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VG München, Gerichtsbescheid v. 10.04.2024 – M 1 K 20.3572
Titel:

Nachbarklage, Isolierte Befreiung, Baugrenzen, Drittschutz von Festsetzungen (verneint), Gebot der Rücksichtnahme

Normenkette:
BauGB § 31 Abs. 2 BauGB
Schlagworte:
Nachbarklage, Isolierte Befreiung, Baugrenzen, Drittschutz von Festsetzungen (verneint), Gebot der Rücksichtnahme
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13494

Tenor

 I.    Die Klage wird abgewiesen.
 II.    Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen eine isolierte Befreiung von den Baugrenzen, die der Beklagte dem Beigeladenen für die Errichtung eines grenzständigen Anbaus an seinen Carport erteilt hat.
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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. 2248/5 Gem. …, das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Westlich grenzt das Grundstück des Beigeladenen, FlNr. 2248/4 Gem. … (Vorhabengrundstück) an. Es ist mit einem Einfamilienhaus bebaut, an das sich östlich ein Carport anschließt, der zum Grundstück des Klägers grenzständig ist und eine Länge von 6 m entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze aufweist.
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Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich der „Ortsabrundungssatzung Th.“ des Beklagten. Diese setzt u.a. für das Vorhabengrundstück ein Baufenster fest. Östlich an das Baufenster angrenzend, im Bereich des errichteten Carports, ist in der „Ortsabrundungssatzung Th.“ des Beklagten eine „Umgrenzung von Garagen“ eingezeichnet.
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Unter dem 12. Mai 2020 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer isolierten Befreiung vom „Baufenster für Hauptgebäude und Garage“, um einen südseitigen, grenzständigen Anbau an den bestehenden Carport zu errichten, der der Erweiterung des Stauraums und Schaffung einer abschließbaren Lagermöglichkeit dienen solle. Ausweislich der dem Antrag beigefügten Skizzen soll dieser eine Länge von 3 m und eine Breite von 2,5 m aufweisen und in der Höhe den Verlauf des Daches des Carports aufnehmen und fortführen, sodass er an seiner höchsten Stelle ca, 2,60 m aufweist.
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Mit Bescheid vom 10. Juli 2020, dem Kläger ausweislich der Postzustellungsurkunde zugestellt am 11. Juli 2020, erteilte der Beklagte eine Befreiung von der Baugrenze der „Ortsabrundungssatzung Th.“ entsprechend den vorgelegten Antragsunterlagen. Die Befreiung berühre die Grundzüge der Planung nicht und sei städtebaulich vertretbar. Nachbarliche Belange, die gegen die Befreiung sprechen würden, seien nicht ersichtlich.
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Gegen den Bescheid hat der Kläger mit am *. August bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Klage erhoben und beantragt,
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den Bescheid vom 10. Juli 2020 aufzuheben.
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Drittschützende Normen seien verletzt. Die Festsetzungen der Ortsabrundungssatzung in Bezug auf die Baugrenzen seien drittschützend, weil sie nicht nur dem öffentlichen Interesse der Konfliktbewältigung dienten, sondern insbesondere auch den subjektiven Interessen der Nachbarn. Die Nachbarn hätten einen subjektiv-öffentlichen Rechtsanspruch darauf, dass die Baugrenzen eingehalten werden, weil die Festsetzungen wesentlich das Individualinteresse der Nachbarn aus dem Eigentumsrecht, von Bebauung freibleibende Grundstücksgrenzen zu behalten, konkretisierten. Dabei lägen die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Befreiung nicht vor, weil es an einer bodenrechtlichen Sonderlage fehle, die eine Befreiung rechtfertigen würde. Vielmehr weise das Vorhabengrundstück eine bodenrechtliche Sonderlage auf, die die Erteilung einer Befreiung gerade verbiete. Denn anders als bei den anderen Grundstücken östlich der Erschließungsstraße sehe die „Ortsabrundungssatzung Th.“ beim Vorhabengrundstück nicht vor, dass die Garagen im nördlichen Grundstücksbereich mittig mit Grenzabstand angeordnet werden, sondern, dass diese östlich an den Hauptbaukörper grenzständig errichtet werde. Damit widerspreche die Befreiung der Planungsentscheidung des Plangebers und den Grundzügen der Planung. Weiter liege ein Ermessensfehler in Form des Ermessenfehlgebrauch vor, da überhaupt keine Belange erkennbar seien, die der Beklagte in die Ermessensentscheidung eingestellt habe. Insbesondere habe die Beklagte es unterlassen, die nachbarlichen Belange überhaupt zu ermitteln und zu bewerten. Der Verweis des Sachbearbeiters in der Benachrichtigung an den Kläger auf Art. 6 BayBO ändere hieran nichts.
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Der Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Der Bescheid verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Die zugrundeliegende Festsetzung von Baugrenzen sei schon nicht nachbarschützend. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass die festgesetzten Baugrenzen einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollten. Dies ergebe sich weder aus der Ortsabrundungssatzung noch aus deren Begründung. Die Festsetzungen seien allein aus Gründen der städtebaulichen Ordnung getroffen worden. Es liege auch kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vor. Das streitgegenständliche Vorhaben halte auch in Zusammenschau mit dem bestehenden Carport die abstandsflächenrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 9 S. 1 Nr. 1 BayBO ein.
