Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.06.2024 – 22 A 23.40061
Titel:

Erledigung einer Untätigkeitsklage ohne Verbescheidung

Normenketten:
VwGO § 92 Abs. 3 S. 1, § 155 Abs. 4, § 161 Abs. 2, Abs. 3
AtG § 7 Abs. 1a
Leitsätze:
1. Die Kostenentscheidung bei übereinstimmender Erledigterklärung richtet sich nur dann nach § 161 Abs. 3 VwGO, wenn die Behörde den Kläger erst während des Klageverfahrens – ob positiv oder negativ – verbescheidet und er daraufhin von der Klage Abstand nimmt; keine Anwendung findet die Norm, wenn nach Erhebung der Untätigkeitsklage keine Verbescheidung durch die Behörde erfolgt und der Kläger das Verfahren unabhängig von einer Verbescheidung durch Erledigterklärung beendet. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kommt für die Kostenentscheidung bei übereinstimmender Erledigterklärung mangels Spezialregelung § 161 Abs. 2 VwGO zur Anwendung, kann § 161 Abs. 3 VwGO seinem Rechtsgedanken nach aber dadurch herangezogen werden, als Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem schon nach allgemeinen Grundsätzen auferlegt werden können. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei übereinstimmender Erledigterklärung kann es für eine Kostenentscheidung zulasten des Beklagten sprechen, wenn dieser unter Verstoß gegen seine verwaltungsverfahrensrechtlichen Pflichten den Antrag des Klägers nicht beschieden und somit die Ursache für die Erhebung der Untätigkeitsklage gesetzt hat; dies gilt auch dann, wenn es im Klageverfahren nicht zu einer Bescheidung kommt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untätigkeitsklage, Kostenentscheidung zulasten des Beklagten, fehlende Verbescheidung, Erledigterklärung nach Erlöschen der Berechtigung zum Leistungsbetrieb eines Atomkraftwerks, keine Verbescheidung, Erledigterklärung, übereinstimmende Erledigterklärung, übereinstimmende Erledigungserklärung, Verschulden eines Beteiligten
Fundstellen:
BayVBl 2024, 612
BeckRS 2024, 13853
LSK 2024, 13853

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert wird auf 30.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
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Die Kläger, die nach ihren Angaben Eigentümer von von ihnen zu Wohnzwecken genutzten Grundstücken in einer Entfernung von ca. 14,4 km und ca. 9 km von dem ehemaligen Kernkraftwerk ... sind, erhoben mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2017 Klage gegen den Beklagten im Wesentlichen mit dem Ziel, diesen zu verpflichten, die Betriebsgenehmigung für das Atomkraftwerk ... B und C zurückzunehmen bzw. zu widerrufen, hilfsweise die Betriebsgenehmigung nachträglich mit Auflagen zum Schutz gegen Störmaßnahmen und sonstige Einwirkungen Dritter zu versehen. Dies wurde damit begründet, dass die Störfallbeherrschung in Bezug auf das Kernkraftwerk nicht mehr gegeben sei sowie der Schutz gegen terroristische Angriffe nicht ausreiche. Die Kläger hatten mit Schriftsätzen vom 12. Dezember 2001 und 21. Juli 2016 entsprechende Anträge beim Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz (StMUV) gestellt. Eine Verbescheidung der Anträge erfolgte nicht. Mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2017 beantragten die Kläger zudem beim StMUV die einstweilige Einstellung des Betriebs des Kernkraftwerks.
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Mit Beschluss vom 11. November 2019 wurde das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
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Gemäß § 7 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 AtG erlosch mit Ablauf des 31. Dezember 2017 die Berechtigung zum Leistungsbetrieb für das Kernkraftwerk ... B; Gleiches trat gemäß § 7 Abs. 1a Satz 1 Nr. 5 AtG mit Ablauf des 31. Dezember 2021 für das Kernkraftwerk ... C ein.
