Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 18.06.2024 – 101 AR 80/24 e
Titel:

Sachliche Zuständigkeit für Klagen wegen Verkehrssicherungspflichtverletzung aus einem Wohnraummietverhältnis

Normenketten:
BGB § 535, § 549 Abs.1
ZPO § 1
GKG § 23 Nr. 2a
Leitsatz:
Für Rechtsstreitigkeiten wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, welche die beklagte Partei in ihrer Eigenschaft als Vermieterin von Wohnraum treffen, sind die Amtsgerichte sachlich zuständig; diese Zuständigkeit ist ausschließlich. (Rn. 21)
Schlagworte:
sachliche Zuständigkeit, Verkehrssicherungspflichtverletzung, Wohnraummiete
Vorinstanz:
LG München I vom -- – 41 O 18097/23
Fundstellen:
MDR 2024, 1042
GE 2024, 695
NZM 2024, 822
BeckRS 2024, 13826
FDZVR 2024, 013826
LSK 2024, 13826
NJW-RR 2024, 996

Tenor

Als für den Rechtsstreit (sachlich) zuständiges Gericht wird das Amtsgericht München bestimmt.

Gründe

I.
1
Mit ihrer zum Landgericht München I erhobenen Klage macht die in München wohnhafte Antragstellerin Schadensersatzansprüche gegen ihre Wohnungsvermieterin und die das Anwesen betreuende Hausverwaltung als Gesamtschuldner geltend.
2
Sie trägt vor, am 7. August 2020 auf der Treppe zwischen Hauseingang und Wohnung gestürzt zu sein und sich dabei erhebliche Verletzungen zugezogen zu haben. Die Treppe sei nass gereinigt worden; ein Warnschild vor der dadurch bedingten Rutschgefahr sei nicht aufgestellt gewesen. Das von der Hausverwaltung mit der Treppenreinigung beauftragte Unternehmen habe nicht die gebotene Sorgfalt walten lassen. Für die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hätten die Antragsgegnerin zu 1) als Vermieterin aus Vertrag und die Antragsgegnerin zu 2) als Hausverwaltung aus Delikt einzustehen.
3
Mit Verfügung vom 9. April 2024 wies das Landgericht die Parteien auf die ausschließliche sachliche Zuständigkeit der Amtsgerichte für Streitigkeiten über Ansprüche aus einem Mietverhältnis über Wohnraum hin. Ansprüche wegen Verletzung deliktischer Pflichten wie etwa Verkehrssicherungspflichten, die im Rahmen eines Mietverhältnisses zugleich eine Verletzung vertraglicher Pflichten bedeuteten, seien vor dem Amtsgericht geltend zu machen. Das gelte jedenfalls für die Ansprüche gegen die Vermieterin, möglicherweise aber auch für die Ansprüche gegen einen vom Vermieter in die Vertragsabwicklung eingeschalteten Dritten.
4
Die Antragstellerin widersprach diesem Hinweis. Sie hielt daran fest, dass das Landgericht zuständig sei. Pflichtverletzungen aus dem Mietvertrag seien in der vorliegenden Sache von allenfalls untergeordneter Bedeutung. Kern des Vorwurfs seien deliktische Handlungen. In solchen Fällen ergebe sich nach dem Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 12. Oktober 1995, 5 U 324/95, keine sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts aus § 23 Nr. 2 Buchst. a) GVG. Vorsorglich beantragte sie eine Bestimmung des gemeinsam zuständigen Gerichts gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durch das zuständige Oberlandesgericht.
5
Die Antragsgegnerin zu 1) teilte mit, mit einer Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht einverstanden zu sein. Die Antragsgegnerin zu 2) trat dem entgegen, weil für die gegen sie gerichtete Klage angesichts der Anspruchshöhe die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet sei.
6
Mit Verfügung vom 23. Mai 2024 hat das Landgericht den Antrag auf Zuständigkeitsbestimmung dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Entscheidung vorgelegt.
