Titel:
Iran, Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland, keine Aussetzung des Verfahrens, ergebnisoffene Prüfung und Entscheidungsbefugnis, Frau, Kurdin, Ausreise als Kind in den Irak, insgesamt dreizehnjähriger Aufenthalt im Irak, Mitglied in Sazmane, Khabat Kurdestani-Iran bzw. Khabat, Organization of Iranian, Kurdistan Struggle, Organisation des iranischen Kurdistan-Kampfes, jahrelange Demonstrationsteilnahmen und sonstige exilpolitische oppositionelle Aktivitäten im Irak, in Griechenland und in Deutschland sowie in den sozialen Medien, exponierte Stellung aufgrund langjähriger parteipolitischer Aktivitäten in und für verbotene kurdische Exilpartei, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung für kurdische Aktivistin bei einer Rückkehr in den Iran, Gefahrerhöhung durch Ereignisse im Iran seit September 2022, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, keine triftigen aktuellen Erkenntnisse, dass exilpolitische Aktivitäten in Deutschland aus asyltaktischen Gründen für sich eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Iran ausschließen
Normenketten:
VwGO § 86 Abs. 1 Halbsatz 2
VwGO § 94
AsylG § 3
AsylG § 4
AsylG § 25
AufenthG § 60
Schlagworte:
Iran, Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland, keine Aussetzung des Verfahrens, ergebnisoffene Prüfung und Entscheidungsbefugnis, Frau, Kurdin, Ausreise als Kind in den Irak, insgesamt dreizehnjähriger Aufenthalt im Irak, Mitglied in Sazmane, Khabat Kurdestani-Iran bzw. Khabat, Organization of Iranian, Kurdistan Struggle, Organisation des iranischen Kurdistan-Kampfes, jahrelange Demonstrationsteilnahmen und sonstige exilpolitische oppositionelle Aktivitäten im Irak, in Griechenland und in Deutschland sowie in den sozialen Medien, exponierte Stellung aufgrund langjähriger parteipolitischer Aktivitäten in und für verbotene kurdische Exilpartei, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung für kurdische Aktivistin bei einer Rückkehr in den Iran, Gefahrerhöhung durch Ereignisse im Iran seit September 2022, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, keine triftigen aktuellen Erkenntnisse, dass exilpolitische Aktivitäten in Deutschland aus asyltaktischen Gründen für sich eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Iran ausschließen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13525
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. November 2023 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin, iranische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste am 18. November 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 5. Dezember 2019 einen Asylantrag. Zur Begründung ihres Asylantrages gab die Klägerin im Wesentlichen an: Als sie noch jung gewesen sei, habe sie im Jahr 2003 den Iran verlassen und zusammen mit ihrer Familie bis September 2016 im Iran gelebt. Der Vater der Klägerin sei im Iran Peschmerga und Mitglied der regimekritischen kurdischen Sazmane Khabat Kurdestani-Iran (Khabat Organization of Iranian Kurdistan Struggle – Organisation des iranischen Kurdistan-Kampfes) gewesen. Das Leben der Familie sei aufgrund der Mitgliedschaft des Vaters in der Partei in Gefahr gewesen. Daher sei die Familie in den Irak ausgereist. Aufgrund der dortigen, zuletzt zunehmenden Unsicherheiten habe die Familie den Irak schließlich verlassen. Die Klägerin sei mittlerweile ebenfalls Mitglied dieser Partei. Als Jugendliche habe sie an der Vorbereitung und Feierlichkeiten mitgewirkt und habe vorgelesen. Bei einer Rückkehr in den Iran fürchte sie inhaftiert zu werden oder, dass ihr sonst etwas zustoßen könne oder dass sie hingerichtet werde. Ihre Familie sei mit der Partei verbunden. Im Iran hätten sie keine Freiheit. In Deutschland sei sie exilpolitisch aktiv.
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Mit Bescheid vom 23. November 2023 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Bei der Prüfung der Voraussetzung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt entfalte die Entscheidung der griechischen Asylbehörde keine Bindungswirkung. Aus dem Vortrag der Klägerin sei keine mit einem asyl- oder flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmal verknüpfte, gegen sie persönlich gerichtete Verfolgung ersichtlich. Anhaltspunkte, wonach die Klägerin bei einer Rückkehr mit relevanten staatlichen oder nichtstaatlichen Repressionsmaßnahmen zu rechnen hätte, hätten sich nicht ergeben. Die pauschale Befürchtung, ihr könne bei einer Rückkehr in den Iran aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer kurdischen Organisation Unbill drohen, sei nicht nachvollziehbar. Die Klägerin habe den Iran im Alter von sechs Jahren unverfolgt verlassen. Ihr selbst sei zu keinem Zeitpunkt etwas passiert. Auch hinsichtlich der vorgetragenen Stellung ihres Vaters als Peschmerga sei nicht zu erkennen, dass der Klägerin hieraus Schaden entstehen sollte. Die Klägerin habe nicht vorgebracht, noch sei sonst ersichtlich, dass sie eine exponierte Position innerhalb der Organisation innehabe. Sie habe auch keine politisch motivierten Aktivitäten vorgetragen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus der Sicht der iranischen Regierung als ernsthaft oder gefährlich einschätzen ließen. Die geltend gemachten Nachfluchtgründe der Teilnahme an einer Demonstration oder an einem Onlineformat, die über Aktivitäten iranischer Antragsteller, wie sie im Rahmen ihrer Asylverfahren vielfach vorgetragen würden, nicht hinausgingen, könnten zu keinem anderen Ergebnis führen. Es könnte nicht davon ausgegangen werden, dass jede Person, die an Veranstaltungen der Exilopposition teilnehme, von den iranischen Behörden als mögliche Regimekritikerin erkannt und verfolgt würde. Bloße untergeordnete exilpolitische Betätigungen, auch wenn sie im Internet dokumentiert würden, seien ebenfalls für sich genommen nicht ausreichend, um erhebliche Repressalien bei einer Rückkehr befürchten zu lassen.
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Am 4. Dezember 2023 ließ die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
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Mit Schriftsatz vom 5. Februar 2024 ließ die Klägerin unter Vorlage diverser Unterlagen (Fotos, Videos usw.) zur Klagebegründung im Wesentlichen ausführen: Die im Iran geboren Klägerin habe innerhalb der ersten Lebensjahre mit ihren Eltern mehrfach innerhalb Irans umziehen müssen, da ihre Familie aufgrund der politischen Aktivitäten ihres Vaters als Peschmerga [zu Deutsch etwa: Freiheitskämpfer] seit dem Jahre 2003 für die im Iran verbotene oppositionelle kurdische Partei „Sazmane Khabat Kurdestani-Iran“ (Khabat Organiszation of Iranian Kurdistan Struggle) aktiv gewesen sie und gegen das iranische Regime mobilisierte habe. Bei der (exil-)politischen Oppositionsgruppe Khabat bzw. Xebat handele sich um eine 1979 im Iran gegründete, verbotene kurdisch-sunnitische Gruppe, die bis heute von der iranischen Regierung bekämpft und verfolgt werde. Die Klägerin sowie ihre Schwester seien während ihrer Kindheit und Jugend im Irak (seit 2003) und in Griechenland (ab 2016) in politischen Aktivitäten der Khabat-Organisation eingebunden gewesen und bis heute aktiv. Die Klägerin habe an verschiedenen politischen Veranstaltungen und Gedenkzeremonien teilgenommen, wie Fotos belegten, die zum Teil auch auf der Homepage der Organisation eingestellt worden seien. Im Jahr 2016 sei die Familie erneut gezwungen gewesen zu fliehen. In Griechenland habe die ganze Familie Flüchtlingsschutz erhalten, sei aber wegen der dortigen menschenunwürdigen Umständen 2019 nach Deutschland. Die Klägerin sei auch in Deutschland politisch aktiv gegen die iranische Regierung und setze sich für die politischen Ziele der Khabat nach Freiheit und Unabhängigkeit für die iranischen Kurden ein. So habe die Klägerin in der Pandemie- und Lockdown-Phase an politischen Online-Konferenzen als Khabat-Mitglied teilgenommen. Fotos der Klägerin aus dem Zeitraum 2022 bis 2024 zeigten die Klägerin gemeinsam mit ihrer Familie und ihrer Schwester auf Demonstrationen und Protestaktionen unter anderem in Aschaffenburg, Frankfurt am Main usw. im Rahmen der kurdischen / iranischen Protestbewegung „Jin, Jiyan, Azadi“ bzw. „Zan, Zendegi, Azadi“. Die Klägerin sei nicht nur Kurdin sunnitischen Glaubens, vielmehr sei sie seit früher Kindheit aktiv politisch für die Khabat-Organisation gewesen. Dies sei sie auch heute noch. Bis heute nehme sie regelmäßig politisch aktiv für die Partei an Veranstaltungen teil und sei insbesondere auch auf Social Media politisch aktiv und setze sich insbesondere für Frauenrechte, Kurdenrechte und Menschenrechte ein. Hierbei unterstützte sie auch die Bürgerrechts- und Protestbewegung der jungen Generation. Seit dem Herbst 2022 habe sich die politische Gefährdungslage im Iran nicht nur für Andersdenkende, zu denen die Klägerin als sunnitische Kurdin zähle, massiv verschärft. Über 20.000 Menschen seien verhaftet worden, ca. 100 Personen seien zum Tode verurteilt und auch hingerichtet worden. Die Dunkelziffer ermordeter Personen sei unbekannt. Der iranische Staat überwache die Social-Media-Aktivitäten sowie Demonstrationen und exilpolitische Oppositionsparteien im Ausland. Die Website der Khabat-Organisation sei gehackt worden. Vier Verwandte im Iran seien inhaftiert und verurteilt worden. Repressalien durch das iranische Regime richteten sich vor allem gegen ethnische und religiöse Minderheiten, zu denen die Klägerin als sunnitische Kurdin gehöre. Der iranische Sicherheitsapparat kenne sehr genau die Mitglieder und die Familienangehörigen von im Iran verbotenen / exilpolitischen Parteien und nehme insbesondere auch Familienangehörige in Sippenhaft. Allein im Januar 2024 seien nach Berichten von der kurdischen Menschenrechtsorganisation Hengaw 74 Todesurteile im Iran vollstreckt worden, wobei 46% der Hinrichtungen auf kurdische Bürger entfallen seien.
