691 – Rn. 9; B.v. 17.12.2019 – 6 ZB 19.34225 – Rn. 4). Insofern hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren Angaben dazu gemacht, dass und inwieweit er mit Blick auf seine Religionszugehörigkeit Probleme gehabt hätte, seinen Erklärungspflichten bei der Passbeschaffung nachzukommen (vgl. hierzu OVG NW, B.v. 30.1.2020 – 4 A 2759/19 – juris). Das gilt umso mehr als er im Verlauf des Berufungsverfahrens der Ausländerbehörde eine ihm am 16. November 2021 ausgestellte pakistanische ID-Card vorgelegt hat.
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d) Der Kläger gehört nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 108 Abs. 1 VwGO) auch nicht zu denjenigen Ahmadis, die in Pakistan bei Ausübung der für sie als verpflichtend empfundenen öffentlichkeitswirksamen religiösen Aktivitäten ernstlich Verfolgung zu befürchten haben oder für die der Verzicht auf diese Form der Religionsausübung aus Furcht vor Verfolgungshandlungen als ein schwerwiegender Eingriff in ihre religiöse Identität empfunden wird.
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aa) Auch wenn aufgrund der aktuellen Erkenntnislage allein die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya und die Betätigung des Glaubens durch den Besuch der Gebetshäuser noch nicht die beachtliche Gefahr einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung in Pakistan nach sich zieht, gilt nach ganz überwiegender Auffassung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung etwas anderes für diejenigen Ahmadi, zu deren identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es gehört, ihr Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit zu tragen und ihren Glauben in der Öffentlichkeit zu leben (so schon VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris; SächsOVG, U.v. 18.9.2014 – A 1 A 348/13 – juris;).
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Die dieser Rechtsprechung zugrundeliegenden Erkenntnisse haben sich nicht wesentlich verändert (vgl. OVG RhPf. U.v. 29.6.2020 – 13 A 10206/20 – juris Rn. 68 ff.; SächsOVG, U.v. 29.8.2019 – 3 A 770/17 – juris Rn. 37). Der Senat schließt sich bei einer Gesamtbetrachtung der Situation für Ahmadis in Pakistan, die landesweit vor dem Hintergrund einer feindseligen, teils zu Gewalt aufrufenden Stimmungsmache gegen Ahmadis geprägt ist von Diskriminierungen und staatlichen wie nichtstaatlichen Repressalien, dieser Gefahrenprognose an. Von zentraler Bedeutung für diese Bewertung ist das Verbot für Ahmadis, sich als Muslime zu bezeichnen und dieses Verständnis auch in die Öffentlichkeit zu tragen. Die – ihrem Selbstverständnis nach – islamische Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya wird von den (Mehrheits-)Muslimen in Pakistan nicht als muslimisch anerkannt. Bei ihrer öffentlichen Religionsausübung unterliegen die Ahmadis nach wie vor zahlreichen massiven Einschränkungen. Seit 1983 bzw. 1984 ist es ihnen untersagt, öffentliche Versammlungen oder religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis jedoch nicht so nennen dürfen, finden nicht mehr statt. Im Gegensatz zu den anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. OVG RhPf, U.v. 29.6.2020 – 13 A 10206/20 – juris Rn. 80 ff. m.w.N.). Für die (kleine) Gruppe öffentlich bekennender Ahmadis, zu deren identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es gehört, ihren Glauben in die Öffentlichkeit zu tragen, droht danach bei einer Rückkehr nach Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung, und zwar einerseits durch den pakistanischen Staat aufgrund der konkreten Gefahr einer strafrechtlichen Verurteilung mit der Folge einer jahrelangen Inhaftierung mit unmenschlichen Haftbedingungen, andererseits durch nichtstaatliche Akteure mit der Gefahr massiver gewaltsamer Übergriffe durch religiöse Extremisten (so auch VG Augsburg, U.v. 28.10.2021 – Au 3 K 21.30677 – juris; VG München, U.v. 23.4.2019 – M 32 K17.44408 – juris Rn. 33; VG Hannover, U.v. 20.6.2018 – 11 A 5249/17 – juris; VG Frankfurt(Oder), U.v. 19.11.2021 – 2 K 288/20 – juris Rn. 37).
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Diese flüchtlingsrechtlich beachtliche Verfolgungsgefahr für öffentlich bekennende Ahmadis besteht landesweit, ohne dass diese in bestimmten Landesteilen Pakistans, etwa in ihrem religiösen Zentrum ... (R.), internen Schutz finden könnten (OVG RhPf. U.v. 29.6.2020 – 13 A 10206/20 – juris Rn. 97 f.).