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Mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2023 erklärten die Kläger mit Blick auf die Abschaltung des Kernkraftwerks den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Der Beklagte stimmte der Erledigterklärung mit Schriftsatz vom 10. Januar 2024 zu. Die Kläger haben unter Bezugnahme auf einen Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 11. Juli 2022 (Az. 10 S 1195/22) beantragt, die Kosten des Verfahrens dem Beklagten aufzuerlegen. Der Beklagte hat darauf hingewiesen, dass keine Erledigung durch Erfüllung des Klagebegehrens eingetreten sei; die Klage sei unbegründet gewesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.
II.
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1. Aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
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2. Gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO entscheidet der Verwaltungsgerichtshof nur noch nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands über die Verfahrenskosten.
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2.1 Die Kostenentscheidung richtet sich hier nicht nach § 161 Abs. 3 VwGO. Zwar war die von den Klägern am 5. Dezember 2017 erhobene Klage angesichts der mangelnden Verbescheidung ihrer mit Schriftsätzen vom 12. Dezember 2001 und 21. Juli 2016 beim StMUV gestellten Anträge als Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO zu qualifizieren. Auch ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Kläger nicht mit ihrer Bescheidung vor Klageerhebung hätten rechnen dürfen, so dass § 161 Abs. 3 VwGO nach seinem Wortlaut auf die vorliegende Konstellation anwendbar sein könnte.
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Nach herrschender Meinung richtet sich die Kostenentscheidung jedoch nur dann nach § 161 Abs. 3 VwGO, wenn die Behörde den Kläger erst während des Klageverfahrens – wohl unabhängig davon, ob positiv oder negativ – verbescheidet und er daraufhin von der Klage Abstand nimmt (BVerwG, B.v. 23.7.1991 – 3 C 56.90 – juris Ls. 1, Rn. 6; OVG LSA, B.v. 28.4.2006 – 4 L 365.05 – juris Rn. 10; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2022, § 161 Rn. 21); § 161 Abs. 3 VwGO findet demgegenüber keine Anwendung, wenn nach Erhebung der Untätigkeitsklage keine Verbescheidung durch die Behörde erfolgt und der Kläger das Verfahren unabhängig von einer Verbescheidung durch Erledigterklärung beendet (BVerwG, B.v. 23.7.1991 – 3 C 56.90 – juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 21.5.1974 – 45 VII 74 – NJW 1974, 1347/1348; VerfG Bbg, B.v. 17.6.2016 – 79.15 – juris Rn. 28; VGH BW, B.v. 11.7.2022 – 10 S 1195.22 – n.v., S. 3; Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 161 Rn. 222; s. auch Clausing in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand März 2023, § 161 VwGO Rn. 40).
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Legt man dies zugrunde, ist § 161 Abs. 3 VwGO hier jedenfalls nicht unmittelbar anwendbar, weil der Beklagte die Kläger nicht förmlich verbeschieden hat und die Erledigterklärung vor dem Hintergrund des Erlöschens der Berechtigung zum Leistungsbetrieb des Kernkraftwerks ..., mithin unabhängig von einer Verbescheidung, abgegeben wurde.
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2.2 Maßgeblich für die Kostenentscheidung ist daher § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO.
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2.2.1 In diesem Rahmen ist in erster Linie auf die Erfolgsaussichten der Klage und damit auf die Frage abzustellen, wer den Prozess voraussichtlich gewonnen hätte, wenn das erledigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Es entspricht regelmäßig billigem Ermessen, die Kosten dem Beteiligten aufzuerlegen, der voraussichtlich in der Hauptsache unterlegen wäre, hätte der Rechtsstreit sich nicht in der Hauptsache erledigt (BVerwG, U.v. 6.4.1989 – 1 C 70.86 – juris Rn. 32). Hat sich der Rechtsstreit durch eine Gesetzesänderung erledigt, kommt es darauf an, wer ohne die Änderung der Rechtslage obsiegt hätte (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2022, § 161 Rn. 17 m.w.N.). Nachdem vorliegend die Erledigung infolge einer Änderung des Atomgesetzes (Wegfall der Berechtigung zum Leistungsbetrieb des Kernkraftwerks ... B und C nach § 7 Abs. 1a AtG) eingetreten ist, käme es grundsätzlich auf die Erfolgsaussichten vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes an.