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Am 13. Februar 2024 (Eingang bei Gericht) übermittelte die Klägerin noch eine Mitgliedbescheinigung („Mitgliedsverifizierung“) der Khabat-Organisation, wonach der Klägerin als langjähriges Mitglied der Jugend- und Frauenabteilung der Khabat-Organisation aufgrund ihrer kontinuierlichen Werbetätigkeiten und der Organisation von Sitzungen im Iran Verfolgung drohe. Außerdem legte sie Fotos und Screenshots über die Teilnahme an einer Gedenkfeier ihrer Partei in Berlin am 10. Februar 2024 sowie an einer Demonstration am 3. Februar 2024 in Frankfurt und zu ihren damit verbundenen weiteren Aktivitäten (Wache und Ausguck) vor.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2023,
7
Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 5. Dezember 2023 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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In der mündlichen Verhandlung am 19. Februar 2024 beantragte die Klägerbevollmächtigte für die Klägerin,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. November 2023 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte die Klägerin gemeinsam mit ihrer Schwester informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich die Akte der Schwester W 8 K 23.30806) und auf die beigezogenen Behördenakten (einschließlich der Akte des Vaters) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Das Gericht musste das vorliegende Verfahren nicht im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris; siehe auch VG Stuttgart, B.v. 2.5.2023 – A 7 K 6645/22 – juris; Entscheiderbrief 06/2023 S. 4 ff.) gemäß § 94 VwGO Ruhend stellend bzw. wegen Vorgreiflichkeit aussetzen. Denn im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung konnte im vorliegenden Fall sowohl im Interesse an zügiger effektiver Rechtsgewähr als auch im Interesse der Prozessökonomie und nicht zuletzt auch aufgrund des konkreten Rechtschutzgesuchs im Interesse der Klägerin an einer alsbaldigen Entscheidung von einer Ruhendstellung bzw. Aussetzung abgesehen werden (VG Karlsruhe, U.v. 18.10.2022 – A 8 K 2210/22 – juris Rn. 22; VG Düsseldorf, U.v. 11.10.2022 – 17 K 4350/20.A – juris Rn. 2 ff.).
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Vielmehr konnte das Gericht ebenso wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trotz der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Klägerin schon in Griechenland aufgrund der dortigen Verhältnisse (vgl. nur SaarlOVG, U.v. 15.11.2022 – 2 A 81/22 – juris Rn. 18 ff.), die wegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unmöglich machten, ergebnisoffen über den in Deutschland gestellten Asylantrag entscheiden, ohne an die Entscheidung in Griechenland gebunden zu sein (VG Karlsruhe, U.v. 18.10.2022 – A 8 K 2210/22 – juris Rn. 22). Ist wie hier eine Ablehnung des Asylantrages der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verwehrt, ist eine materielle Prüfung geboten. Denn nach der Logik und Systematik des gemeinsamen europäischen Asylsystems kann ein Asylantrag nur dann unzulässig sein, wenn der Schutz tatsächlich noch besteht und die Person – anders als hier – Zugang zu diesem Schutz hat. Besteht ein Überstellungsverbot in den schutzzuerkennenden Staat, ist gerade ein volles Asylverfahren durchzuführen, um den Vorgaben des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere von Art. 18 GrCh zu entsprechen (Hruschka/Mantel in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 60 AufenthG Rn. 8 mit Verweis auf EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 – NVwZ 2019, 785 – Ibrahim u.a. sowie B.v. 13.11.2019 – C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 – Hamed und Omar).
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Weder das Völkerrecht, noch das Europarecht, noch das nationale Recht stehen der vorliegenden Ansicht entgegen. Weder in der Genfer Flüchtlingskonvention noch im Recht der Europäischen Union findet sich die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Entscheidung. Insbesondere ist eine solche auch nicht europarechtlich unmittelbar angeordnet oder vorgeschrieben (siehe im Einzelnen VG Karlsruhe, U.v. 18.10.2022 – A 8 K 2210/22 – juris Rn. 22 ff., 26 ff. sowie VG Potsdam, U.v. 21.3.2023 – 16 K 1551/20.A – juris Rn. 25 ff.). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist ebenso wie das Gericht nicht auf die Feststellung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG beschränkt, sondern ist gehalten, ergebnisoffen eine Vollprüfung vorzunehmen (VG Düsseldorf, U.v. 11.10.2022 – 17 K 4350/20.A – juris Rn. 19 ff.). Insoweit ist § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ebenso wie Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG einschränkend auszulegen (vgl. VG Aachen, U.v. 3.6.2022 – 10 K 2844/20.A – juris Rn. 99 ff.; VG Stuttgart, U.v. 18.2.2022 – A 7 K 3174/21 – juris Rn. 46 und 55, teleologische Reduktion; jeweils m.w.N.). Das nationale Recht kennt keine weitergehende Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedsstaat, da die von entsprechenden Entscheidungen anderer Staaten ausgehenden Rechtswirkungen in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt sind (VG Minden, U.v. 2.3.2022 – 1 K 194/21.A – juris Rn. 29; vgl. zum Ganzen auch noch zusätzlich zu den in den vorstehenden Absätzen zitierten Gerichtsentscheidungen VG Regensburg, U.v. 17.3.2023 – RO 13 K 22.31542 – juris Rn. 18 ff.; VG Göttingen, U.v. 2.11.2022 – 3 A 115/20 – juris; VG Trier, U.v. 10.8.2022 – 2 K 1824/22.TR, 7937593 – juris; VG Osnabrück, U.v. 14.2.2022 – 5 A 512/20 – juris; alle m.w.N.). Die Klägerin begehrt indes gerade einen weitergehenden Ausspruch über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Nach alledem ist das Gericht weder an einer eigenen Vollprüfung noch an einer eigenständigen Sachentscheidung gehindert (vgl. auch Generalanwältin beim EuGH, Schlussanträge v. 25.1.2024 – C-753/22 – juris sowie Generalanwalt beim EuGH, Schlussanträge v. 19.10.2023 – C-352/22 – juris, wonach keine Bindungswirkung besteht, sondern unter Berücksichtigung der Grundrechtecharta sowie unter Berücksichtigung der Entscheidung des anderen Mitgliedsstaates als besonders gewichtigen Gesichtspunkt eine eigenständige aktualisierte Prüfung vorzunehmen ist).
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. November 2023 ist in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) und zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
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Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein(e) Betroffene(r) bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des (der) Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er (sie) tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der (die) Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – juris Rn. 23).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers (der Klägerin) fallenden Ereignissen, insbesondere seinen (ihren) persönlichen Erlebnissen, muss er (sie) eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger (oder eine Klägerin) hinsichtlich seiner (ihrer) eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
23
Nach Überzeugung des Gerichts besteht für die Klägerin aufgrund ihres Schicksals im Irak und ihrer persönlichen Situation sowie ihrer exilpolitischen Aktivitäten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die vielfältigen Aktivitäten der Klägerin über nahezu 20 Jahre als regimefeindlich angesehen werden. Die Klägerin gilt selbst als Regimegegnerin.
24
Der Klägerin ist es gelungen, die für ihre Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben der Klägerin ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks von der Klägerin, davon überzeugt, dass das Vorbringen der Klägerin sowohl zu ihrem Schicksal im Irak, insbesondere im Zusammenhang der Organisation des iranischen Kurdistan-Kampfes (kurz: Khabat) und den daraus resultierenden Folgen als auch zu ihren exilpolitischen Aktivitäten in Griechenland und in Deutschland glaubhaft ist. Für die Klägerin spricht nicht nur der – in sich stimmige – Inhalt ihrer Angaben, einschließlich der Erwähnung nebensächlicher Details, in der mündlichen Verhandlung, sondern vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in ihre Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit der Klägerin und für den wahren Inhalt ihrer Angaben. Das Vorbringen der Klägerin war nicht nur in sich konsistent, sondern auch hinreichend detailliert. Sie konnte auf Nachfrage auch Details ergänzen. Insgesamt bestätigt sich so der Eindruck, dass die Klägerin von einem tatsächlich persönlich erlebten jahrelangen Schicksal im Irak sowie anschließend in Griechenland und Deutschland verbunden mit vielfältigen und zahlreichen regimekritischen und exilpolitischen Aktivitäten durchgängig über viele Jahre hinweg berichtet hat.
25
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist bei der Klägerin wegen der von ihr vorgebrachten – vermeintlich bzw. tatsächlich – regimefeindlichen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
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Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn eine Person mit ihren oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin, welche auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. BayVGH, B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris Rn. 11 sowie VG Würzburg, U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn 25. ff.; U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 -juris Rn. 29 ff.; U.v. 23.10.2023 – W 8 K 23.30233 – juris Rn. 25 ff..; U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – UA S. 11 f.; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 ff; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 ff; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren.
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Nicht nur exponierten Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenken, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn. 26. f.; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 f.; U. v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 f.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
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Die vorstehend skizzierte Gefährdungslage gilt gerade bei Kurden, zumal wenn sie – wie hier die Klägerin – insbesondere in den Augen des iranischen Staates mit exilpolitischen Parteien bzw. Organisationen oder deren Medien in Verbindung stehen (vgl. jeweils Nachweise zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung ausführlich VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff., 39 sowie VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 juris Rn. 66 ff., auch zu älteren Erkenntnisquellen). Im Einzelfall müssen auch nicht radikale bzw. nicht exponierte Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien im Iran flüchtlingsrelevant mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen; für diese kann der Grad der Gefährdung höher sein als womöglich bei anderen Oppositionellen (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 39; vgl. auch BayVGH, B.v. 30.3.2023 – 14 ZB 23.30070 – juris Rn. 12 mit Blick auf OVG MV, B.v. 7.9.2022 – 4 LZ 235/22 OVG – unveröff., offengelassen; siehe zu Volksmujahedin/MEK etwa VG Köln, U.v. 24.7.2023 – 12 K 3711/20.A – juris Rn. 33 ff.; VG Karlsruhe, U.v. 15.5.2023 – A 19 K 10655/18 – juris Rn. 72 ff.; VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2177/20.A – juris Rn 42 ff.). Aus der Rechtsprechung des VG Würzburg zur AKPI (siehe VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris) folgt nichts anderes, weil letztlich auf den Einzelfall abzustellen ist (vgl. etwa auch VG Köln, U.v. 24.7.2023 – 12 K 3711/20.A – juris Rn. 33 und 37; VG Braunschweig, U.v. 05.06.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff.; VG Saarland, U.v. 28.7.2022 – juris Rn. 31 ff. zur Komalah; VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19 A – juris Rn. 11 f. zur DPKI; VG Bayreuth, U.v. 13.7.2022 – B 2 K 20.30315, 7993388 – juris, UA S. 12 f. zur DPKI).
29
Ergänzend ist anzumerken, dass auch die exilpolitische Organisation (Partei) der Klägerin namens Khabat zu den kurdischen Parteien gehört, die im iranischen Kurdistan aktiv sind, die ihre Hauptquartiere auf dem irakischen Territorium haben und im Iran rechtlich nicht anerkannt sind, so dass sie offiziell nicht aktiv werden dürfen. Mitglieder bleiben daher im Geheimen (vgl. Danish Immigration Service [DIS], Iranian Kurds, Februar 2020, S. 77 und 86; UK, Home Office, Country Policy and Information Note, Iran: Kurds and Kurdish Political Groups, Mai 2022, S. 30 f.; vgl. auch etwa Accord, Iran: Informationen zu den Parteien DPKI, KDP-I, Komala PIK, Komala KDP, Komalah – CPI, Komala CPI, WCPI, WP-Hekmatist, WPI-Hekmatist, Khad-Rasmi, vom 24.11.2022, S. 29). Personen in Kurdengebieten werden verdächtigt, Bindungen zur Komala und zu Khabat zu haben und werden von den Sicherheitsdiensten im Iran vorgeladen, wobei unmöglich zu sagen ist, wo die Reizschwelle der Regierung gegenüber kurdischen Aktivitäten liegt und es keine klare rote Linie und keine klare Logik gibt. Die Behörden üben Druck aus (vgl. Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Lage von Mitgliedern der Democratic Party of Kurdistan Iran, Verfolgung von Mitgliedern durch iranischer Behörden im Nordirak, 18. November 2013, S. 2).
