Inhalt

VG München, Beschluss v. 27.03.2024 – M 18 E 24.876
Titel:

Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung, Erhöhter Förderbedarf

Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 3
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung, Erhöhter Förderbedarf
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13492

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege mit einem Betreuungsumfang von mindestens fünf Stunden montags bis freitags nachzuweisen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
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Der am ... 2020 geborene Antragsteller begehrt den Nachweis eines Betreuungsplatzes.
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Auf die Anmeldung des Betreuungsbedarfs des Antragstellers bei der Wohnortgemeinde zum 20. Februar 2024 hin, wurde diesem zunächst ein Betreuungsplatz angeboten. Nachdem sich bei einem Probekindergartenbesuch am 20. November 2023 herausgestellt hat, dass der Antragsteller einen erhöhten Förderbedarf hat, lehnte die Einrichtung den Antragsteller ab (vgl. hierzu die Verfahren M 18 E … und M 18 K …
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Der Bevollmächtigte des Antragstellers erhob für diesen am 21. Februar 2024 Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte die Verpflichtung des Antragsgegners, dem Kläger einen Betreuungsplatz im Umfang von täglich mindestens fünf Stunden nachzuweisen (M 18 K …*).
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Zudem wurde mit Schriftsatz vom selben Tag beantragt,
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den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung im Umfang von täglich mindestens 5 Stunden montags bis freitags nachzuweisen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antragsgegner seit 20. November 2023 vom Bedarf des Antragstellers wisse und der beantragte Betreuungstermin zum 20. Februar 2024 abgelaufen sei, woraus sich eine Dringlichkeit ergebe. Auf einen Kapazitätsmangel könne sich der Antragsgegner nicht berufen.
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Mit Schriftsatz vom 27. Februar 2024 erwiderte der Antragsgegner auf den Eilantrag und beantragte,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass für den Antragsteller kein bedarfsgerechter Platz zur Verfügung gestellt werden könnte. Aus Sicht der Einrichtung, in der dem Antragsteller ursprünglich ein Betreuungsplatz angeboten worden war, benötige der Antragsteller einen Platz in einer heilpädagogischen Einrichtung. Es liege eine faktische Unmöglichkeit vor. Der Antragsteller müsse sich an den im Bereich der Frühförderung zuständigen Träger, den Bezirk Oberbayern, wenden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte auch in den Verfahren M 18 K …, M 18 K … sowie M 18 E … verwiesen.
II.
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Der Antrag hat Erfolg.
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Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Voraussetzung für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatschlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
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Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Platzes in einer Kindertageseinrichtung gegen den Antragsgegner im Umfang von mindestens fünf Stunden werktäglich ausreichend glaubhaft gemacht.
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Gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung.
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Diese Anspruchsvoraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
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Der Antragsteller hatte bereits am 18. Oktober 2023 das dritte Lebensjahr vollendet und damit einen Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Zwischen den Parteien unstreitig hatte der Antragsgegner am 20. November 2023 von dem erhöhten Betreuungsbedarf des Antragstellers Kenntnis. Der Anspruch ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Antragsteller einen erhöhten Förderbedarf hat (1.). Auch auf mangelnde Kapazitäten kann sich der Antragsgegner insoweit nicht berufen (2.).
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1. Der Anspruch des Antragstellers aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist auf den Nachweis eines dem individuellen Bedarf des Antragstellers entsprechenden Betreuungsplatz gerichtet. Dies umfasst, sofern der Antragsteller einen erhöhten Förderbedarf hat, auch einem diesem qualitativen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz. Hingegen kann sich der Antragsgegner als Träger der örtlichen Jugendhilfe nicht anspruchsbefreiend auf die vermeintliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers berufen.
