Titel:
Einzelfallbezogene Darlegung der Suche nach der schnellstmöglichen Ersatzbeförderung
Normenketten:
ZPO § 138 Abs. 4, § 513 Abs. 1, § 522 Abs. 2, § 529, § 546
Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 1 lit. c, Abs. 3, Art. 7
Leitsätze:
1. Ein Luftfahrtunternehmen, das sich von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste befreien möchte, muss alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel bis zur Opfergrenze für eine schnellstmögliche Ersatzbeförderung einsetzen, wobei die Entlastung im Einzelfall darzulegen ist (EuGH BeckRS 2020, 11925). (Rn. 15 und 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Suche nach der schnellstmöglichen Ersatzbeförderung bleibt es dem Luftfahrtunternehmen unbenommen, ein automatisiertes Umbuchungssystem zu verwenden, sofern dabei sämtliche möglichen anderweitigen direkten oder indirekten Beförderungsmöglichkeiten unter Einbeziehung aller am Markt operierenden Fluggesellschaften ggf. in Kombination mit anderen Verkehrsträgern wie dem Straßen- oder Schienenverkehr geprüft werden. (Rn. 15, 17 und 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Flugverspätung, Anschlussflug, Enteisung, Kausalität, außergewöhnlicher Umstand, Umbuchungssystem, Ersatzbeförderung, Ausgleichszahlung, VO (EG) 261/2004
Vorinstanz:
AG Erding, Urteil vom 26.06.2023 – 112 C 2065/22
Fundstellen:
ReiseRFD 2024, 308
RRa 2025, 24
LSK 2024, 13800
BeckRS 2024, 13800
Tenor
Hinweis gemäß § 522 Abs. 2 ZPO
Die Kammer beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 26.06.2023, Az. 112 C 2065/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil sie einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.
Entscheidungsgründe
1
Die Klägerin macht Ausgleichsansprüche aus abgetretenem Recht gemäß Art. 5, 7 VO (EG) 261/2004 geltend.
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Die Zedenten verfügten über eine bestätigte Buchung für eine Flugverbindung am 03.01.2022 von Tallinn über Warschau nach München. Geplante Startzeit des Fluges von Tallinn nach Warschau war 6.00 Uhr Ortszeit, geplante Ankunftszeit in Warschau 6.40 Uhr Ortszeit. Der Anschlussflug nach München sollte um 07.30 Uhr Ortszeit starten und um 09.15 Uhr Ortszeit landen.
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Der Flug von Tallinn startete mit Verspätung und erreichte Warschau erst um 07.08 Uhr Ortszeit. Durch die Verspätung konnte der Anschlussflug nach München nicht mehr erreicht werden. Mit der von der Beklagten zur Verfügung gestellten Ersatzbeförderung erreichten die Passagiere ihr Endziel mit einer Verspätung von 5 Stunden 47 Minuten.
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Die Beklagte behauptet, dass das Flugzeug vor dem Flug von Tallinn nach Warschau enteist werden musste und es wegen der Enteisung zu der Verspätung kam. Die Zedenten seien mit dem nächsten möglichen Flug zum Zielort befördert worden. Für die Umbuchung habe die Beklagte auf ihr Buchungssystem zurückgegriffen, in dem alle verfügbaren Flüge sämtlicher Fluggesellschaften hinterlegt seien und mit dem sämtliche verfügbaren direkten und indirekten Flugverbindungen bei Eingabe des Standorts und des Zielorts angezeigt würden.
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Das Amtsgericht Erding verurteilte die Beklagte mit Versäumnisurteil vom 05.12.2022 antragsgemäß zur Zahlung der Ausgleichsleistungen. Nach Einspruch hielt das Amtsgericht Erding mit Endurteil vom 26.06.2023 das Versäumnisurteil aufrecht.