30
In einer aktuellen Information berichtet das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich wie folgt über kurdische separatistische Gruppierungen einschließlich der ausdrücklich genannten Khabat (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation vom 26.1.2024, S. 21 ff.). Da kurdische Oppositionsparteien im Iran illegal sind, behandelt die iranische Regierung inmitten ihre Mitglieder und diejenigen, die sie tatsächlich oder aus der Sicht der Regierung unterstützen, einerseits härter als zivile Aktivisten in der kurdischen Region. Andererseits sieht die iranische Regierung grundsätzlich jede Art von politischen oder zivilem Aktivismus als potentielle Bedrohung an, so dass auch diese Aktivisten Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Auch einfache Tätigkeiten wie die Teilnahme an Protestmärschen oder Generalstreiks können zu Beschuldigungen führen, mit Oppositionsparteien zu kooperieren. Dabei wird nicht zwischen Parteimitgliedern und Unterstützern unterschieden und auch nicht zu unabhängigen Aktivisten. Die Verfolgung von Personen ist willkürlich und variiert von Fall zu Fall. Verurteilungen von Kurden erfolgen häufig im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen und auch das Strafmaß ist oftmals unverhältnismäßig hoch. Aktivitäten erfolgen dort unter Geheimhaltung. Gleichzeitig werden aber auch andere Organisationen unterstützt. Die kurdischen politischen Parteien führen Propagandaaktivitäten durch, um ein Bewusstsein für die Politik der iranischen Regierung zu schaffen und den Menschen zu ermutigen, durch verschiedene friedliche und lösungsorientierte Maßnahmen wie Demonstrationen, Generalstreiks und symbolische Handlungen, wie das Tragen kurdischer Kleidung zu besonderen Anlässen, gegen die Regierung zu protestieren. Der iranische Geheimdienst ist mit einem Netzwerk von Informanten verbunden, die die Aktivitäten der iranischen kurdischen Parteien gerade in der Kurdistan Region Irak (KRI) verfolgen und darüber berichten. Die Geheimdienste haben wahrscheinlich einen gewissen Überblick über die Mitglieder und Aktivitäten der Partei. Die Mitglieder der Parteien werden vom iranischen Geheimdienst kontaktiert und Drohungen und Druck ausgesetzt. Auch die Familien der Mitglieder im Iran werden häufig kontaktiert, um die den Parteien angehörenden Familienmitglieder zu überreden. Je höher die Position eines Parteimitglieds ist, desto größer ist der Druck auf die Familie im Iran. Als im September 2022 Proteste im Iran ausbrachen, konzentrierte sich die staatliche Propaganda darauf, die Demonstrationen, die zunächst in den kurdischen Gebieten Iraks ausbrachen, als Komplott der kurdischen Oppositionspartei in Exil jenseits der Grenze darzustellen. Die iranische Regierung hat Militärkräfte in die kurdischen Gebiete entsandt und mehrfach Stellungen der iranisch-kurdischen Oppositionsgruppen in der KRI mit Drohnen und Raketen angegriffen. Außerdem wurden Attentate auf iranisch-kurdische Oppositionelle in der Region Kurdistan verübt. Die Bedeutung der kurdisch-iranischen Oppositionsgruppen in der KRI wird dabei seitens des iranische Regimes übertrieben, vor allem, um das ungesetzliche gewaltsame Vorgehen gegen die Protestbewegung im eigenen Land zu rechtfertigen. Die exilpolitischen Organisationen einschließlich der Khabat gründeten ein Kooperationszentrum, das von Anfang an, an der Bewegung gegen das iranische Regime beteiligt war und zu Streiks und Demonstrationen aufgerufen hat.
31
Weiter führt das BFA (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation vom 26.1.2024, S. 177 f.) bezogen auf die Rückkehr aus der Kurdistan Region im Irak (KRI) aus, dass eine Person, die aus Europa in den Iran zurückkehrt, von der Behörden stärker verdächtigt wird, als jemand, der aus der KRI zurückkehrt. Für Rückkehrer ausgestellte Sicherheitsbriefe sind teilweise nicht eingehalten worden, insbesondere in dem Fall, in dem die betroffene Person des politischen Aktivismus beschuldigt wurde oder Mitglied einer kurdischen Partei war. In einigen Fällen wurden Personen vorgeladen, in anderen wurden die Rückkehrer verhaftet und über einen längeren Zeitraum inhaftiert. Eine ähnliche Ungewissheit gilt auch für andere Rückkehrer, denen eine Zusammenarbeit mit der kurdischen Opposition nachgesagt wird.
32
Die (Verfolgungs-)Situation im Iran stellt sich im Übrigen nach den vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar.
33
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (Mahsa „Dschina“ Amini) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
34
In einer neueren Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Schleswig-Holstein (Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023) ist weiter ausgeführt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Die Behörden können erkennen, wann der Iran bei legaler Ausreise verlassen worden ist und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat und ob der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Das Auswärtige Amt kann nicht ausschließen, dass sich die Befragungen angesichts der aktuellen Lage verstärkt auf Aktivitäten im Ausland beziehen, etwa auch auf die Teilnahme an Demonstrationen. Flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung werden jedoch nicht durchgeführt. Ein längerer Auslandsaufenthalt führt allein zu keinen Repressionen. Repressionen dürften abhängig vom Einzelfall sein, insbesondere von der Einschätzung der iranischen Behörden über die jeweiligen Aktivitäten im Ausland. Eine Asylantragstellung im Ausland genügt nicht. Wenn der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. In Betracht kommt auch eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise. Erschwerend wirkt, wenn weitere Umstände hinzutreten, etwa wenn eine Person flüchtig und zuvor untergetaucht gewesen ist. Regimekritische Aktivitäten und Äußerungen im Ausland, unter anderem in den sozialen Medien, können nach Rückkehr in den Iran zur strafrechtlicher Verfolgung und Repressionen führen. Bei Kontrolle der Nichteinhaltung von Bekleidungsvorschriften kommt im Iran eine Gesichtserkennungstechnologie zum Einsatz. Auch Warn-SMS wurden schonverschickt, z. B. im Straßenverkehr, an Ladeninhaber oder bei Aufenthalt an bestimmten Orten. Das iranische Rechtssystem ist von Willkür geprägt. Es ist Teil der Repressionsstrategie des Regimes, Unsicherheit dadurch zu schaffen, dass es keine klaren Regeln oder rote Linien gibt. Die Bevölkerung lebt so immer in Ungewissheit, welche Verhaltensweisen gegebenenfalls als Vorwand für ein Gerichtsverfahren oder andere Formen der Bestrafung, wie beispielsweise Erziehungsseminare, Geldbußen, vorübergehende Autobeschlagnahmen, Ausreisesperren, Passentzug, Hausarrest, Sperrung von Konten, Drohung mit und gegebenenfalls auch Anwendung von sexualisierter Gewalt und Ähnlichem, genutzt werden. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass der iranische Staat seine Staatsangehörigen auch im Ausland überwacht und damit auch Informationen über eine Mitgliedschaft in christlichen Kirchen und Aktivitäten sammelt. Dem Auswärtigen Amt liegen widersprüchliche Aussagen dazu vor, ob allein das Bekanntwerden des formalen Glaubensübertritts genügt, um im Iran staatliche Repressionen zu erfahren. Die Verfolgung von Angehörigen anderer Religionsformen hat auch unter der Regierung des jetzigen Präsidenten noch einmal deutlich zugenommen. Regimekritische Äußerungen und Aktivitäten – auch außerhalb Irans – können, je nach Einzelfall, bei Rückkehr strafrechtliche Verfolgung und Repressionen nach sich ziehen. Die konkreten Repressionen hängen davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Dem Auswärtigen Amt sind Fälle bekannt, in denen Aktivitäten im Ausland zur Verhaftung und Anklage wegen unterschiedlicher Delikte geführt haben. Personen, die aus der Sicht des Regimes besonders gefährlich für das System erscheinen, beispielsweise durch große Sichtbarkeit ihrer kritischen Äußerungen oder aufgrund realer oder perzipierter Umsturzabsichten, können sogar im Ausland entführt und ermordet werden. Repressionsmaßnahmen hängen davon ab, wie das Regime die Äußerungen/Aktivitäten im Einzelfall einschätzt. Das Vorgehen der Behörden ist häufig willkürlich.
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Nach den aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger, etwa im räumlichen Umfeld von Demonstrationen. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 19.2.2024, unverändert gültig ab 15.1.2024).
36
Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste ab September 2022 bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de, Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
37
Weiter bis in den Dezember 2022 hinein zogen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Die iranische Regierung kennt ausdrücklich keine Gnade. Sie sieht Feinde des Iran und deren Verbündete im Inland hinter den Protesten. Als Feinde begreift die iranische Führung die USA und Israel aber auch Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Des Weiteren gibt es schwere Vorwürfe gegen Sicherheitskräfte im Iran, bewusst sexualisierte Gewalt gegen Demonstrantinnen einzusetzen bis hin zur Vergewaltigung. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert. (vgl. etwa Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022; FR, Keine Gnade im Iran vom 28.12.2022; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie Demonstrantinnen? vom 25.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023; Amnesty International, Report 2022, Länderbericht „Iran“, vom 28.3.2023).
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Die Protestaktionen und Repressionen gingen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; taz, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 9.1.2023 bis 27.2.2023).
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Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, vom 23.2.2023).