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2.2.2 Vorliegend kommt es jedoch in Betracht, den Rechtsgedanken des § 155 Abs. 4 VwGO im Rahmen der Entscheidung nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO heranzuziehen, der demjenigen des § 161 Abs. 3 VwGO nahekommt (s. hierzu OVG LSA, B.v. 28.4.2006 – 4 L 365.05 – juris Rn. 10; VGH BW, B.v. 11.7.2022 – 10 S 1195.22 – n.v., S. 3; auf § 161 Abs. 3 VwGO abstellend OVG SH, B.v. 25.7.2023 – 5 KS 9.22 – juris Rn. 2; s.a. Clausing in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand März 2023, § 161 VwGO Rn. 40; Zimmermann-Kreher in Posser/Wolf/Decker, BeckOK VwGO, Stand 1.4.2024, § 161 Rn. 21).
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Auch bei Anwendung des § 155 Abs. 4 VwGO dürfte – wie im Rahmen des § 161 Abs. 3 VwGO – zu berücksichtigen sein, dass die Kostentragung durch den zunächst untätig gebliebenen Beklagten nicht angemessen erscheint, wenn der Kläger ein anhängiges Klageverfahren nach negativer Bescheidung durch die Behörde zunächst fortsetzt und im Rechtsstreit unterliegt oder erst später für erledigt erklärt (vgl. zu § 161 Abs. 3 VwGO BVerwG, B.v. 28.4.1992 – 3 C 50.90 – juris Rn. 2), mithin die mangelnde Behördenentscheidung innerhalb angemessener Frist die Klage nicht veranlasst hat (s. hierzu auch Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 161 Rn. 222). In diesem Fall fehlt es an der Kausalität zwischen der Verzögerung der Verwaltungsentscheidung und der Klageerhebung. Dem wird der Fall gleichgesetzt, dass der Beklagte keinen förmlichen Bescheid erlässt, sich jedoch in einer Klageerwiderung zur Sache äußert und dabei die Gründe, aus denen der Erlass des begehrten Bescheides abgelehnt wird, darstellt (zu § 161 Abs. 3 VwGO VGH BW, U.v. 18.1.2006 – 13 S 2220.05 – juris Rn. 57; BVerwG, B.v. 23.7.1991 – 3 C 56.90 – juris Rn. 13).
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Auch wenn die Erledigterklärung vorliegend nicht auf eine nachträgliche Verbescheidung durch die Behörde zurückgeht, ist hier der Kausalzusammenhang zwischen der Verzögerung der Verwaltungsentscheidung und der Klageerhebung bzw. der Fortführung des Klageverfahrens nicht in der Weise unterbrochen worden, dass es nicht mehr sachgerecht wäre, dem Beklagten die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Die Kläger haben hier Klage erhoben, nachdem der Antrag der Klägerin zu 1 16 Jahre lang und der Antrag des Klägers zu 2 über ein Jahr lang nicht verbeschieden worden waren. Sie haben ihre Klage mit Klageerhebung begründet, gleichzeitig um Akteneinsicht ersucht und dieses Ersuchen gegenüber dem Gericht mit E-Mail vom 15. Dezember 2017 konkretisiert; es wurde eine Vertiefung der Klagebegründung nach Akteneinsicht angekündigt. Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 14. Februar 2018 Klageabweisung und äußerte sich in dem Schriftsatz zur Frage der Aktenvorlage dahingehend, dass eine über die 10. und 11. Teilgenehmigung des Kernkraftwerks und wenige weitere Unterlagen hinausgehende Aktenvorlage angesichts dessen nicht für erforderlich gehalten werde, als es im Wesentlichen um die rechtliche Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für Rücknahme und Widerruf der Betriebsgenehmigung gehe. Sollten weitere Unterlagen vorzulegen sein, werde um ein konkretisierendes Schreiben des Senats gebeten. Weiter wurde zu den Folgen eines Wegfalls der Betriebsgenehmigung durch Rücknahme oder Widerruf, zum Verhältnis des Klageantrags zum beim StMUV gestellten Antrag auf einstweilige Betriebseinstellung sowie zum Streitwert ausgeführt und eine ins Einzelne gehende Stellungnahme nach Vertiefung der Klagebegründung durch die Kläger angekündigt. Zu den Einwänden der Kläger bezüglich des Vorliegens der Voraussetzungen für Rücknahme und Widerruf nach § 17 AtG und im Zusammenhang damit der Genehmigungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 5 AtG verhält sich die Stellungnahme nicht. In der Folge äußerten sich die Kläger zunächst nicht mehr; auf gerichtliche Nachfrage, ob das Ruhen des Verfahrens beantragt werde, teilten sie mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2019 mit, der Beklagte sei der Aktenvorlageverpflichtung nicht nachgekommen; es sei auch nicht erkennbar geworden, dass sich der Senat um die Beiziehung der Verwaltungsvorgänge bemüht habe. Dennoch werde das Ruhen des Verfahrens beantragt.
