Titel:
Kein Ausschluss und keine Befangenheit einer früheren Landesanwältin
Normenketten:
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
ZPO § 41 Nr. 4, § 42 Abs. 2
BayLABV § 3 Abs. 3 S. 1
Leitsätze:
1. Die Vorschrift des § 41 Nr. 4 ZPO ist abschließend und kann auch nicht erweiternd ausgelegt oder analog angewendet werden. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine frühere Befassung mit einem streitgegenständlichen Sachverhalt, die keinen Ausschluss begründet, mag Anlass für eine Prüfung des Vorliegens einer Befangenheit sein; dabei sind ist jedoch eine Würdigung aller Umstände, etwa des zeitlichen Abstands und der Intensität der Befassung erforderlich. (Rn. 14 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kein Ausschluss vom Richteramt, andere Sache, Befangenheitsantrag (unbegründet), Vorbefassung als Landesanwältin mit dem streitgegenständlichen Ölschaden, lange Zeitdauer seit der Befassung (ca. 7 Jahre), Landesanwältin, Vorbefassung, Ausschluss, Befangenheit, zeitlicher Abstand
Fundstellen:
BeckRS 2024, 1382
DRiZ 2024, 200
LSK 2024, 1382
Tenor
I. Die Richterin am Verwaltungsgerichtshof … ist nicht kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes im Verfahren Az. 24 CS 23.1582 ausgeschlossen.
II. Das Ablehnungsgesuch der Antragstellerin gegen die Richterin am Verwaltungsgerichtshof … wird für unbegründet erklärt.
Gründe
1
Die Vertreterin der Landesanwaltschaft Bayern wies den Senat telefonisch darauf hin, dass sich die Beisitzerin und Berichterstatterin im vorliegenden Verfahren, Richterin am Verwaltungsgerichtshof …, im Jahr 2016 in den Verfahren 22 BV 16.1155 und 22 CS 16.1158 als damalige Prozessvertreterin für den Freistaat Bayern schriftlich geäußert hatte. Diese Verfahren hatten eine bodenschutzrechtliche Anordnung gegen die Eigentümerin des Grundstücks FlNr. …, Gemarkung …, zum Gegenstand, das auch im vorliegenden Verfahren verfahrensgegenständlich ist und früher im Eigentum der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren stand.
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Im Verfahren 22 CS 16.1158 verteidigte die Richterin in ihrer damaligen Funktion als Landesanwältin erfolglos den Sofortvollzug eines vom Landratsamt … gegen die damalige Eigentümerin des Grundstücks als Zustandsstörerin erlassenen Bescheids. Der 22. Senat stellte mit Beschluss vom 25. Juli 2016 fest, anhand der damals vorliegenden Gutachten könne nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass der Ölschaden seine Ursache auf dem Grundstück FlNr. … habe. Daraufhin beantragten die Parteien übereinstimmend das Ruhen des Verfahrens 22 BV 16.1155, um weitere Sachverhaltsaufklärung zu betreiben. Später erließ das Landratsamt den im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Bescheid gegen die Antragstellerin als Handlungsstörerin.
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Die Vorsitzende des 24. Senats teilte den Beteiligten diese Umstände mit Schreiben vom 20. November 2023 mit. Daraufhin stellte der Bevollmächtigte der Antragstellerin einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin am Verwaltungsgerichtshof … Zur Begründung führte er aus, die Vorbefassung in den beiden Verfahren rechtfertigte die Besorgnis der Befangenheit. Zwar handele es sich dort nicht um die gleichen Beteiligten und den gleichen Bescheid, aber um das gleiche Grundstück und einen dort vom Antragsgegner verorteten Ölschaden.
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Die abgelehnte Richterin gab am 11. Dezember 2023 eine dienstliche Stellungnahme ab. Darin führte sie aus, als Prozessvertreterin habe sie in Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Landratsamt … die Stellungnahmen für den Freistaat Bayern abgegeben. Sie könne sich an die konkreten Verfahren angesichts des langen Zeitablaufs und der Vielzahl der von ihr bei der Prozessvertretung bearbeiteten Verfahren nicht mehr erinnern.