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Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von Mahsa Jina Amini, einer Kurdin, beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen. Weiße Foltermethoden werden eingesetzt; „weiße Folter“, also „saubere“ Methoden, weil die Methoden vorrangig die Psyche einer Person zermürben und keine physischen Spuren hinterlassen. Zudem sind unter den Protestierenden sehr viele Kurden, sodass die iranische Regierung umso mehr mit exzessiver Gewalt gegen diese vorgeht, zumal auch des Slogan „Jin Jiyan Azadi“ – Frau Leben Freiheit – aus dem Kurdischen kommt. Die Brutalität des iranischen Staates in seiner ganzen Bandbreite trifft selbst Kinder und Jugendliche (FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty Journal, Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 13.3.2023 und 20.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu, vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
41
In der Folgezeit kam es zu weiteren regimefeindlichen Protesten und auch entsprechenden Repressionen des islamischen Staates, etwa zum Neujahrsfest Mitte März 2023. Auch Minderjährige waren physischer, psychischer und selbst auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurden und Kurdinnen. Deshalb gehen die Sicherheitskräfte – besonders in kurdischen Gebieten – hart gegen Protestierende vor und wenden exzessive Gewalt an. Auch weitere Foltermethoden werden angesetzt, bei denen es vorrangig darum geht, die Psyche einer Person zu zermürben, ohne dass diese Methoden physische Spuren hinterlassen. Ankündigungen zur Abschaffung der Sittenpolizei haben sich als falsch erwiesen. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften für Frauen werden auf verschiedene Weise geahndet, etwa Ermahnung und Schläge, Teilnahme an Moralunterricht und Geldstrafen bis zur Inhaftierung und Strafverfahren, auch sexualisierte Gewalt gegenüber Gefangenen. Wenn auch im geringen Umfang sind immer noch Demonstranten auf den Straßen Irans zu sehen; ebenso Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften. In sozialen Netzwerken sind die Protestaktivitäten allgegenwärtig. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften werden wieder strenger kontrolliert. Die iranischen Behörden verstärken die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen. Behörden verbannen Frauen ohne Kopftücher aus Hochschulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, verwehren ihnen den Zugang zu Finanzdienstleistungen und schließen Unternehmen, die die Kopftuchpflicht nicht umsetzen. Durch Massenüberwachungstechnologien werden unverschleierte Frauen in ihren Autos und in Fußgängerzonen identifiziert. Im April 2023 wurden etwa mehr als eine Million Frauen, die ohne Kopftuch am Steuer gefilmt worden sind, per Textnachrichten davor gewarnt, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt würden. Frauen wurden von Universitäten suspendiert oder von Abschlussprüfungen ausgeschlossen. Ein neues geplantes Gesetz sieht härtere Haftstrafen vor. Hinzu können Ausreiseverbote, Beschlagnahme von Pässen, Entzug von Bürgerrechten kommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Todes von Mahsa Amini im September 2023 kommt es verstärkt zu Verhaftungen und repressiven Maßnahmen. Familien Getöteter werden schikaniert, etwa willkürlich festgenommen, inhaftiert, Grabsteine zerstört. Die Straßenproteste im Iran haben zwar mittlerweile nachgelassen, jedoch ist die Opposition gleichwohl noch aktiv, etwa in den sozialen Medien. Zudem gehört ziviler Ungehorsam, Missachtung der Gesetze zum Alltag, ebenso die Repressionen der Behörden. Am 20. September 2023 ist ein Gesetzentwurf zu Hijab- und Keuschheitsregeln mehrheitlich vom Parlament angenommen worden. Das Parlament ist seitens des Wächterrats, der das Gesetz ratifizieren muss, zur Nachbesserung aufgefordert worden. Der Gesetzentwurf sieht erweiterte Strafen bei Verstößen gegen islamische Vorschriften vor, die von zwischenzeitlichen Festnahmen über Geldstrafen und den Entzug von Bürgerrechten bis hin zu Haftstrafen reichen können. Als Verstoß gelten demnach die Verbreitung und die Förderung von Nacktheit, Unsittlichkeit, Hijab-Verletzungen oder unangemessene Kleidung in der Öffentlichkeit, in sozialen oder in ausländischen Medien. Zudem soll eine umfassende Geschlechtertrennung durchgesetzt werden. Eine Erweiterung der Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden für die Überwachung und Durchsetzung der Kleiderordnung ist ebenfalls vorgesehen. Im Übrigen hat Iran auch zuletzt wieder seine Repressionen verschärft und nutzt gerade auch den Krieg im Gaza-Streifen, um im eigenen Land hart durchzugreifen. Die staatliche Repressionswelle nach dem Tod hält bis heute an. Es gab im Jahr 2023 mehr als 800 Hinrichtungen, um gerade auch den Frauen, die ihr Kopftuch abnahmen, und ihren Unterstützern Angst zu machen. Bei der Niederschlagung der Proteste wurden, unabhängig von den Hinrichtungen mehr als 500 Menschen getötet (vgl. im Einzelnen die im Regelfall wöchentlich erscheinenden Briefing Notes des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27.3.2023 bis zum 18.12.2024 sowie etwa taz, Der Nutznießer des Krieges sitzt im Iran, vom 25.10.2023; NZZ, Iran verschärft die Repression, vom 25.10.2023; Amnesty International, Journal, Iran, Viel Glut unter der Asche, vom 4.9.2023; Amnesty International, Aktuell, Iran: Familien der Getöteten müssen am Jahrestag der Proteste in Frieden trauern dürfen, vom 21.8.2023; Amnesty International, Iran: Zunehmende Unterdrückung von Frauen und Mädchen durch Sittenpolizei und Massenüberwachung vom 26.7.2023; NZZ, Was als Protest gegen den Tod einer jungen Iranerin begann, ist zur dauerhaften Herausforderung für das Regime geworden, vom 11.6.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zum Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der islamischen Republik, Entscheiderbrief 5/2023 S. 4 ff.; Amnesty International, Auskunft an das OVG SH vom 20.4.2023; FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty International, Journal Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; vgl. zum Ganzen auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023 und vom 26.1.2024; HRW, Bericht Iran, Ereignisse des Jahres 2023, vom 11.1.2024).
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Auch im Jahr 2024 werden Strafverfahren eingeleitet und Strafen verhängt, wenn Personen ohne die obligatorische Verschleierung auftreten, an Protesten teilnehmen oder über Frauen berichten. Des Weiteren ist anzumerken, dass aktuell, seit Beginn des Jahres 2024 ca. 71 Todesurteile in iranischen Gefängnissen vollstreckt worden sein sollen. Am 29. Januar 2024 trafen die vollstreckten Urteile gerade vier kurdische Gefangene. Nach weiteren Angaben sollen im Jahr 2023 zwischen 791 oder 834 Todesurteile vollstreckt worden seien. Die iranische Propaganda lenkt zudem mit Hinweis auf die Ereignisse in Israel und im Zusammenhang mit den Palästinensern von den eigenen Repressionen ab (vgl. taz, Haft und Peitschenhiebe, 19.2.2024; Iranische Ablenkungsmanöver, 12.2.2024; In den Iran darf wieder abgeschoben werden, 3.1.2024; BAMF, Briefing Notes, insbesondere vom 5.2.2024 und 29.1.2024 sowie wöchentlich ab 8.1.2024 bis 19.2.2024).
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Darüber hinaus erfolgen gegen Kinder von regierungskritischen Eltern in unterschiedlichen Ausmaß diverse Repressionen, von Benachteiligungen über Bedrohungen bis hin zu Inhaftierungen und Verhaftungen. Bedrohungen von Familien sind für die Regimebehörden ein Mittel, um die extraterritoriale Repression zu verschärfen. Diese Art der stellvertretenden Bestrafungen wird in erster Linie eingesetzt, um öffentliche und publikumswirksame Aktivitäten der regierungskritischen Betroffenen im Ausland einzuschränken und zu bestrafen. Familien ins Visier zu nehmen, ist dabei eines der wirksamsten Mittel, um Dissidenten im Ausland einzuschränken und zum Schweigen zu bringen (SFH, Iran: Kinder von regierungskritischen Eltern, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 6.11.2023, S. 7 ff.).
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Hinzu kommt des Weiteren, dass die iranische Regierung seit Jahren die sozialen Medien überwacht, um Regimegegner zu identifizieren. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien reagieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verhindern, stören und überwachen können, wie z.B. die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen hacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat. Die iranischen Behörden sind dabei in der Lage, sich auch ohne physischen Zugriff auf Geräte in Smartphones zu hacken und private Kommunikationen wie auch Kommunikationspartner in den sozialen Medien zu überwachen. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus. Auch die gerade in Europa lebenden Iraner werden unter genauer Beobachtung gehalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 12, 33, 49 f.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Iran, Ahwazi-Aktivisten und -organisationen, Behandlung durch iranische Behörden, vom 10.3.2023, S. 24 f.; Kurzinformation der Staatendokumentation, Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023, S. 2 f.; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivitäten im Ausland, exilpolitische Aktivitäten, Konversion, vom 5.7.2019).
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Denn da ein erheblicher Anteil regimekritischer Debatten im virtuellen Raum und über die sozialen Medien stattfindet, überwacht das iranische Regime entsprechend das Internet und den mobilen Datenweg. Netzaktivitäten besonders engagierter Personen, die Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben können, können in den Blickfang staatlicher Kontrollen geraten. Staatliche Maßnahmen werden seit Jahren vorangetrieben, um regimefeindliche Aktivitäten zu identifizieren und gegen diese vorzugehen. Da das Hauptaugenmerk des Sicherheitsapparates auf dem Schutz des islamischen Regimes liegt, sollen jegliche Aktivitäten identifiziert werden, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben können. Im Fokus der Überwachung können Online- und Social-Media-Aktivitäten von Personen, Gruppen und Medien stehen, die das politische und religiöse Gefüge anfeinden und in Frage stellen. Besonders gefährdet sind insbesondere diejenigen mit einer hohen Reichweite und Vernetzung (etwa auch aufgrund ihrer Profession, Kontakte, Bekanntheit) sowie mit entsprechend anzunehmendem Einfluss auf die Öffentlichkeit, darunter auch Iranerinnen und Iraner im Ausland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Informationszentrum Asyl und Migration, Länderanalysen Kurzinformation Iran, Netzaktivitäten – Netzüberwachung, Juli 2023).
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Die dargelegte Situation hat erhebliche Auswirkung auf die Beurteilung der Gefährdung von Rückkehrern in den Iran.