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Für eine Kostenentscheidung zulasten des Beklagten spricht vor diesem Hintergrund zunächst, dass dieser unter Verstoß gegen seine verwaltungsverfahrensrechtlichen Pflichten den Antrag der Kläger nicht beschieden und somit die Ursache für die Erhebung der Untätigkeitsklage gesetzt hat (§ 155 Abs. 4 VwGO; so auch VGH BW, B.v. 11.7.2022 – 10 S 1195.22 – n.v., S. 3). Auch nach Klageerhebung kam der Beklagte seiner Pflicht zur Verbescheidung nicht nach. Dass sich – wie vom Beklagten in der Stellungnahme vom 14. Februar 2018 in den Raum gestellt – die Klageanträge durch den Antrag auf Betriebseinstellung beim StMUV erledigt hätten, ist nicht ersichtlich, weil die aufsichtlichen Instrumente der einstweiligen Betriebseinstellung nach § 19 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Alt. 1 AtG und der Rücknahme/des Widerrufs nach § 17 AtG grundsätzlich unabhängig nebeneinanderstehen und die klägerischen Argumente jedenfalls hinsichtlich eines nicht hinreichenden Schutzes des Kernkraftwerks vor terroristischen Angriffen auch für den Fall der einstweiligen Betriebseinstellung weiter von Relevanz sein dürften, ganz abgesehen davon, dass der Antrag auf einstweilige Betriebseinstellung nicht gerichtlich anhängig gemacht wurde.
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Der Zusammenhang zwischen der Untätigkeit der Behörde und der Klageerhebung ist hier auch nicht deshalb entfallen, weil die Kläger nach Äußerung des Beklagten im gerichtlichen Verfahren zum klägerischen Begehren das Verfahren fortgeführt und erst später – aus anderem Grund – für erledigt erklärt hätten. Vielmehr hatte sich der Beklagte in seiner Stellungnahme im gerichtlichen Verfahren nicht dazu geäußert, aus welchen Gründen er – unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags – die Rücknahme oder den Widerruf der Betriebsgenehmigung ablehnte. Dass die Fortführung des Verfahrens zwischenzeitlich aufgrund des Wegfalls der Berechtigung zum Leistungsbetrieb des Atomkraftwerks nach § 7 Abs. 1a AtG ihren Sinn verloren hat, kann sich nicht zulasten der Kläger auswirken.
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2.2.3 Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt diese selbst. Die Beigeladene hatte zwar zunächst mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2017 einen Klageabweisungsantrag gestellt und sich damit dem Kostenrisiko ausgesetzt (§ 154 Abs. 3 VwGO). Sie hat diesen Antrag jedoch mit Schriftsatz vom 11. Januar 2024 zurückgenommen. Es entspricht daher der Billigkeit (§ 162 Abs. 3 VwGO), dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.
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3. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 6.2, 2.2.2, 1.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).