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Zur Begründung führt das Erstgericht aus, dass offen bleiben könne, ob die Verspätung, wie von der Beklagten behauptet, auf einer Enteisungsmaßnahme beruhe. Die Beklagte habe nicht hinreichend dargelegt, dass sie alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die Verspätung der Zedenten zu vermeiden. Die Beklagte habe die Umsteigezeit von 50 Minuten zu knapp bemessen. Die Mindestumsteigezeit in Warschau betrage 40 Minuten. Ein Luftfahrtunternehmen müsse bei einer einheitlich gebuchten Verbindung, die aus mehreren Teilstrecken bestehe, die Umsteigezeit so kalkulieren, dass für den Fluggast ein Umsteigen auch dann möglich sei, wenn der Flug zum Umsteigeflughafen mit einer Verspätung am Umsteigeflughafen ankomme. Der Beklagten hätte bekannt sein können, dass es im Januar in Tallinn zu Temperaturen unter dem Gefrierpunkt kommen könne, so dass eine Enteisung notwendig werden könnte. Die Beklagte habe auch gewusst, dass sie im Falle einer Enteisung keinen Einfluss auf die Reihenfolge der zu enteisenden Fluggeräte haben würde. Da die Beklagte jedoch auf die Mindestumsteigezeit nur zehn Minuten addiert habe, habe sie nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen.
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Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung und begehrt unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die vollständige Abweisung der Klage.
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Das Erstgericht habe fehlerhaft der Klage vollumfänglich stattgegeben, obwohl die Beklagte erstinstanzlich unter Beweisantritt vorgetragen habe, dass alleinige Ursache dieser Verspätung außergewöhnliche Umstände gewesen seien, da eine Enteisung des Flugzeugs vorgenommen werden musste. Das Amtsgericht Erding widerspreche der Rechtsprechung des BGH. Nach Ansicht des BGH müssten Flugunternehmen ihre Zeitreserve nicht derart berechnen, dass jede außergewöhnliche Beeinträchtigung aufgefangen werde. Zudem müssten Flugunternehmen keine Umsteigezeit über die Mindestumsteigezeit hinaus einplanen. Maßgeblich sei also, dass die Beklagte bei der Buchung die Mindestumsteigezeit eingehalten habe. Sie habe sogar zehn Minuten mehr kalkuliert. Daher könne der Beklagten nicht vorgehalten werden, sie müsse die Umsteigezeit in den Wintermonaten generell verlängern, da sie angeblich wisse, dass eine Enteisung im Januar womöglich notwendig sein werde und sie keinen Einfluss auf die Reihenfolge der zu enteisenden Flugzeuge habe. Eine solche Pflicht bestehe nicht. Es könne auch nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass Flugzeuge im Winter generell enteist werden müssen. Außerdem könne von einem Flugunternehmen entsprechend der BGH-Rechtsprechung nicht erwartet werden, alle möglichen Störungen des Flugbetriebs, auf die es ohnehin keinen Einfluss habe, im Flugplan zu berücksichtigen. Des Weiteren habe das Erstgericht auch nicht erklärt, welche Umsteigezeit aus seiner Sicht im konkreten Fall angemessen wäre. Im konkreten Fall sei es zu einer Verspätung von 5 Stunden und 47 Minuten gekommen. Würde die Fluggesellschaft derartiges einplanen, wäre das nicht im Interesse der Passagiere, wenn diese dann stets mehrere Stunden auf ihren Anschlussflug warten müssten.
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Die Berufung ist offensichtlich unbegründet (§ 522 Abs. II ZPO).
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Die Berufung kann gemäß § 513 Abs. 1 ZPO nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
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1. Die Beklagte hat nicht ausreichend substantiiert dargelegt, dass die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurück geht (Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004).
12
Die Beklagte behauptet, dass der Flug von Tallinn nach Warschau wegen einer notwendigen Enteisung mit Verspätung in Warschau ankam.
