Inhalt

VGH München, Beschluss v. 05.06.2024 – 19 C 24.66
Titel:

Fiktive Duldung während offenem Kirchenasyl (verneint)

Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, § 104c Abs. 1 S. 1
VwGO § 114 Abs. 1 S. 1, § 166 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Der Staat ist durch das offene Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung im sog. Dublin-Verfahren durchzuführen. Unterlässt die Ausländerbehörde die Vollziehung der Abschiebung, weil sie Kirchenasyl grundsätzlich als christlich-humanitäre Tradition toleriert, so liegt darin weder eine Ermessensduldung noch eine stillschweigende bzw. faktische Duldung (vgl. BVerwG BeckRS 2020, 16029 und BeckRS 2021, 6972; VGH München BeckRS 2018, 11877). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor (BVerwG BeckRS 1997, 23249). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fiktive Duldung während offenem Kirchenasyl (verneint), Dublin-Verfahren, fiktive Duldung, faktische Duldung, Nichtbetreiben der Abschiebung, offenes Kirchenasyl, Ermessensduldung, tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 08.01.2024 – W 7 K 23.930
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13848

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde, mit der sich der Kläger gegen die Ablehnung seines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage wendet, mit der er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG erstrebt, hat keinen Erfolg.
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Das Verwaltungsgericht hat mit der Begründung, dass sich der Kläger am 31. Oktober 2022 nicht seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten habe, da er sich vom 6. Juli 2017 bis zum 5. Februar 2018 im Kirchenasyl befunden habe, den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Staat sei durch das offene Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen, ein Vollstreckungshindernis läge diesbezüglich nicht vor.
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Der Kläger ließ zur Begründung der Beschwerde vortragen, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts davon auszugehen sei, dass auch die Zeiten, in denen sich der Kläger im Kirchenasyl befunden habe, als Duldungszeiten anzurechnen seien. Die Tatsache, dass der Staat das Kirchenasyl als Vollstreckungshindernis respektiere und, wie im vorliegenden Fall, eine bereits terminierte Abschiebung wegen des Kirchenasyls storniere, bewirke, dass der Betroffene faktisch als geduldet angesehen werden müsse.
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Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vorliegen, weil die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum maßgeblichen Zeitpunkt keine hinreichenden Erfolgsaussichten besitzt.
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Zwar handelte es sich zum Zeitpunkt der Bewilligungs- bzw. Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags bei dem Kläger (noch) um einen „geduldeten Ausländer“ im Sinne des § 104c AufenthG, da die dem Kläger zuletzt am 6. November 2023 mit Gültigkeit bis 6. Februar 2024 erteilte Duldung (erst) am 18. Dezember 2023 als erloschen gestempelt wurde; die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen wurden am 23. November 2023 eingereicht und bei einer zu Grunde gelegten angemessenen Frist zur Stellungnahme der Gegenseite von zwei Wochen trat jedenfalls vor dem 18. Dezember 2023 die Bewilligungs- bzw. Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags ein.
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Es liegt jedoch eine relevante Unterbrechung des 5-Jahres-Zeitraums zwischen dem 20. Juli 2017 (Erlöschen der Aufenthaltsgestattung im Dublin-Verfahren) und Februar 2018 (Aufenthaltsgestattung während der Fortsetzung des Asylverfahrens im nationalen Verfahren) vor.
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Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Staat durch das offene Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert ist, die Überstellung im sog. Dublin-Verfahren durchzuführen. Unterlässt die Ausländerbehörde die Vollziehung der Abschiebung, weil sie Kirchenasyl grundsätzlich als christlich-humanitäre Tradition toleriert, so liegt darin weder eine Ermessensduldung noch eine stillschweigende bzw. faktische Duldung. (vgl. BVerwG, B.v. 8.6.2020 – 1 B 19.20 u.a. – juris Rn. 6; B.v. 26.1.2021 – 1 C 42.20 – juris Rn. 26; BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 20 ZB 18.50011 – juris).
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Das Gesetz kennt keinen rechtlich erheblichen Zustand der „faktischen Duldung“, aus dem weitergehende Ansprüche (etwa wie hier auf Erteilung eines tatbestandlich u.a. an die Duldung anknüpfenden Aufenthaltstitels wie der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG) abgeleitet werden könnten. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor (BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3.97 – juris Rn. 19). Deshalb ist dann, wenn die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss bleibt, als gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis eine Duldung zu erteilen, um eine mögliche Strafbarkeit des Ausländers nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu vermeiden (BVerfG, B.v. 6.3.2003 – 2 BvR 397/02 – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 C 23.31, 19 C 23.32, Rn. 6). Die Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung besteht unabhängig davon, ob der Ausländer einen entsprechenden Antrag gestellt, die Entstehung des Abschiebungshindernisses (z.B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat oder ob er freiwillig ausreisen könnte (BVerfG, B.v. 6.3.2003 – 2 BvR 397/02 – juris Rn. 25; BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3.97 – juris Rn. 16). Maßgeblich ist allein, ob der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (objektiv) tatsächliche (oder rechtliche) Hindernisse entgegenstehen, die es der Ausländerbehörde unmöglich machen, ihrer gesetzlichen Abschiebeverpflichtung nachzukommen (BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3.97 – juris Rn. 16; U.v. 21.3.2000 – 1 C 23/99 – juris Rn. 12 m.w.N.; BayVGH, B.v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 14).
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Das ist im Fall des offenen Kirchenasyls nicht der Fall, zumal – worauf die Landesanwaltschaft zutreffend hinweist – die ZAB die Abschiebung des Klägers aktiv betrieben und ein EU-Laissezpasser für die Überstellung beantragt hatte, der bereits am 30. Juni 2017 ausgestellt worden ist. Deshalb kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsgegner die Abschiebung des Antragstellers nicht betreiben würde. Insbesondere kann ein „Nichtbetreiben der Abschiebung“ nicht deshalb angenommen werden, weil der Antragsgegner – wie bereits ausgeführt – das offene Kirchenasyl respektiert. Nur wenn – wie hier nicht – die Ausländerbehörde bei der Prüfung, ob die Abschiebung durchgeführt werden kann, zu dem Ergebnis kommt, dass diese nicht ohne Verzögerung erfolgen kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung – beispielsweise wegen ungeklärter Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers – ungewiss ist, ist eine Duldung zu erteilen (BVerwG, U.v. 21.3.2000 – 1 C 23.99 – juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 14 m.w.N.).
10
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 2 VwGO. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO). Einer Streitwertfestsetzung bedurfte es im Hinblick auf § 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG nicht.
11
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1, § 158 Abs. 1 VwGO).