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Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Antragstellerin vertiefte ihre Argumentation und trägt vor, es sei nicht glaubhaft, dass sich die abgelehnte Richterin nicht an den vorliegenden Fall erinnern könne, denn dieser sei nicht alltäglich. Beim Aktenstudium hätte ihr daher auffallen müssen, dass sie schon einmal mit diesem Grundstück befasst gewesen sei. Als Landesanwältin sei sie eine Vertrauensperson für die Behörden gewesen. Dass der Hinweis erst drei Monate nach Eingang der Beschwerde erfolgt sei, bestärke die Antragstellerin in ihrem Misstrauen.
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Hinsichtlich des weiteren Vorbringens und der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Gerichtsakten der Verfahren 22 BV 16.1155 und 22 CS 16.1158 sowie die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
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Die Richterin am Verwaltungsgericht … ist im Verfahren 24 CS 23.1582 weder kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes noch wegen Besorgnis der Befangenheit von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen.
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1. Der Senat entscheidet gemäß § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 48, 45 Abs. 1, 41, 42, ZPO ohne Mitwirkung der betreffenden Richterin durch Beschluss (§ 46 Abs. 1 ZPO) in der Besetzung von drei Richtern (vgl. § 9 Abs. 3 Satz 1 VwGO). An die Stelle der abgelehnten Richterin tritt ihre geschäftsplanmäßig bestimmte Vertreterin.
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2. Die abgelehnte Richterin ist nicht nach § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 41 Nr. 4 ZPO kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen. Der Gegenstand des Verfahrens 24 CS 23.1582 stellt keine Sache dar, in der sie bereits zuvor als Landesanwältin und Vertreterin des Freistaats Bayern nach § 3 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung über die Landesanwaltschaft Bayern (LABV) i.d.F. d. Bek. vom 29. Juli 2008 (GVBl S. 554), die zuletzt durch § 1 Abs. 296 der Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl S. 98) geändert wurde, aufgetreten ist. Denn die Sache des Verfahrens 24 CS 23.1582 ist nicht dieselbe Sache wie die Sache der Verfahren 22 BV 16.1155 und 22 CS 16.1158. Dabei kann dahinstehen, wie der Begriff der Sache i.S.v. § 41 Nr. 4 ZPO im Einzelnen zu verstehen ist (vgl. zum Streitstand BayVGH, B.v. 29.7.2021 – 22 ZB 21.496 – juris Rn. 4), da jedenfalls die unstreitig erforderliche Identität der Streitgegenstände fehlt (vgl. zum Begriff des verwaltungsgerichtlichen Streitgegenstands Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 23). Im Verfahren 24 CS 23.1582 einerseits und in den Verfahren 22 BV 16.1155 und 22 CS 16.1158 andererseits sind die Streitgegenstände nicht identisch, weil es sich um einen anderen Bescheid gegen einen anderen Adressaten handelt.
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Die Vorschrift ist abschließend (vgl. Vollkommer in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2023, § 41 Rn. 1 m.w.N.) und kann auch nicht erweiternd ausgelegt oder analog angewendet werden. Wegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dürfen keine neuen Ausschlusstatbestände geschaffen werden. Abweichende Fallgestaltungen sind nach § 42 ZPO individuell zu würdigen.
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3. Der vorliegende Sachverhalt begründet auch nicht die Besorgnis der Befangenheit gemäß § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 2 ZPO und rechtfertigt daher kein Abweichen von dem Grundsatz des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, der jeder Partei grundsätzlich zumutet, sich auch mit einem Richter abzufinden, der ihr nicht gefällt (vgl. Stackmann in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 42 Rn. 6).
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a) Wegen Besorgnis der Befangenheit ist hiernach ein Richter abzulehnen, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn aus der Sicht des Beteiligten hinreichend objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Erforderlich ist hierfür eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und gegebenenfalls ihre Gesamtbetrachtung. Danach ist es einerseits nicht notwendig, dass er tatsächlich befangen ist. Andererseits reicht die rein subjektive Vorstellung eines Beteiligten, er werde seine Entscheidung an persönlichen Motiven orientieren, nicht aus, solange bei objektiver Würdigung der Tatsachen vernünftigerweise kein Grund für die Befürchtung ersichtlich ist (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.1975 – 6 C 129.74 – juris Rn. 11; B.v. 29.6.2016 – 2 B 18.15 – juris Rn. 37; B.v. 18.7.2019 – 2 C 35.18 – juris Rn. 5; B.v. 12.10.2023 – 10 C 4.22 – juris Rn. 5).
