Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.01.2024 – 10 CE 23.1696
Titel:

Erlöschen der Niederlassungserlaubnis wegen Ausreise zu einem nicht nur vorübergehenden Zweck

Normenkette:
AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6
Leitsatz:
Die Ausreise eines Ausländers zur Pflege eines dauernd pflegebedürftigen Angehörigen beruht nicht mehr auf einem seiner Natur nach nur vorübergehenden Grund. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erlöschen der Niederlassungserlaubnis, Ausreise zu einem nicht nur vorübergehenden Zweck, Verlagerung des Lebensmittelpunkts, Pflege, dauernd pflegebedürftger Angehöriger im Ausland
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 28.08.2023 – M 24 E 22.6297
Fundstelle:
BeckRS 2024, 1366

Tenor

I. In Abänderung von Nr. I. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 28. August 2023 wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
II. In Abänderung von Nr. II. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 28. August 2023 trägt die Antragstellerin die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Niederlassungserlaubnis der Antragstellerin gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen ist. Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 28. August 2023, mit dem dieses die Antragsgegnerin verpflichtet hat, der Antragstellerin eine neue Niederlassungserlaubnis-Karte auszustellen; diese Verpflichtung gelte vorläufig und nicht länger als bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Rechtskraft dieses Beschlusses, wenn eine Klage in der Hauptsache nicht erhoben werde, ansonsten gelte die Verpflichtung vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache.
2
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Nach dem Vortrag in der Beschwerdebegründung, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich, dass die Antragstellerin nicht glaubhaft machen kann, dass ihre Niederlassungserlaubnis nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen ist, weshalb ein zu sichernder Anspruch im Sinn des § 123 Abs. 1 VwGO nicht vorliegt.
3
Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt ein Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist. Das Verwaltungsgericht ist dabei zutreffend davon ausgegangen, dass eine Ausreise nur dann im Sinne dieser Vorschrift unschädlich ist und somit nicht zum Erlöschen führt, wenn es um Auslandsaufenthalte geht, welche nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen, wie etwa Urlaubsreisen, beruflich veranlasste Aufenthalte von ähnlicher Dauer, Aufenthalte zur vorübergehenden Pflege von Angehörigen, zur Ableistung der Wehrpflicht oder Aufenthalte während der Schul- oder Berufsausbildung für zeitlich begrenzte Ausbildungsabschnitte. Je länger die Dauer der Abwesenheit währt und je deutlicher sie über einen bloßen Besuchs- und Erholungsaufenthalt im Ausland hinausgeht, desto mehr spricht dafür, dass der Auslandsaufenthalt nicht nur vorübergehender Natur ist. Neben der Dauer und dem Zweck des Auslandsaufenthalts sind alle objektiven Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, während es auf den inneren Willen des Ausländers, insbesondere seine Planung der späteren Rückkehr nach Deutschland, nicht allein ankommen kann. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG greift nicht nur dann, wenn der seiner Natur nach nicht vorübergehende Grund bereits im Zeitpunkt der Ausreise vorlag, sondern auch dann, wenn er erst während des Aufenthalts des Ausländers im Ausland eintrat. Die Verlagerung des Lebensmittelpunkts in das Ausland stellt eine Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund dar (vgl. BVerwG, U.v. 11.12.2012 – 1 C 15.11 – juris Rn. 16; BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 6.08 – juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 13.3.2023 – 10 CE 22.1941 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 8.7.2022 – 10 ZB 22.1379 – juris Rn. 8, jew. m.w.N.).
4
Die Umstände, die zum Erlöschen des Aufenthaltstitels führen, müssen grundsätzlich zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) feststehen; die Beweislast trägt insoweit die Ausländerbehörde. Den Ausländer trifft dabei allerdings eine Mitwirkungspflicht nach § 82 Abs. 1 AufenthG sowie § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO, weshalb er die Umstände des Auslandsaufenthalts substantiiert darzulegen und eventuelle Beweismittel vorzulegen hat. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO hat der Ausländer glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass die Umstände des Einzelfalls nicht die Schlussfolgerung des Erlöschens seines Aufenthaltstitels tragen (BayVGH, B.v. 23.1.2017 – 10 CE 16.1398 – juris Rn. 8 f.; BayVGH, B.v. 17.12.2021 – 19 ZB 21.2450 – juris Rn. 25).
5
In Anwendung dieser Grundsätze kommt der Senat jedoch – anders als das Verwaltungsgericht – zu der Überzeugung, dass sich aus den Umständen des vorliegenden Falles ergibt, dass die Antragstellerin ihren Lebensmittelpunkt (wieder) in ihr Heimatland zurückverlagert und sich seit dem Jahr 2020 lediglich für kurze Besuche im Bundesgebiet aufgehalten hat.
6