7
Die Parteien haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Die Antragsgegnerin zu 1) hat geäußert, es erscheine sinnvoll, die streitgegenständlichen Ansprüche in einem einheitlichen Verfahren zu klären. Die Antragsgegnerin zu 2) hat nunmehr betont, es bestehe ein klarer Zusammenhang zwischen Mietvertrag und behaupteter Pflichtverletzung. Die Vermieterin habe die Hausreinigung auf die Mieter abgewälzt und zur Sicherstellung der Ausführung auf ein Reinigungsunternehmen übertragen. Der Unfall werde mit einer angeblichen Pflichtverletzung aus dem Hausreinigungsvertrag begründet.
8
Für mietvertragliche Fragen sei das Amtsgericht zuständig.
II.
9
Auf den zulässigen Antrag bestimmt der Senat das Amtsgericht München als das für den Rechtsstreit gegen beide Antragsgegnerinnen sachlich zuständige Gericht.
10
1. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist nach § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO für die Entscheidung über den Antrag auf Bestimmung des sachlich zuständigen Gerichts zuständig.
11
a) Der Bestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO unterliegt – zumindest in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift – auch die sachliche Zuständigkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 1984, I ARZ 395/83, BGHZ 90, 155 [juris Rn. 4 ff.]; BayObLG, Beschluss vom 24. August 2023, 102 AR 123/23 e, juris Rn. 17). Wenn ‒ wie im Streitfall ‒ eine gegen mehrere Streitgenossen zu richtende Klage für einen Teil der Streitgenossen eine zur Zuständigkeit des Amtsgerichts gehörende Mietsache über Wohnraum darstellt, während für den anderen Teil der Streitgenossen die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet ist, ist auf Antrag das für die Klage insgesamt zuständige Gericht gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zu bestimmen.
12
b) Die Bestimmungsentscheidung obliegt dem Bayerischen Obersten Landesgericht, da das im Instanzenzug nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht über den in Betracht kommenden erstinstanzlichen Gerichten, dem Amtsgericht München und dem Landgericht München I, der Bundesgerichtshof ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 19. Juli 2023, 101 AR 136/23 e, juris Rn. 25). An dessen Stelle tritt nach § 36 Abs. 2 ZPO im Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung das Oberlandesgericht, zu dessen Bezirk das zuerst mit der Sache befasste Gericht gehört, bzw. in Bayern das Bayerische Oberste Landesgericht, § 9 EGZPO.
13
2. Die Voraussetzungen für eine Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit sind gegeben.
14
a) Das nach § 37 Abs. 1 ZPO erforderliche Gesuch der Antragstellerin um Bestimmung des zuständigen Gerichts liegt vor.
15
b) Die Antragsgegnerinnen sind ausgehend vom Vortrag der Antragstellerin hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche Streitgenossinnen im Sinne des § 60 ZPO.
16
Die Vorschrift ist unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und Prozesswirtschaftlichkeit weit auszulegen; entscheidend ist, ob zwischen den geltend gemachten Ansprüchen ein innerer sachlicher Zusammenhang besteht. Ein solcher Zusammenhang ergibt sich im Streitfall bereits daraus, dass die Antragsgegnerinnen im Hinblick auf dasselbe Unfallereignis auf Ersatz derselben Schäden in Anspruch genommen werden.
17
Darauf, ob das tatsächliche Vorbringen der Antragstellerin zutrifft, kommt es im Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung ebenso wenig an wie auf die Schlüssigkeit der Klage im Übrigen (BayObLG, Beschluss vom 12. September 2022, 101 AR 105/22, juris Rn. 20; Beschluss vom 29. März 2021, 101 AR 16/21, juris Rn. 44; Beschluss vom 28. Oktober 1997, 1Z AR 74/97, NJW-RR 1998, 1291 [juris Rn. 4]; Schultzky in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 36 Rn. 28). Es genügt, dass auf der Grundlage des Tatsachenvortrags der Antragstellerin eine Ersatzpflicht beider Antragsgegnerinnen in Betracht kommen kann.
18
c) Ein für beide Antragsgegnerinnen gemeinsam zuständiges Gericht besteht im Streitfall nicht.