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Das BFA (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation vom 26.1.2024, S. 172 ff.) führt dazu unter Heranziehung diverser Quellen aktuell aus: Gerade die Protestwelle ab September 2022 hat Auswirkungen auf Exil-Iraner und die Behandlung von Aktivisten bei einer Rückkehr. Die Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen und Einzelpersonen stellt im Inland wie auch bei im europäischen Ausland den Schwerpunkt iranischer nachrichtendienstlicher Aktivitäten dar. Die Aktivitäten umfassen dabei unter anderem Ermordungen, Entführungen, Einschüchterungen im digitalen Raum und den Einsatz von Spürnasen-Software. Die iranischen Nachrichtendienste bemühen sich aktiv um die Anwerbung von Informanten innerhalb der Oppositionsgruppen. Dabei ist es den Behörden gelungen diese Oppositionsgruppen auch im Exil zu unterwandern. Auch Auslandsstudenten und -studentinnen, die versuchen ein Bleiberecht im Ausland zu erhalten, in dem sie zum Christentum konvertieren oder sich Oppositionsgruppen anschließen, machen sich dadurch verwundbar und werden entsprechend von den iranischen Behörden unter Druck gesetzt, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Für politisch aktive Personen besteht bei einer Rückkehr ein größeres Risiko. Personen, die politisch sehr aktiv oder bekannt sind, können nicht in den Iran zurückkehren. Einfache Bürger haben möglicherweise keine Probleme. Dies ist alles sehr einzelfallabhängig. Personen, die im Ausland aktiv waren und anonym geblieben sind, können zurückkehren. Auch Bildmaterial von Demonstrationsteilnehmern wird gesammelt, wobei lediglich die Teilnahme an Demonstrationen im Ausland für sich nicht als hochrangiges Ziel betrachtet wird. Organisatoren von Protesten werden jedoch auf Probleme stoßen. Die iranische Diaspora im Ausland wird seit Ausbruch Mitte September 2022 deutlicher und offener bewacht. Die iranischen Behörden verwenden nach eigenen Angaben auch Gesichtserkennungstechnologie. Auch die Online-Überwachung hat sich seit September 2022 verstärkt. Die Behörden überwachen Aktivisten im Exil, haben aber nicht die Kapazitäten, alle von ihnen zu überwachen. Sie setzen Prioritäten. Gefahrerhöhend ist der Einfluss, den eine Person hat, ob diese für das Regime Priorität hat. Ausschlaggebend sind dabei zwei Faktoren, zum einen der Zugang zu öffentlicher Aufmerksamkeit und Verbindungen zum Heimatland. Als einflussreich gilt beispielsweise, wer in Fernsehsendern wie Iran International oder Voice of America (VoA) zu sehen ist. Die Anzahl der Follower kann ein Richtwert sein. Im Zentrum steht aber die Frage, ob es einer Person gelingt, mit ihren Beiträgen den Kurs mitzuprägen. Vor allem haben es iranische Behörden bei der Überwachung auf Führungspersönlichkeiten und Organisatoren abgesehen. Auch wenn es keine klaren Kriterien gibt, laufen Familienmitglieder von politischen Aktivisten und Aktivistinnen wie auch von Mitgliedern kurdischer Oppositionsparteien mit Stützpunkt im Nordirak Gefahr, von den Behörden ins Visier genommen zu werden. Probleme entstehen auch, wenn Personen aus ihrem Umfeld den Behörden gemeldet werden.
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Bei einer Rückreise ist es – nach weiteren Erkenntnisquellen – praktisch unmöglich den Sicherheitsverfahren am internationalen Flughafen in Teheran zu entgehen. Es gibt Beobachtungs- und Überwachungslisten. Wer mit Laissez-Passer und unter Zwang zurückkehrt, muss damit rechnen, am Flughafen verhört zu werden. Mobiltelefone und Konten in sozialen Medien können überprüft werden. Auch freiwillig mit gültigen Pässen Zurückkehrende können ähnlichen Kontrollen und Reaktionen ausgesetzt sein. Repressalien, gerade gegen Teilnehmer an Demonstrationen im Ausland, können nicht ausgeschlossen werden. Ein langer Auslandsaufenthalt erhöht das Risiko einer Befragung bei der Rückkehr. Auch soziale Medien und die Kommunikation und Mails werden überwacht und überprüft. Regierungskritische Mitglieder der iranischen Diaspora in Deutschland werden identifiziert und müssen bei einer Rückkehr mit erheblichen Konsequenzen rechnen. Es ist davon auszugehen, dass die iranischen Sicherheitsbehörden Informationen über Teilnehmer an Demonstrationen im Ausland abrufen können, ebenso auch Informationen über Aktivitäten in sozialen Medien. Ein Iraner oder eine Iranerin, die im Ausland an Straßenprotesten teilgenommen hat, wird nicht unbedingt sofort verhaftet, aber die Reaktion wird dann davon abhängen, wer die rückkehrende Person ist und was sie getan hat. Organisierende von Protesten werden auf Probleme stoßen. Im Iran bestehen strenge Gesetze und Vorschriften über politische und soziale Aktivitäten, einschließlich kritischer Äußerungen in sozialen Medien und der Teilnahme an Demonstrationen, insbesondere, wenn diese regierungskritisch sind. Teilweise sind harte Strafen möglich. Die Konsequenzen können nach den persönlichen individuellen Umständen variieren. Zusätzliche Risikofaktoren sind Netzwerke, die in den Iran hineinwirken und Wirksamkeit beim iranischen Publikum auslösen. Gefahrerhöhend sind auch Äußerungen in persischer Sprache sowie öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Angehörige von Minderheiten, bei denen der Vorwurf im Raum steht, dass sie Separatismus unterstützen, sind ebenfalls erhöht gefährdet, etwa auch kurdischen Minderheiten. Da viele bei ihren Aktivitäten im Ausland ihre Identität nicht verbergen, ist ihre Identifikation einfach. Der iranische Geheimdienst hat ein Interesse daran die Teilnehmenden der großen Solidaritätsdemonstrationen in Berlin zu identifizieren. Dabei hilft ihm, dass sich die Beteiligten gegenseitig fotografieren und die Bilder im sozialen Netzwerk verbreiten. Er überwacht die sozialen Medien. Der Gefahr von Cyber-Attacken ausgesetzt sind insbesondere Aktivisten mit hohem Profil. Auch die Reichweite des Betreffenden ist relevant und die Frage, ob diese Person einen Trend oder eine Debatte auslösen kann. Neben der Reichweite und der Anführung einer Gruppe kann auch die Verbindung oder die Kommunikation zu einer Gruppe ein Faktor sein. Rote Linien der Inhalte können sich jederzeit ändern. Die willkürliche Machtausübung ist ein inhärentes Merkmal der autoritären Herrschaft und fördert Angst und Selbstzensur. Die Quantität der Kritik ist weniger relevant als der Einfluss der betroffenen Person. Iranische Behörden gehen zum Teil unvorhersehbar vor. Auch eine unbekannte Person kann nach der Rückkehr verhaftet werden. Das Vorgehen ist gerade nicht logisch. Informanten im Ausland würden teilweise freiwillig, teilweise aber unter Zwang rekrutiert. Die Überwachung wurde seit Ausbruch der Proteste im Jahr 2022 deutlicher, offener und intensiver. Ort, Größe und Aufmerksamkeit einer Demonstration können eine Rolle spielen. Demonstrierende werden auch von Geheimdienstmitarbeitern gefilmt und fotografiert (vgl. ausführlich SFH, Iran: Konsequenzen regierungskritische Aktivitäten im Ausland bei der Rückkehr, 26.11.2023; Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023; Überwachung der Diaspora, 24.11.2023; Überwachung von Demonstrationen im Ausland, 24.11.2023; vgl. auch Auswärtiges Auskunft, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023; Bundesministerium des Innern und für Heimat, Verfassungsschutzbericht 2022, S. 296 und 314).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die landesweiten Unruhen, Proteste und sonstigen Aktivitäten im Iran seit September 2022 sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr aus dem (westlichen) Ausland in den Iran gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Gleichwohl ist nach der Erkenntnislage gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass jeder Iraner bzw. jede Iranerin, die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen. Konkret bleibt weiter im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner Aktivitäten im Iran bzw. seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner erkannt und identifiziert wird und im Falle einer Rückkehr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr gerät. Angesichts der Massenproteste in und außerhalb Iran und auch in Deutschland (auch im Internet) innerhalb des letzten eineinhalb Jahre ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss (VG Würzburg, U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn. 42 f.; U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – juris Rn. 45; U.v. 20.3.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 37 m.w.N. sowie etwa VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 39).
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Denn im Iran ist trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage gleichwohl gesamtbetrachtend davon auszugehen, dass nicht jede(r) Iraner bzw. Iranerin, der/die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen und zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner qualifiziert und identifiziert wird. Angesichts der Massenproteste von September 2022 bis heute im Iran und in anderen Staaten, auch in Deutschland, ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jede(r) Teilnehmer(in) unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss. Aufgrund der Masse an regimekritischen Aktionen in Deutschland und andernorts sowie der Anzahl der Teilnehmenden an diesen Aktionen einschließlich der damit verbundenen Masse an Veröffentlichungen auch in sozialen Medien und der begrenzten Kapazitäten der iranischen Behörden hat das Gericht – nach den vorliegenden Erkenntnissen – keine Anhaltspunkte, dass gleichsam jede(r) Teilnehmer(in) ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr verfolgt würde. Bedeutung für eine relevante Verfolgungsgefahr im Einzelfall kann einer Gesamtschau, insbesondere vom Ausmaß der Aktivitäten vor der Ausreise sowie Umfang, Inhalt, Ausmaß der Tätigkeiten im Ausland und dem zu erwartenden Grad der Aktivitäten bei einer Rückkehr in den Iran, zukommen. Relevant sind dabei zum Beispiel auch die Intensität der Aktivitäten in Deutschland, die Verbindung zu einer im Iran verbotenen oppositionellen Partei, die Erkennbarkeit nach außen, die Identifizierbarkeit der Person bei ihren Aktivitäten und neben der Qualität auch die Quantität der Aktivitäten, um letztlich auf ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsinteresse des iranischen Staates schließen zu können. Denn maßgeblich für die Frage, ob ein(e) Iraner(in) bei einer Rückkehr in den Iran mit Verfolgung rechnen müsste, ist, ob diese(r) sich in Deutschland ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt hat und ob gerade diese Betätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck seiner (ihrer) regimekritischen Haltung für die Identität insofern so wichtig ist, dass er (sie) auch bei einer Rückkehr in den Iran den Drang verspüren würde, sich an regimekritischen Protesten zu beteiligen. Umgekehrt ist der Schluss gerechtfertigt, dass der (die) Betreffende bei der Rückkehr in den Iran sich auch dort nicht aktiv an oppositionellen Tätigkeiten beteiligten würde, wenn er (sie) sich selbst schon in Deutschland bei den sich ihm (ihr) gefahrlos bietenden Möglichkeiten und Freiheiten nur sehr rudimentär an regimekritischen Protesten sowohl tatsächlich als auch online beteiligt und auch sonst nicht das Verfolgungsinteresse des iranischen Staates weckt, so dass keine Verfolgungsgefahr anzunehmen ist (vgl. m.w.N VG Würzburg, U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn. 42 f.; ebenso etwa zuletzt VG Köln, U.v. 21.7.2023 – 12 K 319/20.A – juris Rn. 22 ff.; VG Hamburg, U.v. 20.7.2023 – 10 A 4016/21 – juris Rn. 27; BayVGH B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff., 39 ff.; VG Meiningen, U.v. 28.8.2023 – 5 K 1269/21 Me, 7676319 – juris, UA S. 11 f.; U.v. 6.3.2023 – 5 K 1368/22 Me, 9331572 – juris S. 9 f. und 11 f.; VG Gießen, U.v. 28.4.2023 – 3 K 2214/19.GI.A – juris Rn. 30; VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2279/20.A – juris Rn. 49 ff., 59 f. U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff.; VG Berlin, U.v. 17.1.2023 – VG 17 K 4/23 A – juris UA S. 7).