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bb) Eine solche Verfolgungsgefahr besteht für den Kläger jedoch nicht, weil er nicht zum Kreis der öffentlich bekennenden Ahmadis zählt. Der Kläger, der von Geburt an der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehört, ist zwar nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck seinem Glauben eng verbunden und übt ihn regelmäßig und durchaus intensiv aus. Der Senat konnte jedoch nicht die Überzeugung gewinnen, dass es zu seiner identitätsbestimmenden Glaubensüberzeugung gehört, sein Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit zu tragen und seinen Glauben in der Öffentlichkeit zu leben.
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Für die Frage, ob es sich bei einem pakistanischen Asylsuchenden um einen – aus der Allgemeinheit der Ahmadis herausgehobenen – Gläubigen handelt, für den die verbotene, strafbewehrte und die ernstliche Gefahr strafrechtlicher Verfolgung auslösende öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig und in diesem Sinne unverzichtbar ist, ist entscheidend, wie der Einzelne seinen Glauben lebt. Denn bei der Feststellung der religiösen Identität als innerer Tatsache kann nur im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen geschlossen werden. Letztlich ist eine Gesamtwürdigung der religiösen Persönlichkeit des Betroffenen anhand aller vorliegenden Gesichtspunkte erforderlich (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 31).
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Auf der Grundlage der vorgelegten Mitgliedsbescheinigungen der Ahmadiyya Muslim J1. (AMJ) Deutschland, des Vorbringens im Verwaltungsverfahren und insbesondere der Befragung in der mündlichen Verhandlung und des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks, ist der Senat nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die Befolgung der in Pakistan Verfolgungsgefahr begründende religiösen Praxis für den Kläger zur Wahrung seiner Identität als Ahmadi besonders wichtig und in diesem Sinn unverzichtbar ist.
43
In Pakistan selbst hat der Kläger seinen Glauben möglichst unauffällig und Schwierigkeiten vermeidend praktiziert. Er ist in einem Dorf mit nur vier ahmadischen Familien aufgewachsen, gehörte also in einer überschaubaren, überwiegend von Sunniten geprägten Gemeinschaft zur religiösen Minderheit. Der Mitgliedsbescheinigung der AMJ vom 28. November 2017 ist zu entnehmen, dass er in Pakistan gemäß dem Bericht der Zentrale in Pakistan guten Kontakt zur lokalen Ahmadiyya-Gemeinde pflegte. Im Alter von 16 oder 17 Jahren hat der Kläger sein Heimatdorf verlassen, nachdem es zu einer Auseinandersetzung mit dem Sohn des örtlichen Imams gekommen war, der ihm als Ahmadi den Zugang zu einem Dorffest verwehrt hat; der Imam hatte daraufhin beim Freitagsgebet gegen die Ahmadis gehetzt und den Kläger zum Verlassen des Dorfes aufgefordert. Der Kläger ist daraufhin nach L. gegangen und hat dort etwa drei Jahre lang gearbeitet. Nach seinen Angaben hat er auch dort Kontakt mit seiner Ahmadiyya-Gemeinde gehabt, aber niemanden erzählt, dass er Ahmadi sei, weil er sonst seinen Job verloren hätte. Nachdem seine Religionszugehörigkeit bekannt geworden ist, weil er von einem jungen Mann aus dem Nachbardorf erkannt worden war, ist er tatsächlich entlassen worden und nach einem kürzeren Aufenthalt in ... (früher R.) mit einem Arbeitsvisum in den O. gereist, wo er sechs Jahre lang gearbeitet hat. Dort gibt es nach den Angaben des Klägers für Ahmadis die gleichen Probleme wie in Pakistan. Sie hätten sich ungefähr zu zehnt zum Beten privat in einer Wohnung getroffen, seien aber nicht mit dem Auto hingefahren, damit das nicht bekannt wird. Der Kläger hat demnach in Pakistan und anschließend im O. seinen Glauben zwar entsprechend den Geboten praktiziert, aber nicht in einer verfolgungsrelevanten in die Öffentlichkeit wirkenden Weise. Er hat seine Glaubenszugehörigkeit vielmehr durchgehend nach außen möglichst verheimlicht, um – in einem feindseligen Umfeld verständlich – Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen und seine Arbeit nicht zu verlieren. Dass er eine öffentliche religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, hat der Kläger aber nicht zur vollen Überzeugung des Senats dargetan (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 21 ff.).