19
aa) Für die Klage gegen die Antragsgegnerin zu 1) besteht streitwertunabhängig eine sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts gemäß § 23 Nr. 2 Buchst. a) GVG, da es sich um eine Streitigkeit über Ansprüche aus einem Wohnraummietverhältnis handelt. Diese Zuständigkeit ist ausschließlich, § 23 Nr. 2 Buchst. a) Halbsatz 2 GVG.
20
Unstreitig besteht zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin zu 1) ein Mietverhältnis über Wohnraum im Sinne des § 549 Abs. 1 BGB.
21
Die ausschließliche Zuständigkeit des Amtsgerichts besteht bereits dann, wenn zumindest auch Ansprüche aus einem Wohnraummietverhältnis streitgegenständlich sind, selbst wenn daneben noch andere, etwa deliktische Anspruchsgrundlagen in Betracht kommen. Für Rechtsstreitigkeiten wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, die die beklagte Partei aufgrund ihrer Vermieterstellung treffen, ist danach ausschließlich das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk der Wohnraum belegen ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 4. Juli 2005, 24 W 20/05, MDR 2006, 327 [juris Rn. 2 ff.]; LG Stuttgart, Beschluss vom 23. Februar 2017, 16 O 412/16, juris Rn. 6 ff.; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 23 Rn. 26; auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 30. März 2015, 1 [Z] Sa 5/15, juris Rn. 14; Hunke in Anders/Gehle, ZPO, 82. Aufl. 2024, GVG § 23 Rn. 11).
22
So verhält es sich hier. In Betracht kommt ein Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld gemäß § 549 Abs. 1 i. V. m. § 535 Abs. 1, § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, §§ 249, 253 Abs. 2 BGB aus dem Mietverhältnis zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin zu 1). Denn die Verkehrssicherungspflicht, welche die Antragsgegnerin zu 1) in ihrer Eigenschaft als Vermieterin gegenüber der Antragstellerin als Mieterin trifft, erstreckt sich auf die mitvermieteten Zu- und Abgänge einschließlich der Treppen und Flure (zur Verkehrssicherungspflicht des Vermieters von Wohnraum etwa: BGH, Urt. v. 15. Oktober 2008, VIII ZR 321/07, NJW 2009, 143 Rn. 18 ff.; AG Dresden, Urt. v. 30. August 2007, 145 C 2115/07, juris Rn. 31 ff.; V. Emmerich in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2021, § 535 Rn. 29 f., Rn. 33; Lützenkirchen in Lützenkirchen, Mietrecht, 3. Aufl. 2021, § 535 BGB Rn. 451 ff.).
23
Ob daneben ein deliktischer Schadenersatzanspruch aus § 823 Abs. 1, § 831 BGB wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht, die der Antragsgegnerin zu 1) in ihrer Eigenschaft als Eigentümerin der vermieteten Wohnung gegenüber jedermann obliegt, besteht, ist für die Zuständigkeitsfrage irrelevant. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz (Urt. v. 12. Oktober 1995, 5 U 324/95), auf die die Antragstellerin abstellt, ist zum Beleg für ihre abweichende Rechtsansicht nicht geeignet. In dem zugrundeliegenden Verfahren hatte das angerufene Landgericht das Klageverlangen nur im Hinblick auf eine deliktische Verantwortlichkeit der Beklagten sachlich geprüft, die Klage jedoch insoweit als unzulässig behandelt, als wegen desselben Vorwurfs eine Verletzung mietvertraglicher Pflichten im Raum gestanden hatte. Zutreffend hat das Oberlandesgericht als Berufungsgericht darauf abgestellt, dass eine Aufspaltung der gerichtlichen Zuständigkeit innerhalb des Zivilrechtswegs nicht (mehr) dem Gesetz entspricht. Diese Entscheidung begründet keine Divergenz, die Veranlassung für eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 36 Abs. 3 ZPO gäbe.
24
bb) Für die Klage gegen die Antragsgegnerin zu 2), mit der die Antragstellerin kein mietvertragliches Verhältnis verbindet, ist dagegen gemäß § 23 Nr. 1, § 71 Abs. 1 GVG, § 1 ZPO die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet, weil im Verhältnis zu dieser keine dem Amtsgericht zugewiesene Streitigkeit in einer Wohnraumstreitigkeit vorliegt und der Streitwert der Klage bereits nach den bezifferten Anträgen über 5.000,00 € liegt.