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Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss die Klägerin nach den Umständen ihres Einzelfalles, die sie glaubhaft dargelegt hat, als Kurdin aus einer von den iranischen Behörden als regimefeindlich eingestuften Familie aufgrund ihrer langjährigen exilpolitischen Aktivitäten für die verbotene kurdische oppositionelle Partei Khabat bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
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Die Klägerin hat geschildert, dass sie schon als Kleinkind mit ihrem Vater und wegen ihres Vaters aufgrund dessen oppositioneller parteipolitischer Aktivitäten habe aus Iran fliehen müssen und im Irak, dort in der kurdischen Region eingebettet in den parteipolitischen Strukturen ihrer Khabat-Organisation aufgewachsen ist und entsprechend sozialisiert wurde. Sie hat in der irakischen Kurdenregion die Schule besucht und schon in Mädchen- und Jugendjahren an parteipolitischen Veranstaltungen teilgenommen. Sie wurde zwangsläufig parteipolitisch geprägt, gerade mit ihrem Anliegen, für die kurdische Sache einzutreten. Sie war schon in der Jugend- und Frauenorganisation im Irak aktiv tätig. In der mündlichen Verhandlung schilderte die Klägerin, dass sie zusammen mit ihren Schwestern an diversen Aktivitäten von Khabat teilgenommen habe. Sie hätten an allen Veranstaltungen der Jugendorganisation teilgenommen, sei es auch nur im Chor oder sei es die Mitarbeit bei der Fertigung der oppositionellen Zeitung ihrer Organisation, indem sie diese zusammenfalteten und verpackten. Weiter sei sie im Kindesalter als Blumenträgerin aktiv gewesen. Die Aktivitäten seien auch auf der Homepage ihrer Organisation eingestellt worden. Sie habe an verschiedenen Zeremonien ihrer Partei im Irak teilgenommen, an Gedenktagen und Jahrestagen.
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Die Klägerin hat dann nach der Ausreise zusammen mit ihrer Familie nach Griechenland dort ihre Aktivitäten, mittlerweile als Jugendliche und bald als Erwachsene, fortgesetzt. Die Klägerin hat sich von 2016 bis 2019 zusammen mit ihrer Familie in Griechenland aufgehalten. Dort habe sie im Juni 2017 am Peschmerga-Tag teilgenommen und eine Rede auf Kurdisch gehalten. Die Rede sei an die Peschmerga der kurdischen Partei gerichtet gewesen. Die Botschaft habe gelautet, dass die Zusammenarbeit zwischen den Parteien Khabat und Komala fortgesetzt werden solle. Sie habe weiter an Zeremonien von anderen, ebenfalls exilpolitischen kurdischen Exil-Parteien teilgenommen. Die Klägerin sei dabei auch immer mit den Zeichen ihrer Partei bzw. der verbundenen Komala-Partei (Fahne) zu sehen gewesen, wie sie durch Lichtbilder belegt.
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Die Klägerin sei schließlich 2019 zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland gereist. Sie sei mittlerweile Mitglied der Partei, wie diese auch bestätigt hat. Sie habe Online (gerade in der Zeit der Corona-Pandemie) an verschiedenen Konferenzen teilgenommen. Weiter habe sie sich an verschiedenen, auch parteipolitisch geprägten Demonstration beteiligt. Im Einzelnen kann auf die in den Schriftsätzen vom 5. Februar 2024 sowie 13. Februar 2024 aufgelisteten Aktivitäten und auf die dazu beigelegten Fotos und sonstige Dokumente Bezug genommen werden sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, in dem die Klägerin die zahlreichen Aktivitäten abermals konkret geschildert hat.
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Gefahrerhöhend kommt darüber hinaus für die Klägerin zu ihren parteipolitischen Aktivitäten hinzu, dass sie diese auch erweitert hat, indem sie sich seit September 2022 der Bewegung „Frau Leben Freiheit“ angeschlossen und diese unterstützt hat, auch in Verknüpfung mit ihren parteipolitischen Aktivitäten. Sie hat sich insoweit mit dem Anliegen der Frauen im Iran solidarisiert. Ihre exilpolitischen Aktivitäten beziehen sich damit einerseits auf ihre parteipolitischen Anliegen und andererseits auf die aktuellen Vorkommnisse im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte dagegen, das sich seinerseits besonders gegen Kurdinnen und Kurden richtet. So verwies die Klägerin auf wiederholte Teilnahme an Protesten bzw. Demonstrationen in Berlin, Frankfurt und Aschaffenburg.
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Nicht zuletzt die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht bloß exponierten Oppositionellen bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade aus dem Ausland, gerade aus Deutschland, kommende Iraner damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die schon vorher in den Fokus des iranischen Staates geraten sein können oder die sich während ihres Auslandsaufenthaltes regimekritisch öffentlichkeitswirksam betätigt haben, so wie die Klägerin über Jahrzehnte im Zusammenhang mit Parteiveranstaltungen, Demonstrationen sowie in den sozialen Medien. Hinzu kommt der Umstand, dass die Klägerin Kurdin ist und eine politisch motivierte Verfolgung ihres Vaters vor der Ausreise der Familie unmittelbar bevorstand, wobei die Aktivitäten des Vaters sowie auch die ganzen Aktivitäten der Familie auch aus der Sicht des iranischen Staates im Zusammenhang mit einer verbotenen kurdischen Oppositionspartei Khabat stehen. Als weiterer verfolgungsrelevanter erschwerender Umstand ist zu werten, dass die Klägerin das Land illegal verlassen hat (siehe Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023, S. 4 f. und 6 f.).
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Die Klägerin hat, wie bereits erwähnt, im Klageverfahren auch unter Vorlage diverser Unterlagen langjährige und langanhaltende exilpolitische Aktivitäten dargelegt und erläutert. Sie hat auch glaubhaft gemacht, warum sie, abgesehen davon, dass sie in einer kurdischen oppositionellen Familie hineingeboren worden ist, in einer als Regimegegner aufgefassten Partei hineingewachsen und von klein auf durch ihr Umfeld regimefeindlich sozialisiert worden ist, wie und warum sie sich auch mit ihrer politischen Ansicht ihrer kurdischen Partei verbunden fühlt. Sie gab ebenso, wie ihre Schwester, als für sich wichtig an: Erstes Ziel der Partei sei die Freiheit und Demokratie im Iran. Das zweite Ziel sei die Autonomie für Kurdistan, wobei alle vier Teile in den verschiedenen Staaten von Kurdistan unabhängig sein sollten. Weiter sei für sie als Drittes wichtig, dass die verschiedenen Ethnien autonom seien sollten und als Viertes sollte die kurdische Sprache im Iran als eigenständige Sprache akzeptiert und vom iranischen Staat anerkannt werden. Auch wenn Khabat in Vergleich zu anderen Parteien, die Kleinere sei, strebten – laut Klägerin – doch alle kurdischen Parteien gleichsam für die gleichen Ziele und zwar Freiheit und Unabhängigkeit von Kurdistan. Auch ihre Partei habe eine gewisse Anzahl von Peschmerga (wie ehedem ihr Vater), die auch bewaffnet seien und sich an der Grenze vom Irak zum Iran befänden. Alle Mitglieder der Khabat würden vom iranischen Staat verfolgt.
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Die Klägerin gab ebenso wie ihre Schwester weiter an, dass sie sich auch daran beteiligt hätten, selbst regimefeindliche Texte zu verfassen, die dann auch öffentlich verlesen worden seien. Sie hätten diese Texte, die Gegenstand ihrer politischen Botschaft gewesen seien, entworfen und einem Führer der Partei vorgelegt, der diese gegengelesen habe und mit oder ohne Veränderungen übernommen habe. Sie sei bei einer Demonstration am Brandenburger Tor, zusammen mit den Volksmudjahedin gewesen, die bekanntlich, seitens des iranischen Staates, streng verfolgt würden. Es sei auch ein Bericht im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) erschienen, das einen Videobeitrag gesendet hat. Bei dem Screenshot, betreffend diesen Beitrag, sei die Klägerin zusammen mit ihrer Schwester abgebildet.
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Die Klägerin sei ebenso wie ihre Schwester weiterhin auf einem Videoclip der Frauenorganisation zu sehen. Des Weiteren habe sie zusammen mit ihrer Schwester etwa einen Bericht und Fotos zu der Demonstration am 23. Dezember 2023 gefertigt und dies ihrer Organisation geschickt, die diese geprüft und auf ihrer Webseite veröffentlicht habe. Die Klägerin und ihre Schwester hätten den Text zusammen verfasst und hingeschickt. Er sei dort Korrektur gelesen und veröffentlicht worden. Sie, die Klägerin, habe den Text auch übersetzt. Die Klägerin und ihre Schwester seien auf dem Foto zu sehen und auch namentlich genannt. Die Klägerin habe auch ein sechsminütiges Video aus der Zeit in Griechenland von 2018, das sie verfasst habe und das dann auch später auf der Seite von Khabat veröffentlicht worden sei.
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Des Weiteren berichtete die Klägerin, dass nicht nur ihre in Finnland lebende Tante bei ihren Reisen in den Iran wiederholt am Flughafen in Teheran aufgehalten und teilweise auch inhaftiert worden sei und immer auch nach der klägerischen Familie und besonders nach ihrem Vater gefragt worden sei. Vielmehr wurden der noch im Iran lebende Bruder des Vaters, also ein Onkel, sowie Cousins von ihnen wegen ihres regimekritischen Verhaltens im Iran verhaftet, zeitweise inhaftiert und teilweise verurteilt. Teilweise stünden die Urteile noch aus. Im Übrigen sei wiederholt seitens der iranischen Behörden bei ihren Verwandten im Iran nach ihnen gefragt worden, insbesondere nach dem Vater der Klägerin.
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Der in der mündlichen Verhandlung anwesende und als Beistand beigezogene Funktionär ihrer Partei erklärte schließlich ergänzend: Die Klägerin und ihre Schwester seien noch klein gewesen, als sie vom Iran in den Irak gekommen seien. Ihr Vater sei Peschmerga gewesen. Die Klägerin und ihre Schwester hätten sich von Anfang an von klein auf politisch betätigt und seien aktiv gewesen. Wiederholt hätten die beiden Schwestern mit Personenschutz in die Schule gebracht werden müssen. Sie hätten sich schon als kleine Jugendliche in der Jugendorganisation eingebracht und seien aktiv gewesen, aber auch später dann in der Frauenorganisation. Jetzt als Erwachsene seien sie Mitglieder der Khabat-Organisation und beteiligten sich an Veranstaltungen dieser Organisation. Die Klägerin und ihre Schwester würden ohne Zweifel mit 100-prozentiger Sicherheit im Iran verfolgt. Rückkehrer, die politisch aktiv gewesen seien, würden belangt und im Iran eventuell sogar getötet. Die Klägerin und ihre Schwester hätten sich seit 20 Jahren für die politische Sache engagiert. In Berlin seien auch sehr viele Volksmudjahedin anwesend gewesen. Es sei bekannt, dass deren Mitglieder verfolgt würden.
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Darüber hinaus hat die Klägerin vorgebracht, auch in sozialen Medien aktiv zu sein. Sie habe 250 Follower. Der Account habe sie schon in Griechenland gehabt. Sie habe etwa, das schon erwähnte sechsminütige Video, das sie verfasst habe, auf ihrem Facebook-Account veröffentlicht.