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Sie führt hierzu aus, dass der Pilot die Notwendigkeit der Enteisung festgestellt habe, das Fluggerät um 06.00 Uhr Ortszeit zur Enteisung gefahren wurde und diese von 6.21 Uhr bis 6.31 Uhr durchgeführt wurde. Vortrag dazu, wann der Pilot die Notwendigkeit der Enteisung prüfte/feststellte und insbesondere wann die Enteisung dem zuständigen Ansprechpartner des Flughafens gemeldet wurde, fehlt. Auf die Frage des Gerichts in der öffentlichen Sitzung am 20.03.2023, wann die Notwendigkeit der Enteisung per Funk an den Flughafen gemeldet wurde, erklärte der Beklagtenvertreter, dass ihm hierzu keinerlei Informationen vorlägen, weil die Anfrage per Funk nicht dokumentiert worden sei. Auch in der Folgezeit erfolgte seitens der Beklagten hierzu kein substantiierter Vortrag. Mithin bleibt unklar, ob die Beklagte rechtzeitig vor dem geplanten Abflug durch ihren Piloten die Notwendigkeit der Enteisung überprüft und sodann unverzüglich die Notwendigkeit der Enteisung an die zuständige Stelle gemeldet hat, damit diese möglichst schnell vorgenommen werden kann. Zwar ist gerichtsbekannt, dass Flugunternehmen keinen Einfluss auf die Reihenfolge der Enteisung haben. Vorliegend hat die Beklagte jedoch nicht ausreichend dargetan, dass die Enteisung kausal für die Verspätung war. Mangels ausreichenden Vortrags insbesondere dazu, wann die Notwendigkeit der Enteisung an den Flughafen gemeldet wurde, bleibt unklar bzw. ist nicht ausgeschlossen, dass bei pflichtgemäßer frühzeitiger Meldung die Enteisung noch rechtzeitig vor dem planmäßigen Start hätte vorgenommen werden können.
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2. Letztlich kann die Frage, ob die Verspätung auf einen außergewöhnlichen Umstand zurück geht, jedoch dahinstehen, weil die Beklagte jedenfalls nicht dargetan hat, dass sie alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der Verspätung ergriffen hat, Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004.
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In Einklang mit dem im ersten Erwägungsgrund der Verordnung VO (EG) 261/2004 genannten Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, und dem Erfordernis einer zumutbaren, zufriedenstellenden und frühestmöglichen anderweitigen Beförderung der von der Annullierung oder großen Verspätung ihres Fluges betroffenen Fluggäste muss das Luftfahrtunternehmen, das sich bei Eintritt eines außergewöhnlichen Umstandes durch Ergreifen der zumutbaren Maßnahmen von seiner in Art. 5 Abs. 1 c), Art. 7 VO (EG) 261/2004 vorgesehenen Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste befreien möchte, alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel bis zur Opfergrenze einsetzen. Zur vom Luftfahrtunternehmen dabei verlangten Sorgfalt gehört die Suche nach anderen direkten oder indirekten Flügen, die gegebenenfalls von anderen Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden und mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommen.
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Das Luftfahrtunternehmen kann sich von seiner Ausgleichsverpflichtung nur nach Darlegung einer entsprechenden Suche für den konkreten Fall entlasten (EuGH Urteil vom 11.06.2020 – C-74/19).
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Dabei können auch Kombinationen aus Flügen und sonstigen Verkehrsmitteln eine zumutbare Maßnahme darstellen. Mit Urteil vom 22.04.2021 – C-826/19 hat der EuGH entschieden, dass bei Umleitung eines Fluges an einen anderen das Gebiet bedienenden Flughafen das Luftfahrtunternehmen keine Ausgleichsleistung gem. Art. 7 VO (EG) 261/2004 zahlen muss, auch wenn die Strecke zwischen dem Zielflughafen und dem Zielort (ursprünglichen Zielflughafen) mit anderen Verkehrsmitteln zurückgelegt wird und die Ankunft dort nicht mit großer Verspätung erfolgt. Demnach erachtet es der EuGH als zulässig, dass im Rahmen der Entlastung des Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 Teilstrecken mit anderen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Zur Überzeugung der Kammer folgt daraus im Umkehrschluss und unter Berücksichtigung der in den Erwägungsgründen 12 und 13 genannten Erfordernisse, dass Ärgernisse und Unannehmlichkeiten der Fluggäste verringert und eine zufriedenstellende anderweitige Beförderung angeboten werden soll, dass das Luftfahrtunternehmen bei der Suche nach einer anderweitigen Beförderung auch die Bewältigung von Teilstrecken mit anderen zufriedenstellenden Verkehrsmitteln prüfen muss. Es ist davon auszugehen, dass regelmäßig die Fluggäste vorwiegend an der schnellstmöglichen Ersatzbeförderung interessiert sind um ihre Unannehmlichkeiten zu verringern.