Erhebliches Gewicht kommt bei dieser Einschätzung dem Umstand zu, dass sie sich allenfalls „tageweise“ im Bundesgebiet aufgehalten hat. Nach ihren eigenen Angaben (E-Mail vom 21.9.2022, Bl. 169 der elektron. Behördenakte, vgl. BA Rn. 4) hat sie sich seit Februar 2020 nur vom 8. bis 12. August 2020, vom 4. bis 6. Februar 2021, vom 28. bis 29. Juli 2021, vom 26. bis 28. Januar 2022 und vom 20. bis 21. Juli 2022 in Deutschland aufgehalten; bei vier dieser fünf Aufenthalte ist sie also schon am nächsten oder übernächsten Tag nach der Einreise wieder nach Russland zurückgekehrt. Schon diese wenigen Tage des Aufenthalts innerhalb von drei Jahren (2020 bis 2022) begründen erhebliche Zweifel an der Fortdauer eines „Lebensmittelpunkts“ im Bundesgebiet, auch wenn das Verwaltungsgericht hier einen „atypischen Fall“ (BA Rn. 26) annehmen will. Insoweit drängt sich hier der Schluss auf, dass die Antragstellerin mit ihren kurzen Aufenthalten in Deutschland eher darauf bedacht war, das Erlöschen des Aufenthaltstitels aufgrund des (weiteren) Erlöschensgrundes gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zu vermeiden (vgl. BayVGH, B.v. 13.3.2023 – 10 CE 22.1941 – juris Rn. 10).
7
Aus der Berufstätigkeit der Antragstellerin für ein in Deutschland ansässiges Unternehmen (bis zum Aufhebungsvertrag vom 25. Oktober 2022, Bl. 40 ff. der VG-Akte) ergibt sich gerade nicht die Folgerung eines fortdauernden Lebensmittelpunkts in Deutschland. Vielmehr konnte sie – wie aus den wenigen Aufenthaltstagen in Deutschland zu ersehen ist – ihre Berufstätigkeit als Abteilungsleiterin und Seniorberaterin (offenbar die Betreuung russischsprachiger bzw. in Russland ansässiger Kunden, vgl. Bl. 41 der elektron. Behördenakte) ganz offensichtlich auch von ihrem Heimatland Russland aus ausüben. Offensichtlich war in dieser Zeit ihre Anwesenheit am Sitz des Unternehmens im Bundesgebiet nicht oder allenfalls an den oben genannten wenigen Tagen erforderlich.
8
Dass die Antragstellerin nach ihren Angaben im Bundesgebiet ein Bankkonto und eine Krankenversicherung besitzt und eine Altersrente der Deutschen Rentenversicherung bezieht, ergibt sich aus ihrem (früheren) Beschäftigungsverhältnis bei einem in Deutschland ansässigen Unternehmen, belegt aber nicht die Fortdauer eines Lebensmittelpunkts in Deutschland.
9
Auch das (bloße) Fortbestehen des Mietverhältnisses über eine Wohnung im Bundesgebiet – im Mietvertrag (Bl. 55 der VG-Akte) als „möblierte Wohnung“ bzw. „möblierte Zimmer“ bezeichnet – belegt noch nicht die Annahme, dass die Antragstellerin weiterhin ihren Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet hat. Sie hat die Wohnung – es handelt sich laut Mietvertrag allenfalls um eine 1-Zimmer-Wohnung von ca. 25 qm bei einer monatlichen Gesamtmiete von 355,- Euro – jedenfalls in den Jahren 2020 bis 2022 wie oben dargelegt nur an wenigen Tagen benutzt. Nach den Umständen handelt es sich nur um eine Unterkunftsmöglichkeit für kurzzeitige Aufenthalte, nicht aber um eine Wohnung, die einen – zumindest zusätzlichen – Lebensmittelpunkt darstellen kann.
10
Soweit sich die Antragstellerin erstinstanzlich auf die dauernde Pflegebedürftigkeit ihrer Tochter berufen hat, weist die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdebegründung zu Recht darauf hin, dass dieser Umstand eher nicht für einen nur vorübergehenden Grund für die Ausreise nach Russland spricht. Die Antragstellerin hat selbst vorgetragen, die Pflegebedürftigkeit habe bereits lange vor der erstmaligen Erteilung eines Aufenthaltstitels an sie vorgelegen, und sie habe die Tätigkeit bei dem in Deutschland ansässigen Unternehmen aufgenommen, um die Behandlung der Tochter zu finanzieren; ihr Ehemann und die Tochter seien in Russland geblieben (Schriftsatz vom 13.12.2022, Bl. 3 der VG-Akte). Inwieweit sich die Antragstellerin in der Zeit vor 2020, also seit ihrer erstmaligen Einreise am 20. Mai 2012 bzw. seit der Erteilung der Niederlassungserlaubnis am 21. Januar 2015 tatsächlich im Bundesgebiet oder im Heimatland Russland aufgehalten hat, ist von den Beteiligten nicht vorgetragen und ergibt sich auch nicht aus den Akten. Damit kann auch nicht belegt werden, dass die Antragstellerin damals einen „zweiten“ Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet aufgebaut und sich somit „alle Jahre zwischen zwei Ländern, zwischen zwei Wohnungen bewegt“ habe.
11
Zwar kann grundsätzlich die Ausreise zur Pflege eines Familienangehörigen einen vorübergehenden Grund für eine Ausreise im Sinn von § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG darstellen, doch gilt dies nur für eine vorübergehende, nicht auf Dauer angelegte Pflege (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.10.2023, AufenthG § 51 Rn. 25). Die Ausreise zur Pflege eines dauernd pflegebedürftigen Angehörigen beruht dagegen nicht mehr auf einem nur vorübergehenden Grund (Protz in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2023, AufenthG § 51 Rn. 9). Hier hat die Pflegebedürftigkeit bereits lange vor der erstmaligen Einreise ins Bundesgebiet bestanden; sie mag für die Antragstellerin, wie sie vorträgt, das Motiv für die Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses mit einem in Deutschland ansässigen Unternehmen gewesen sein, belegt aber gerade nicht die Einrichtung oder Beibehaltung eines (weiteren) Lebensmittelpunkts in Deutschland. Es liegt eher die Schlussfolgerung nahe, dass die Antragstellerin eben deswegen, weil die Tochter sowie auch ihr Ehemann in Russland leben, auch selbst ihren (alleinigen) Lebensmittelpunkt dort hatte bzw. hat.
12
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
13
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.
14
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).