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Nach alledem bestehen nach Überzeugung des Gerichts keine Zweifel, dass die Klägerin zum einen aufgrund ihres langjährigen oppositionellen und regimefeindlichen Engagements aus (partei-)politischen Gründen in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran ernsthafte Repressalien unmittelbar drohen, weil sie aus Sicht der iranischen Behörden als Regimegegnerin eingestuft wird, gerade auch wegen ihrer vielfältigen und jahrelangen exilpolitischen Aktivitäten und ihrer Verbindungen zur oppositionellen Kurdenpartei Khabat, deren Mitglied sie ist.
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Insoweit ist anzumerken, dass – wie auch den oben zitierten Auskünften und Erkenntnissen zur Verfolgung von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern zu entnehmen ist – nicht darauf abzustellen ist, dass der/die Betreffende tatsächlich bei einer oppositionellen Institution beteiligt war oder sich selbst als Regimegegner einstuft, sondern vielmehr darauf, was die iranischen Sicherheitskräfte annehmen und ob bei diesen aus ihrer Sicht ein mögliches Verfolgungsinteresse wegen des befürchteten Hineinwirkens des/der Betreffenden in den Iran besteht. Letzteres ist bei der Klägerin zum einen aufgrund ihrer Lebensgeschichte und ihrer Prägung als Teil einer oppositionellen kurdischen Familie, die in enger Verbindung mit der separatistischen Partei Khabat steht, zu bejahen. Hinzu kommen die langjährigen oppositionellen parteipolitischen Aktivitäten der Klägerin selbst – meistens zusammen mit ihrer Schwester – sowie ihr öffentlichkeitswirksames Auftreten. Besonders fällt auch ins Gewicht die Kontinuität der regimekritischen Aktivitäten der Klägerin über sehr lange Zeit hinweg von Kindesbeinen an, so dass anzunehmen ist, dass die Klägerin, wie schon in der Vergangenheit, diese entsprechend ihrer individuellen Sozialisierung und Prägung auch weiterhin fortsetzen will und wird.
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Denn besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder religiöse Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 9). Solche Aktivitäten können der kurdischen Klägerin und gerade wegen des Bezugs zu der kurdischen Partei Khabat vorgeworfen werden. Insbesondere auch aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht der Klägerin sowohl aufgrund der aktuellen Vorkommnisse im Iran als auch aufgrund ihres aktuellen Aufenthalts in Deutschland und der regimekritischen Aktivitäten der Vorwurf, eine Regimegegnerin zu sein und unter westlichem Einfluss zu stehen, zumal sie sich mit den aktuellen Protesten im Iran solidarisiert und sich diesbezüglich auch exilpolitisch engagiert, wie sie es auch unter Nennung ihres Namens und mit Bildern von sich dokumentiert und veröffentlicht hat. Letztere Umstände wirken gefahrerhöhend und begründen zusätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran (vgl. etwa Accord, Iran: Informationen zu den Parteien DPKI, KDP-I, Komala PIK, Komala KDP, Komalah – CPI, Komala CPI, WCPI, WP-Hekmatist, WPI-Hekmatist, Khad-Rasmi, vom 24.11.2022, S. 34).
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Weiter gefahrerhöhend wirkt die Durchführung einzelner Aktionen zusammen mit der Volksmudjahedin, da Teilnehmern an gemeinsamen Protesten – wie die Klägerin – als vermeintlichen Anhängern im Iran erhebliche Strafverfolgung droht, weil der iranische Staat auf politische Kontakte zu dieser Organisation äußerst empfindlich reagiert (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 19.9.2022, S. 3; vgl. dazu auch VG Köln, U.v. 24.7.2023 – 12 K 3711/20.A – juris Rn. 47 ff.).
68
Das Gericht merkt an, dass der Vorwurf im streitgegenständlichen Bescheid (S. 4 f. des Bescheides mit Verweis auf VG Aachen, U.v. 3.6.2022 – 10 K 2844/20.A), dass die Klägerin aus asyltaktischen Gründen exilpolitisch aktiv sei, um Vorteile im Asylverfahren zu erlangen, aufgrund seiner Argumentation schon allgemein fragwürdig ist und im vorliegenden Einzelfall nicht plausibel ist. Denn die Beklagte führt aus: Vielmehr sei davon auszugehen sei, dass den iranischen Stellen bekannt sei, dass eine große Zahl iranischer Asylbewerber aus wirtschaftlichen oder anderen unpolitischen Gründen versuche, im westlichen Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland dauernd Aufenthalt zu finden, und hierzu Asylverfahren mit entsprechendem Vortrag betreibe. Bekannt sei weiter, dass deshalb auch entsprechende Aktivitäten stattfänden, etwa eine oppositionelle Betätigung in Exilgruppen, die häufig, wenn nicht vorwiegend dazu diene, Nachfluchtgründe zu belegen. Auch insoweit sei davon auszugehen, dass die iranischen Behörden diese Nachfluchtaktivitäten realistisch einschätzten (vgl. zu dieser Argumentation zuletzt etwa NdsOVG, U.v. 26.1.2024 – 8 LB 88/22 – juris Rn. 60 zur Konversion sowie die Nachweise bei VG Aachen, U.v. 3.6.2022 – 10 K 2844/20.A – juris Rn. 79 mwN).
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Grundsätzlich ist zu diesem Vorbringen der Beklagten schon kritisch zu hinterfragen, ob dieses über viele Jahre wiederholte Argument gerade auch angesichts der veränderten Verhältnisse im Iran noch mit den aktuellen Erkenntnissen in Einklang zu bringen ist. Denn die zitierten Entscheidungen und die von diesen wiederum herangezogenen Rechtsprechungsnachweise usw. enthalten keine zutreffenden diesbezüglichen Angaben, die die Aussage, wie die iranischen Behörden die Nachfluchtaktivitäten der Asylbewerber in Deutschland einschätzen, mit Bezug auf den heutigen Beurteilungszeitpunkt belegen könnten. Offenkundig stammt das Argument – soweit ersichtlich – primär aus mindestens ca. 17 Jahre alten Quellen (vgl. die Nachweise zu den Quellen aus dem Jahr 2006 und 2007 etwa bei VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 48), die von den Verfassern – Auswärtiges Amt und Deutsches Orientinstitut – offenbar bewusst nicht wiederholt, sondern mittlerweile aufgegeben wurden, aber von der Beklagten sowie den Gerichten gleichwohl unreflektiert einfach immer wieder übernommen und abgeschrieben wurden und werden, ohne ihre fortbestehende Gültigkeit bis heute anhand aktueller Erkenntnisse – wie sie auf den vorstehenden Seiten ausführlich dargelegt sind – zu prüfen.
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Das Auswärtige Amt schrieb in seiner Auskunft vom 4. April 2007 an da VG Wiesbaden (S. 2): Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes gehen iranische Stellen davon aus, dass viele iranische Asylbewerber in Deutschland Oppositionsaktivitäten entwickeln, um einen Nachfluchtgrund geltend machen zu können. Zumeist handelt es sich bei diesen Aktivitäten um Unterstützungsaufgaben kleinerer Gruppierungen und die Teilnahme an Demonstrationen (ebenso etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl – und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, vom 3.3.2004, Stand: Februar 2004, S. 23 oder vom 24.3.2006, Stand: März 2006, S. 26. und vom 4.7.2007, Stand Juni 2007, S. 26, aber ohne den zweiten Satz). Laut OVG Berlin-Bandenburg fand sich der erste Satz mit dem Hinweis auf die Annahmen der iranischen Stellen von 1999 bis 2007 regelmäßig in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes; danach findet sich dieser Hinweis nicht mehr, sondern zunächst nur noch der Hinweis auf die reelle Gefährdung „führender Persönlichkeiten der Oppositionsgruppen, die …“ (OVG BlnBbg, U.v. 16.9.2009 – OVG 3 B 12.07 – juris Rn. 66). Im aktuellen Lagebericht heißt es nun nur noch, Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl – und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, vom 30.11.2022, Stand: 18.11.2022, S. 19). Die Änderung der Formulierung, wonach Iraner, die sich im Ausland regimekritisch äußern und in den Iran zurückkehren, von Repressionen bedroht sind, ist im Vergleich zur Formulierung bedroht sein können in den vorherigen Lageberichten, – laut Auswärtigem Amt – keine lediglich redaktionelle Änderung. Das Auswärtige Amt kann nicht ausschließen, dass auch eine Person, die keine hohe Sichtbarkeit als Aktivist hat, bei Rückkehr für ihre politischen Aktivitäten verhaftet wird (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Oldenburg vom 29.11.2021, S. 4). Zudem hat das Auswärtiges Amt ausdrücklich angemerkt, dass es keine Aussage dazu treffen kann, ob einen Rückkehrer selbst bei einer Konversion aus asyltaktischen Gründen und einer Distanzierung bei einer Rückkehr Folter, Misshandlung oder Folter drohen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Oldenburg vom 29.11.2021, S. 3 f.).