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Unabhängig davon, ob man davon ausgeht, die Vorbefassung eines Richters mit dem zur Entscheidung stehenden Sachverhalt, die nicht zu seinem Ausschluss gemäß § 41 Nr. 4 bis Nr. 8 ZPO führt, sei in der Regel nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, sondern es müssten dafür besondere Umstände vorliegen (vgl. BGH, B.v. 12.4.2016 – VI ZR 549/14 – juris Rn. 8), oder ob man davon ausgeht, im Falle des § 41 Nr. 4 ZPO habe, anders als bei § 41 Nr. 6 ZPO, nur eine normale Prüfung anhand des § 42 Abs. 2 ZPO zu erfolgen (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2021 – 22 ZB 21.496 – juris Rn. 8), liegen hier jedenfalls keine objektiven Umstände i.S.d. § 42 Abs. 2 ZPO vor.
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b) Vorliegend ist kein Grund gegeben, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Richterin am Verwaltungsgerichtshof … zu rechtfertigen. Ihre frühere Befassung mit dem streitgegenständlichen bodenschutzrechtlichen Sachverhalt bildet zwar nachvollziehbarer Weise für die Antragstellerin einen Anlass, die Voraussetzungen des § 42 Abs. 2 ZPO zu prüfen. Jedoch begründet bei der gebotenen Würdigung aller Umstände die Vorbefassung weder in ihren Einzelheiten noch in einer Gesamtschau die Besorgnis, die Richterin werde nicht unvoreingenommen entscheiden oder habe sich in der Sache bereits festgelegt.
15
Bei der Bewertung des Umstands, dass die abgelehnte Richterin den früheren Bescheid und den diesbezüglich angeordneten Sofortvollzug im Verfahren 22 CS 16.1158 im Jahr 2016 mit der Begründung verteidigt hat, der Ölschaden ginge von dem Grundstück FlNr. … aus, das früher im Eigentum der hiesigen Antragstellerin gestanden hat, ist zunächst zu berücksichtigen, dass seither mehr als sieben Jahre vergangen sind (vgl. einen Fall, bei dem die Tätigkeit als Landesanwältin erst kurze Zeit zurücklag und deshalb die Besorgnis der Befangenheit begründet war BayVGH, B.v. 29.7.2021 – 22 ZB 21.496). Es erscheint schon deshalb grundsätzlich nicht naheliegend, anzunehmen, dass eine damals eingenommene Position bis heute fortwirken und die Richterin an einer unvoreingenommenen Entscheidungsfindung hindern könnte. Insoweit bringen auch andere Vorschriften die normative Wertung zum Ausdruck, dass mit zunehmenden Zeitablauf Rollen und Positionen der Vergangenheit an Relevanz verlieren (vgl. etwa § 41 Satz 3 Beamtenstatusgesetzes; hierzu BVerwG, U.v. 4.5.2017 – 2 C 45.16 – juris). Vor diesem zeitlichen Hintergrund ist deshalb entgegen des Vortrags der Antragstellerin auch die Aussage der Richterin in ihrer dienstlichen Stellungnahme, dass sie sich nicht an den Fall erinnern könne, lebensnah, zumal der vorliegende Sachverhalt auch keine Besonderheit aufweist, die eine andere Erwartung begründen könnten. Bodenschutzrechtliche Fälle sind – wie die anderen Verfahren auch, die die abgelehnte Richterin bei dem ihr durch die damalige Geschäftsverteilung der Landesanwaltschaft zugewiesenen, für Großverfahren zuständigen 22. Senat betreut hat –, häufig komplex, haben regelhaft eine lange Verfahrensdauer und sind vielfach auch hinsichtlich der Frage streitbefangen, wer als Störer herangezogen werden darf.