18
Grundsätzlich ist es dabei nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte ein automatisiertes Umbuchungssystem verwendet, sofern dabei sämtliche möglichen anderweitigen direkten oder indirekten Beförderungsmöglichkeiten unter Einbeziehung aller am Markt operierenden Fluggesellschaften gegebenenfalls in Kombination mit anderen Verkehrsträgern wie dem Straßen- oder Schienenverkehr geprüft werden. Anders wird eine Prüfung von Umbuchungen angesichts der Komplexität dieser Suche in der Regel nicht praktikabel sein. Die Kammer vertritt die Auffassung, dass es die Anforderungen an die Substantiierungspflicht überspannen würde, wenn man in jedem Fall verlangt, dass das Luftfahrtunternehmen dazu vorträgt, welche direkten und indirekten Verbindungen konkret mit Flugnummer, Luftfahrtunternehmen sowie Abflug und Ankunftsort überprüft wurden (so Landgericht Düsseldorf 04.04.2023 – 22 S 264/22). Es ist daher denkbar, dass dem Luftfahrtunternehmen die Exkulpation dadurch ermöglicht wird, dass es nachweist, dass geeignete technische Mittel für die Suche nach der schnellstmöglichen Ersatzbeförderung in konkretem Fall zum Einsatz kamen und dabei keine schnellere Verbindung gefunden werden konnte.
19
Vorliegend hat die Beklagte jedoch nur vorgetragen, dass sie bei Umbuchungen auf ihr Buchungssystem zurückgreife, in diesem alle verfügbaren Flüge sämtlicher Fluggesellschaften hinterlegt seien so wie bei der Öffentlichkeit zugänglichen Flugbuchungsportalen bzw. wie bei Reisebüros. Die Beklagte hat also bei ihrer Suche keine Kombinationen aus Flügen und sonstigen Verkehrsmitteln berücksichtigt. Die Beklagte hat daher bereits nicht dargetan, dass es keine andere schnellere Möglichkeit gegebenenfalls als Kombination verschiedener Verkehrsmittel gegeben hätte.
20
Im Übrigen wurde für den Suchvorgang kein Beweis angeboten, so dass die Beklagte auch beweisfällig wäre. Da die Klagepartei keinen Einblick in den Umbuchungsvorgang hat und daher keine Gegendarstellung abgeben konnte, durfte sie sich auf einfaches Bestreiten beschränken, § 138 Abs. 4 ZPO.
21
Der Vortrag zur Suche nach der schnellstmöglichen Ersatzbeförderung ist ferner unter den weiteren Gesichtspunkten nicht ausreichend substantiiert, dass nicht konkret dargelegt wurde, wann erkennbar war, dass mit dem Zubringerflug der Anschlussflug nicht erreicht werden konnte, wann die Suche durchgeführt wurde und welche Daten eingegeben wurden. Daher ist nicht nachvollziehbar, dass die Beklagte unverzüglich, nachdem sie erkennen konnte und musste, dass der Anschlussflug nicht erreicht werden kann, mit der Suche begonnen hat. Ggf. wäre auch zu prüfen gewesen, ob es möglich gewesen wäre, die Zedenten auf eine schnellere – direkte oder indirekte – Verbindung von Tallinn nach München umzubuchen.
22
Auf die Frage, ob die Beklagte bei der Planung pflichtwidrig eine nicht ausreichende Umsteigezeit vorsah, kommt es daher nicht an.