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Denn auch in Deutschland übt der Kläger seinen Glauben nicht in einer Weise aus, die darauf schließen ließe, die öffentliche Glaubensbetätigung sei für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig.
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Zwar praktiziert der Kläger seinen Glauben aktiv und – anders als in seinem Heimatland – nicht mehr heimlich, sondern auch vor seinen Arbeitskollegen offen. Er sucht regelmäßig zum Beten und Koran-Lesen die Moschee oder den Gebetsraum auf und nimmt an örtlichen wie zentralen Gemeindeveranstaltungen teil. Wie sich aus der aktualisierten Mitgliedsbescheinigung vom 7. Januar 2021 ergibt, bewertet die AMJ sein Verhalten gegenüber der Gemeinde zusammenfassend als „weiterhin zufriedenstellend“. Er entrichtet seine Mitgliedsbeiträge ordnungsgemäß, hilft in seiner örtlichen Gemeinde bei ehrenamtlichen Aufgaben wie der Mithilfe bei Informationsständen, Flyerverteilungen und anderen Aktivitäten aktiv und dient darüber hinaus der lokalen Jugendorganisation als Zuständiger für Sonderspenden im Rahmen des 100-Moscheen-Projekts. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger dazu erläutert, dass er eine Liste der Mitglieder habe, von diesen das Geld sammle und dann weiterleite. Neben einer ähnlichen Sammelaktion für die Missionierung in Deutschland habe er kürzlich noch die Aufgabe übernommen, Mitglieder aus der örtlichen Gemeinde für die jährlich stattfinden sportlichen Wettkämpfe auszuwählen und vorzubereiten.
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Aus dem Umstand, dass es sich bei dem Kläger demnach um ein aktives Gemeindemitglied handelt, folgt indessen noch nicht, dass es ihm ein unabweisbares inneres Bedürfnis wäre, seinen Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben. Die im Wesentlichen innerhalb der Gemeinde stattfindenden Aktivitäten gehen über das übliche innergemeindliche Leben mit einfacheren Hilfsdiensten nicht hinaus und lassen kein besonderes in die Öffentlichkeit wirkendes identitätsstiftendes Engagement erkennen. Die übernommenen Aufgaben sind überwiegend organisatorischer Natur. Für die Annahme, die öffentliche Religionsausübung sei für ihn wesensbestimmend, hat der Kläger auch bei seiner Befragung nichts Greifbares vorgetragen. Aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger ist der Senat nach alledem nicht davon überzeugt, dass eine in die Öffentlichkeit wirkende Glaubensbetätigung für diesen ein besonderes Gewicht hat und die Unterdrücken dieser in Pakistan verfolgungsrelevanten Glaubenspraxis in einen inneren Konflikt führen und schwer belasten würde.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr nach Pakistan ein ernsthafter Schaden im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
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3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht ersichtlich. Die aktuelle humanitäre Lage in Pakistan bietet keinen Anhalt für eine dem Kläger drohende Gefahr im Sinn dieser Vorschriften, zumal es sich bei ihm um einen gesunden jungen und arbeitsfähigen Mann handelt, der sich seine Existenzgrundlage erwirtschaften und darüber hinaus auf die Unterstützung seiner in Pakistan lebenden Familienmitglieder zurückgreifen kann.
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4. Die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts beruht auf § 34 Abs. 1 Satz 1, § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG und ist rechtlich nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots. Zwar beruht die angeordnete Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots noch auf § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG a.F., der lediglich eine behördliche Befristung des damals noch gesetzlich vorgesehenen Einreise- und Aufenthaltsverbots vorgesehen hat. Jedoch kann in einer behördlichen Befristungsentscheidung regelmäßig der von Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG bzw. von § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 AufenthG (in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung) geforderte konstitutive Erlass eines befristeten Einreiseverbots gesehen werden (vgl. BVerwG, U.v. 21.8.2018 – 1 C 21.17 – juris Rn. 25). Individuelle Gründe, welche vorliegend die Befristung auf 30 Monate – und damit auf die Hälfte des in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG festgelegten Höchstmaßes – ermessensfehlerhaft erscheinen lassen, sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gemäß § 83b AsylG werden Gerichtskosten nicht erhoben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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Die Revision war nicht zuzulassen, da die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe nicht vorliegen.