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Mit richterlichem Schreiben vom 10. Januar 2024 wurde den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Einzelrichterübertragung und zum Erlass eines Gerichtsbescheids gegeben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Die Klage, über die nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden werden konnte, weil das Verfahren keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, hat keinen Erfolg, weil sie zwar zulässig, aber unbegründet ist. Der angefochtene Bescheid vom 10. Juli 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Im Rahmen von Rechtsbehelfen Dritter können sich diese nur dann erfolgreich gegen einen Bescheid zur Wehr setzen, wenn dieser rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
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1.1 Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans (§ 31 Abs. 2 BauGB) hängt der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39/13 – juris Rn.3). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris, Rn. 22, m.w.N.).
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Ob der betreffenden bauplanerischen Festsetzung Drittschutz zukommt, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln. Ein entsprechender Wille kann sich aus dem Bebauungsplan selbst, aus seiner Begründung oder auch aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben. Maßgebend ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollte (BayVGH, B.v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris, Rn. 25, m.w.N.). Nach neuerer Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können Festsetzungen über das Maß der Nutzung und Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche auch dann Drittschutz entfalten, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz noch nicht gedacht hat. Der Gedanke des nachbarlichen, wechselseitigen Austauschverhältnisses kann auch eine nachbarschützende Wirkung solcher Festsetzungen rechtfertigen. Stehen solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, kommt ihnen nach ihrem objektivem Gehalt Schutzfunktion zugunsten der am Austauschverhältnis beteiligen Grundstückseigentümern zu (zum Ganzen: BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 15, B.v. 11.6.2019 – 4 B 5.19 – juris Rn. 4).
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Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend nichts dafür ersichtlich, dass die in der „Ortsabrundungssatzung Th.“ festgesetzten Baugrenzen Nachbarschutz zugunsten des Klägers vermitteln. Ein entsprechender Wille des Plangebers ergibt sich weder aus der Konzeption, die gerade unterschiedliche Anordnungen der Baufenster und Flächen für Garagen vorsieht und damit kein entsprechendes Wechselseitigkeitsverhältnis unter den Grundstückseigentümern begründet. Zudem hat die Beklagte ihren Planungswillen in der Begründung zur „Ortsgestaltungssatzun Th.“ schriftlich dargelegt: unter Nr. 07 der Begründung ist insoweit ausgeführt, dass die Baugrenzen sowie die Beschränkung der Wohneinheiten festgesetzt werden, um Nachverdichtungen auf Grundlage des § 34 BauGB durch zusätzliche Gebäude bzw. Mehrfamilienhäuser auszuschließen. Drittschutz sollte also nach der Begründung der „Ortsgestaltungssatzung Th.“ den Baugrenzen nicht zukommen.
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1.2 Das streitgegenständliche Vorhaben verstößt nicht zulasten des Klägers gegen das aus § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO folgende Gebot der Rücksichtnahme.
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Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits den Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits den Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist. (BayVGH U.v. 6.4.2018 – 15 ZB 17.36 – juris, Rn. 21, m.w.N.).
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In Zusammenschau mit dem bestehenden Carport hält das streitgegenständliche Vorhaben die abstandsflächenrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO ein, weil die Grenzbebauung eine Länge von 9 m und eine Höhe von 3 m nicht überschreitet und eine weitere Grenzbebauung auf dem Grundstück nicht vorhanden ist, und ist danach ohne Einhaltung von Abstandsflächen zulässig. Dies indiziert bereits, dass das Gebot der Rücksichtnahme, insbesondere unter dem Aspekt einer einmauernden Wirkung, nicht verletzt ist, da die landesrechtlichen Grenzabstandsvorschriften insoweit ihrerseits eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme darstellen (BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215/96 – juris, Rn. 9).
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3. Die Klage war daher mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuweisen, wobei es billigem Ermessen entsprach, von einer Auferlegung der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen gemäß § 163 Abs. 3 VwGO abzusehen, weil dieser keinen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko seinerseits nicht ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3 VwGO.
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4. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. BGB.