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Auch die zeitliche Dauer und die Art und Weise der konkreten Vorbefassung bieten keinen objektiven Anlass, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der abgelehnten Richterin zu rechtfertigen (vgl. einen Fall bei dem die Befassung sehr lange und intensiv und die Besorgnis der Befangenheit deshalb begründet war BayVGH, B.v. 21.11.1980 – 11 CS 80 D.61 – BayVBl 1981, 368 ff.). Sie war als Landesanwältin nur kurze Zeit mit dem Vorgang befasst und hat sich mit ihm nicht etwa jahrelang vertieft beschäftigt, wie es regelmäßig die Vertreter der Ausgangsbehörde oder die Prozessvertreter der anderen Parteien tun, die das Verfahren durch mehrere Instanzen und gegebenenfalls schon außergerichtlich betreuen. Zuständig war sie für das Verfahren überhaupt nur knapp fünf Monate, ehe es ruhend gestellt wurde. Inhaltlich befasst war sie hiermit nur etwa fünf Wochen. Ihre Tätigkeit erschöpfte sich darin, im Beschwerdeverfahren, das gemäß dem in der Akte 22 CS 16.1158 befindlichen Empfangsbekenntnis am 13. Juni 2016 bei der Landesanwaltschaft Bayern einging, unter dem 17. Juni 2016 eine Anfrage des Gerichts zu beantworten, in Zusammenwirken mit dem Landratsamt unter dem 29. Juni 2016 eine Stellungnahme abzugeben, die sich überwiegend mit der Frage beschäftigt hat, ob die mit dem damals streitgegenständlichen Bescheid vom 9. Dezember 2015 angeordnete Sanierung an der Grundwassermessstelle 2 als dringlich angesehen werden müsse und am 25. Juli 2016 noch weitere Unterlagen des Landratsamts vorzulegen, woraufhin am 25. Juli 2016 die Entscheidung des 22. Senats erging. Es folgten im Verfahren 22 BV 16.1155 noch zwei kurze Schriftsätze im September und Oktober 2016, die zum Beschluss über das Ruhen dieses Verfahrens am 2. November 2016 führten.
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Auch inhaltlich ist kein Verhalten der damaligen Landesanwältin festzustellen, das heute die Besorgnis ihrer Befangenheit als Richterin rechtfertigen könnte. So hat sie im Verfahren 22 BV 16.1155 nicht weiter zur Sache vorgetragen. Nachdem der 22. Senat des Verwaltungsgerichtshofs auf der damaligen Tatsachenbasis ihrer im Eilverfahren vorgetragenen Auffassung nicht gefolgt ist (vgl. B.v. 25.7.2016), hat sie lediglich noch das Ruhen des Verfahrens beantragt, damit neue Gutachten und Erkenntnisse eingeholt werden können (u.a. auf deren Basis nunmehr der streitgegenständliche Bescheid gegen die Antragstellerin als Handlungsstörerin erlassen worden ist). Inhaltlich betraf ihr Vortrag überwiegend die Dringlichkeit der angeordneten Sanierungsmaßnahme, die vom nunmehr streitgegenständlichen Bescheid gar nicht erfasst ist, da mit diesem nur weitere Gefährdungsabschätzungen angeordnet worden sind.
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In Anbetracht der Gesamtumstände, insbesondere dem langen Zeitablauf seit der Befassung der abgelehnten Richterin als Prozessvertreterin mit dem streitgegenständlichen Grundstück, der kurzen Dauer ihrer Befassung, der damaligen Prozesssituation – andere Klägerin, anderer Bescheid, anderer Schwerpunkt im Vortrag, Wiederherstellung/Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch den Verwaltungsgerichtshof, Beantragung des Ruhens des Hauptsacheverfahrens zur weiteren Sachverhaltsaufklärung – und der nunmehr gewonnenen neuen Erkenntnisse, auf deren Basis der streitgegenständliche Bescheid jedenfalls auch beruht, ist bei verständiger Würdigung nicht zu befürchten, dass die abgelehnte Richterin nicht in der Lage ist, die vorliegende Streitsache objektiv zu betrachten und zu entscheiden.
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 146 Abs. 2 VwGO).