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Das deutsche Orientinstitut (DOI) hat sich in einer Reihe von Auskünften, Stellungnahmen und Gutachten in den Jahren 2002 bis 2007, die alle vom selben Verfasser (Uwe Brocks) stammen, der der persischen Sprache nicht mächtig ist und sich noch nie im Iran aufgehalten hatte, gegen dessen Sachkunde Bedenken geäußert wurden, aber dessen Auskünfte usw. gleichwohl als verwertbar angesehen wurden, ebenfalls zur Bewertung asyltaktischen Verhaltens iranischer Asylbewerber geäußert (vgl. zum Ganzen OVG BlnBbg, U.v. 16.9.2009 – OVG 3 B 12.07 – juris Rn. 68 f. zu den Auskünften sowie Rn. 71 ff. zur Sachkunde des Verfassers und der Verwertbarkeit seiner Angaben). Beim DOI heißt es unter anderem etwa: Hinzu kommt, dass naturgemäß Iraner, auch iranischen Behörden, wissen, dass Iraner, die ohne Aufenthaltserlaubnis nach Deutschland reisen, da nur ein Aufenthaltsrecht erlangen können, wenn sie ein Asylverfahren durchführen. Natürlich ist den iranischen Behörden in diesem Zusammenhang klar, dass die Asylverfahren betrieben werden müssen, und dass innerhalb dieser Verfahren dann auch etwas gesagt oder getan werden muss, um das begehrte Asyl schließlich zu erlangen. Soweit also einerseits eine ersichtlich zielgerichtete, und ihrem Wesen nach nach Iran nicht hineinreichende Publikation veröffentlicht wurde, dürfte sich dies bei Rückkehr in den Iran den dortigen Behörden ohne weiteres als notwendiges Übel im Rahmen der Deutschen Asylverfahren darstellen lassen. Davon gehen wir jedenfalls bei einer praktisch-realistischen Betrachtung aus. Der Betreffende könnte mit entsprechender Einlassung und mit der Bitte um Verzeihung das nötige Verständnis finden (DOI, Auskunft an das VG Ansbach vom 5.10.2005, S. 3 f.). Auch jedem iranischen Amtswalter ist klar, dass durch Asylbewerber in Europa bestimmte exiloppositionelle Tätigkeiten durchzuführen sind, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen. Soweit dies auch hinsichtlich der erzielten Wirkung in Europa verbleibt, ist dies auch in den Augen der iranischen Behörden eine naturnotwendige Folge der Betreibung des Asylverfahrens, weil eine Wirkung und Ausstrahlung in den Iran hinein realistisch-praktisch gesehen nicht in Betracht kommt. Natürlich lässt sich – so der Verfasser ausdrücklich weiter – diese seine Einschätzung nicht wissenschaftlich belegen oder literarisch untermauern, aber sie zeigt sich in Gesprächen mit Iranern in Deutschland, weil klar ist, dass die gesamten exilpolitischen Aktivitäten sich in Zielsetzung und Radius auf Europa und im Westen erschöpfen (DOI, Auskunft an das VG Münster vom 4.1.2006, S. 5 f.; Auskunft an das VG Wiesbaden vom 23.2.2006, S. 4 f.). Auch der iranische Geheimdienst als Teil des Staatsapparates ist naturgemäß nicht daran interessiert, den Iranern das Aufenthaltsrecht in Europa kaputtzumachen, sondern interessiert sich nur für oppositionelle Aktivitäten, die die Interessen der Islamischen Republik Iran in irgendeiner Weise Berühren oder nach Iran hineinwirken können (DOI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 23.2.2006, S. 10). Bei einer exilpolitischen Betätigung, die ausschließlich der Aufenthaltssicherung dient, was diese natürlich nicht a priori ungefährlich macht, dürfte naturgemäß darauf hindeuten, dass die westliche Zielsetzung im Vordergrund steht. Solange das Betreiben des Asylverfahrens in standardmäßigen Aktivitäten besteht, die nicht in den Iran hineinzuwirken geeignet sind, scheint uns eine solche untergeordnet-standardgemäße Tätigkeit nicht problematisch zu sein. Eine Gefahr verschärfter Überprüfung existiert stets im Ausnahmefall, dann, wenn, aus nicht berechenbaren Gründen, Informationen oder Gehässigkeiten oder beides nach Iran hineintransportiert werden (DOI, Auskunft an das VG Stuttgart vom 5.7.2006, S. 10 f. und 23). Soweit die niederschwellige exilpolitische Betätigung ausschließlich der Beförderung des Asylverfahrens dient, spielt diese nach meiner Einschätzung keine gesonderte Rolle (GIGA [Uwe Brocks], Auskunft an das VG Bremen vom 29.5.2007, S. 9 f.).
72
Abgesehen davon, dass – wie schon angedeutet – die vorstehenden ca. 17 Jahre alten Stellungnahmen eines einzelnen Verfassers, mit gewisser Vorsicht zu genießen sind, ist schon festzustellen, dass diese soweit ersichtlich in der Folgezeit so nicht wiederholt wurden (vielmehr scheint der Verfasser in Bezug auf die Konversion und die christliche religiöse Betätigung im Ausland wegen der Ausstrahlungswirkung in den Iran hinein davon abzurücken und von einer Rückkehrgefährdung auszugehen, vgl. Uwe Brocks, Gutachten für den HessVGH vom 15.10.2008, S. 4 f.). Darüber hinaus beschränkte sich die nur auf Hörensagen (Gespräche in Deutschland), nicht aber auf weitere Quellen beruhende subjektive Einschätzung des Verfassers, wie die iranischen Stellen auf exilpolitische Aktivitäten aus asyltaktischen Motiven womöglich reagieren, ohnehin nur auf sehr niederschwellige Aktivitäten, die sich offenkundig von ihrer Wirkung auf Deutschland/Europa beschränkten und nicht in den Iran hineinstrahlten und bei entsprechender Reue des Rückkehrers wahrscheinlich verziehen würden. Für weiterreichende Aktivitäten – seien sie auch asyltaktisch motiviert – hat diese persönliche Einschätzung jedoch nie gegolten. Im Übrigen bleibt die Entwicklung im Iran in den letzten 17 Jahren und erst recht seit September 2022 völlig ausgeblendet, ebenso die Entwicklung des Internets und der sozialen Medien.
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Das Gericht übersieht schließlich nicht eine aktuellere Quelle, die ausführt: Ein „Iranexperte“ (Information vom 24.6.2019) hält fest, dass den iranischen Behörden bewusst ist, dass sich iranische Auslandsstudenten und -studentinnen – auch in der Hoffnung, Asyl oder Bleiberecht zu erhalten – Oppositionsgruppen anschließen oder zum Christentum konvertieren würden. Dadurch würden die Studenten und Studentinnen verwundbar und sie würden, sofern sie sich politisch auffällig verhalten, von iranischen Behörden unter Druck gesetzt, mit ihnen zusammenzuarbeiten (Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivitäten im Ausland, exilpolitische Aktivitäten, Konversion, vom 5.7.2019, S. 1; übernommen von BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation vom 26.1.2024, S. 173). Danach wird zwar – bezogen auf iranische Studierende im Ausland – aufgegriffen, dass den iranischen Behörden deren Motivation für exilpolitische oder christliche Aktivitäten bewusst sei, aber gerade auch betont, dass dieses asyltaktische Verhalten selbst zu Repressionen führen kann, wenn die Studierenden nicht wunschgemäß mit den iranischen Stellen kooperieren.
74
Des Weiteren ist ein Vorbringen zu gewissen Aktivitäten iranischer Asylbewerber, nur weil es dem Vorbringen anderer Asylbewerber ähnelt und daher von der Beklagten als „stereotyp“ eingestuft wird, für sich kein Beleg, dass dieses Vorbringen nach dem vermeintlich immer gleichen „Strickmuster“ unglaubhaft sein muss. Vielmehr hat durchweg eine konkrete Prüfung und Auseinandersetzung mit dem konkreten Sachvorbringen sowie eine Bewertung nach den Umständen des Einzelfalls zu erfolgen (vgl. VG Minden, B.v. 30.10.2023 – 2 L 930/23.A – juris Rn. 55 ff.).
75
Außerdem ist gegen die Unterstellung asyltaktischen Verhaltens und Vorbringens einzuwenden, dass selbst bei einem asyltaktisch geprägten Vorbringen der/die Betreffende gleichwohl den iranischen Staat und/oder die islamische Religion damit öffentlich angreift und herabsetzt. Aufgrund der weltweiten Vernetzung der öffentlichen wie der sozialen Medien und angesichts der iranischen Überwachung der iranischen Diaspora durch das iranische Regime erfolgt eine Ausstrahlung dessen, was in Deutschland oder andernorts geschieht, in den Iran hinein in aller Regel. Angesichts der Willkür der iranischen Behörden und der Unberechenbarkeit ihrer Verfolgungsintentionen, ist die Annahme eines asyltaktischen Verhaltens für sich nicht geeignet, eine Verfolgungsgefahr auszuschließen (vgl. auch schon VG Würzburg, U.v. 20.3.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 58).
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Zusammenfassend ist die Feststellung seitens der Beklagten bzw. der Gerichte, dass gewisse Aktivitäten (auch) asyltaktisch motiviert sind, für sich für die Beurteilung, ob ein exilpolitisches Verhalten eine Verfolgungsgefahr begründet, ohne Wert, weil es unabhängig davon – wie schon ausgeführt – auf die Umstände des konkreten Einzelfalles ankommt.
77
Unabhängig davon erachtet das Gericht das Argument bzw. den Vorwurf der Beklagten eines asyltaktischen Verhaltens der Klägerin angesichts ihrer langjährigen exilpolitischen regimekritischen Aktivitäten in Zusammenhang mit Khabat für gänzlich unpassend und in keiner Weise für nachvollziehbar. Denn wie ausgeführt ist die Klägerin in eine regimekritische kurdische Familie hineingeboren und als kleines Kind in die kurdische Region Irak gekommen und dort im Umfeld einer kurdischen oppositionellen Partei aufgewachsen. Sie ist so von Kindesbeinen über nahezu 20 Jahre regimekritisch sozialisiert und geprägt worden. Sie hat ihre Aktivitäten nicht erst in Deutschland aufgenommen, um hier aus asyltaktischen Gründen Vorteile im Asylverfahren zu erhalten, sondern ist schon die ganze Zeit im Irak und auch die weiteren Jahre in Griechenland und auch in Deutschland aktiv gewesen und geblieben hat. Die Klägerin hat vielmehr entsprechend ihrer individuellen Prägung und Überzeugung ihre exilpolitischen Aktivitäten auch gemäß ihrem Alter vom Kind zur Jugendlichen und nun zur Erwachsenen entwickelt und fortentwickelt. Und außerdem: Wenn man annehmen wollte, dass die iranischen Stellen das exilpolitische Verhalten der Iraner in Deutschland wirklich immer realistisch einschätzen, dann spräche dies im Fall der Klägerin nicht gegen, sondern für eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr.
78
Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste die Klägerin unter Gesamtwürdigung aller Umstände mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass seitens des iranischen Staates ein Verfolgungsinteresse an der Klägerin besteht. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, die Klägerin werde sich auch im Iran weiter regimekritisch verhalten und sich für die Kurden und die Ziele von Khabat sowie der Anliegen der Bewegung „Frau Leben Freiheit“ einsetzen, und dass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen hieran anknüpfen würden.
79
Das Gericht ist auch selbst überzeugt, dass die Klägerin auch bei einer theoretisch unterstellten Rückkehr in den Iran weiterhin ihre regimekritische Einstellung beibehalten und sowohl die Sache der Kurden, als auch die Sache der Frauen, weiter verfechten wollte und würde und damit zwangsläufig der Gefahr der Repressionen im Iran unterliegen würde.
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Eine Rückkehr in den Iran ist der Klägerin unter diesen Vorzeichen von Rechts wegen nicht zumutbar, gerade auch wegen der Unberechenbarkeit der iranischen Behörden und ihres willkürlichen Vorgehens. Gerade für eine von den iranischen Stellen erkannten Regimegegnerin wie die Klägerin käme es einem „russisches Roulette“ gleich, würde man sie in den Iran schicken und darauf hoffen, dass die iranischen Behörden vielleicht doch nicht repressiv gegen sie vorgehen würden.
81
Schließlich ist noch anzumerken, dass nicht vertieft zu werden braucht, ob der Klägerin aufgrund ihrer westlichen Prägung, nachdem sie sich seit 2016 zunächst drei Jahre in Griechenland aufgehalten hatte und seitdem in Deutschland aufhält, kein Kopftuch trägt und sich in die westliche Kultur eingewöhnt hat, ein weiterer triftigen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zur Seite stünde.
82
Nach alledem ist der Klägerin unter Aufhebung der sie betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG „oder“ und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
83
Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
84
Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
85
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
86
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.