25
3. Die Auswahl erfolgt nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit (Sachdienlichkeit) und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Prozesswirtschaftlichkeit, wobei das bestimmende Gericht ein Auswahlermessen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2008, 1 BvR 2788/08, NJW 2009, 907 [juris Rn. 12 m. w. N.]; BayObLG, Beschluss vom 12. September 2022, 101 AR 105/22, juris Rn. 39; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 29 m. w. N.).
26
Dass für einen oder mehrere der verklagten Streitgenossen eine ausschließliche gerichtliche Zuständigkeit besteht, hindert die gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung im Grundsatz nicht. Auch in einer solchen Fallkonstellation kann das übergeordnete Gericht im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO unter den verschiedenen als zuständig in Betracht kommenden Gerichten eine Auswahl treffen (BGHZ 90, 155 [juris Rn. 9]). Dass auf diese Weise ein Gericht zur Entscheidung für eine Klage berufen wird, das – wie es vorliegend der Fall ist – nach dem Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) oder in anderen Fällen nach dem Gesetz über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht (Wohnungseigentumsgesetz – WEG) oder nach anderen Zuständigkeitsnormen für einen Teil der Klage nicht zuständig wäre, liegt in der Natur der Sache.
27
Die ausschließliche sachliche Zuständigkeit der Amtsgerichte für Streitigkeiten über Ansprüche aus einem Mietverhältnis über Wohnraum gemäß § 23 Nr. 2 Buchst. a) GVG steht einer Zuständigkeitsbestimmung auch vorliegend nicht entgegen.
28
Der Senat bestimmt als zuständiges Gericht das Amtsgericht München, weil diesem die ausschließliche sachliche Zuständigkeit für Wohnraummietstreitigkeiten obliegt, sofern der Wohnraum in seinem Bezirk belegen ist. Die Bestimmung des für einen Streitgenossen ausschließlich zuständigen Gerichts auch für das Verfahren gegen den anderen Streitgenossen ist zwar nicht zwingend, in der Regel jedoch sachgerecht, weil damit dem Gesichtspunkt der Spezialisierung gerade dieses Gerichts Rechnung getragen wird (vgl. BGHZ 90, 155 [juris Rn. 9]; BayObLG, Beschluss vom 24. August 2023, 102 AR 123/23 e, juris Rn. 30; Beschluss vom 24. April 2024, 101 AR 15/24 e, juris Rn. 37; OLG München, Beschluss vom 20. Februar 2008, 31 AR 18/08, NJW-RR 2008, 1544). Vorliegend gilt nichts anderes, zumal die mietrechtliche Rechtslage, deren Beurteilung typischerweise nach § 23 Nr. 2 Buchst. a) GVG den Amtsgerichten zugeordnet ist, maßgebliche Bedeutung auch für die Klage gegen die Antragsgegnerin zu 2) haben könnte.
29
4. Mit dieser Entscheidung geht die Rechtshängigkeit ohne Weiteres auf das bestimmte Gericht über (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2020, X ARZ 124/20, WM 2021, 40 Rn. 65; BayObLG, Beschluss vom 23. Juli 2020, 1 AR 66/20, NJW-RR 2020, 1006 Rn. 21; Toussaint in BeckOK ZPO, 52. Edition 1. März 2024, § 37 Rn. 14; Schultzky in Zöller, ZPO, § 37 Rn. 5; Smid/Hartmann in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2020, § 37 Rn. 22).
30
Das bestimmte Gericht hat den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2002, X ARZ 208/02, BGHZ 153, 173 [juris Rn. 10 ff.]; BayObLG, Beschluss vom 21. April 2021, 102 AR 63/21, juris Rn. 25 – jeweils zu § 32 ZPO). Seine Zuständigkeit erstreckt sich auch auf konkurrierende Anspruchsgrundlagen außerhalb des Mietrechts.