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Nach dem Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII sollen die Kinder in der Kindertagespflege „gefördert“ werden, sodass sich die Förderung konsequenterweise an den Bedürfnissen des Kindes orientiert (vgl. VG Würzburg, B.v. 9.8.2022 – W 3 E 22.1154, juris Rn. 97). Sofern die Bedürfnisse bzw. der Förderbedarf des Kindes im Einzelfall, etwa aufgrund des Vorliegens einer Behinderung, erhöht ist, so ist der Anspruch auf Nachweis eines Platzes, der eben diesem individuellen, qualifizierten Bedarf gerecht wird, gerichtet (vgl. Rixen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 24 SGB VIII, Stand: 01.08.2022, Rn. 28).
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Die Parteien sind sich darüber einig, dass der Antragsteller Verhaltensauffälligkeiten zeigt, die einen erhöhten Betreuungsbedarf verursachen. Dementsprechend richtet sich der Anspruch des Antragstellers vorliegend auf den Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung, der diesem Bedarf gerecht wird. Hingegen führt das Bestehen eines solchen höheren Förderbedarfs – entgegen der Auffassung des Antragsgegners – nicht dazu, dass dieser von seiner Pflicht, einen bedarfsgerechten Platz nachzuweisen, befreit werden würde. Auch kann der Antragsgegner insoweit nicht auf eine ggf. daneben bestehende Zuständigkeit des Bezirks Oberbayern verweisen. Denn der in Rede stehende Anspruch auf den Nachweis eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes richtet sich ausschließlich gegen den Träger der Jugendhilfe. Eine Befreiung des Jugendhilfeträgers von seiner Verpflichtung zum Nachweis eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes ist dagegen keine Konsequenz eines höheren Förderbedarfs.
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2. Dem Bestehen eines solchen Anspruchs des Antragstellers aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII kann nach summarischer Prüfung auch nicht entgegengehalten werden, dass der Antragsgegner, wie dieser vorträgt, mangels entsprechender Kapazitäten keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellen kann. Denn der Anspruch steht nach regelmäßiger und einheitlicher Rechtsprechung nicht unter einem Kapazitätsvorbehalt und wird daher durch die vom Antragsgegner behauptete Kapazitätserschöpfung nicht berührt (BVerwG, U.v. 26.10.2017 – 5 C 19/16 – juris Rn. 35; BVerfG, U.v. 21.11.2017 – 2 BvR 2177/16, juris Rn. 134; VG Münster, B.v. 7.6.2023 – 6 L 409/23, juris Rn. 23; VG München, B.v. 13.10.2023 – M 18 E 23.4672, juris Rn. 28).
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Flankiert werden dürfte dies durch die aus § 22a SGB VIII resultierende Verpflichtung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, ein bedarfsgerechtes Angebot auch an integrativen Einrichtungen vorzuhalten (vgl. Betzold in: BeckOGK, 1.6.2023, SGB VIII § 22a Rn. 28).
25
Schließlich dürfte kein Fall der objektiven Unmöglichkeit vorliegen, der die Verpflichtung aus § 24 Abs. 2 SGB VIII entfallen ließe (vgl. VG München, B.v. 24.8.2022 – M 18 E 22.3914, juris Rn. 30 m.w.N.).
26
Der Antragsteller hat zudem auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
27
Unabhängig von der Frage, ob bereits in der irreversiblen Nichterfüllung eines unaufschiebbaren Anspruchs ein Anordnungsgrund zu sehen ist oder darüber hinaus im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ein Nachweis der fehlenden Betreuungsmöglichkeit zu erfolgen hat (vgl. zum Streitstand VG München, B. v. 25.1. 2023 – M 18 E 22.5844, juris Rn. 34 m.w.N.), haben die Eltern des Antragstellers hinreichend glaubhaft gemacht, auf einen Betreuungsplatz im Umfang von werktäglich mindestens fünf Stunden angewiesen zu sein. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zuzumuten. Zur Vermeidung weiterer Nachteile für den Antragsteller und seine Eltern ist eine Vorwegnahme der Hauptsache daher angezeigt.
28
Dem Antragsgegner ist zur Erfüllung des Anspruchs eine Frist bis zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. VG München, B. v. 25.1.2023 – M 18 E 22.5844, juris Rn. 44 m.w.N.).
29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO.
30
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.