Inhalt

VG München, Beschluss v. 12.06.2024 – M 13 E 24.30922
Titel:

Asyl, Eritrea, Folgeantrag, Erhebliche Zweifel an der Ablehnung eines weiteren Asylantrags als unzulässig, Begriff der „erheblichen Wahrscheinlichkeit“

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 34
AsylG § 36 Abs. 3 und 4
AsylG § 71 Abs. 1 S. 1
AsylG § 71 Abs. 4 i.V.m.
Schlagworte:
Asyl, Eritrea, Folgeantrag, Erhebliche Zweifel an der Ablehnung eines weiteren Asylantrags als unzulässig, Begriff der „erheblichen Wahrscheinlichkeit“
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13489

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage M 13 K 24.30921 gegen die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des Bescheids vom 11. März 2024 (Gz. … – …) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

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1. Der Antrag vom 19. März 2024 gerichtet auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage M 13 K 24.30921 gegen die in Nummer 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. März 2014 (Az. …  … enthaltene Abschiebungsandrohung nach Eritrea, der ein Folgeantrag nach zunächst zuerkannter Flüchtlingseigenschaft und anschließendem Widerruf derselben zugrunde liegt, hat Erfolg.
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a) Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage, § 80 Abs. 5 VwGO, gegen die Abschiebungsandrohung ist zulässig, da der Antrag insbesondere statthaft ist und fristgemäß gestellt wurde, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3, 4 und 75 Abs. 1 AsylG .
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b) Der Antrag ist auch begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen.
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Nach § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG kann im Falle der Ablehnung eines Folgeantrages gem. § 71 AsylG als unzulässig einstweiliger Rechtsschutz nur gewährt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678). Prüfungsgegenstand ist hierbei gemäß § 71 Abs. 4 i. V. m. § 34 AsylG die Abschiebungsandrohung, wobei an Stelle der Prüfung, ob dem Antragsteller voraussichtlich Schutz in Form von Asylberechtigung, Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zu gewähren ist, die Prüfung tritt, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, mithin ob die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylG vorliegen, vgl. § 71 Abs. 4 AsylG („entsprechend“). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG.
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Im vorliegenden Fall sprechen erhebliche Gründe dafür, dass die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegen, so dass voraussichtlich ein weiteres Asylverfahren durchzuführen wäre, weshalb ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen.
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Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der seit 27. Februar 2024 maßgeblichen rechtsgültigen Fassung ist ein weiteres Asylverfahren nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags auf einen erneuten Asylantrag hin nur durchzuführen, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Ausländer vorgebracht worden sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen, oder Wideraufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind und der Ausländer ohne eigenes Verschulden außerstande war, die Gründe für den Folgeantrag im früheren Asylverfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
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aa) Ausweislich der vorliegenden Erkenntnismittel hat der Staat Eritrea seit dem Ausbruch des Krieges in der T.-Region im November 2020 die Zwangsrekrutierungsmaßnahmen intensiviert und dabei unter anderem auch Minderjährige, Reservisten sowie vom Nationaldienst freigestellte Personen zum Militärdienst eingezogen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst, 15.6.2023, u. a. S. 8 ff.). Bei dieser Erkenntnis handelt es sich um eine neu zutage getretene Erkenntnis, da diese nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes über den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 14. Februar 2019 (Gz. …  …) vorlag. Dass der Antragsteller die intensivierte Rekrutierungspraxis nicht selbst geltend gemacht hat, ist unschädlich, da das Gericht – und zuvor auch das Bundesamt – bei der Prüfung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, sowohl vom Antragsteller vorgebrachte Erkenntnisse als auch anderweitig zutage getretene Erkenntnisse zu berücksichtigen hat, zu denen auch das oben genannte Erkenntnismittel zählt, das dem Bundesamt bereits zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über den Folgeantrag des Antragstellers vorlag. Angesichts der – mangels gegenteiliger Anhaltspunkte – fehlenden Kenntnis des Antragstellers von der intensivierten Rekrutierungspraxis des eritreischen Staates kann dem Antragsteller auch nicht entgegengehalten werden, dass er diese Umstände nicht bereits früher geltend gemacht hat.
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bb) Diese neue Erkenntnis trägt auch mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung bei.
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(1.) Die intensivierte Rekrutierungspraxis des eritreischen Staates stellt eine neue Erkenntnis dar, die jedenfalls in Kombination mit den voraussichtlich unmenschlichen Bedingungen, unter denen der militärische Teil des eritreischen Nationaldienstes abzuleisten ist (ausführlich hierzu OVG Bautzen, U. v. 19.7.2023 – 6 A 178/21.A – BeckRS 2023, 22943 Rn. 31 ff., insbesondere die Ausführungen in Rn. 41 f., auf die das Gericht Bezug nimmt), möglicherweise zu einer Schutzgewährung in Form von subsidiärem Schutz für den Antragsteller, dem die Einziehung in den militärischen Nationaldienst droht, führt (so etwa OVG Bautzen, a.a.O., amtlicher Leitsatz sowie Rn. 43 ff.), so dass es sich um eine neue Erkenntnis handelt, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung für den Antragsteller führen kann.
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(2.) Dass für Annahme einer erheblichen Wahrscheinlichkeit einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung genügt, dass die neue Erkenntnis möglicherweise entscheidungserheblich ist, folgt aus der gebotenen engen Auslegung.
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(a) Bei der Auslegung der Begrifflichkeit „erhebliche Wahrscheinlichkeit“, die auf Art. 40 Abs. 2 RL 2013/32/EU zurückgeht, ist zunächst die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu dieser Vorschrift zu berücksichtigen.
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Ausweislich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu dieser Vorschrift soll sich die Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags darauf beschränken, ob neue Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, die im Rahmen der Entscheidung über den früheren Asylantrag nicht geprüft worden sind und auf die diese bestandskräftige Entscheidung daher nicht gestützt werden konnte, während eine Bewertung der Elemente und Erkenntnisse bereits bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags zu einer Vermengung der unterschiedlichen Etappen des Verfahrens führen würde (U. v. 9.9.2021 – C-18/20 – Rn. 42; U. v. 10.6.2021 – C-921/19 – Rn. 50 f.).
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Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Ablehnung eines Antrags als unzulässig eine Ausnahme von der Pflicht der Mitgliedstaaten darstellt, einen solchen Antrag in der Sache zu prüfen, weshalb die Gründe, aus denen ein Antrag als unzulässig abzulehnen, eng auszulegen sind (U. v. 8.2.2024 – C-216/22 – Rn. 34 f.). Denn die Möglichkeit der Ablehnung eines Folgeantrags rührt daher, dass der Europäische Gesetzgeber es für unverhältnismäßig hielt, jeden Folgeantrag in der Sache prüfen zu müssen, und zwar auch dann, wenn sich der Antragsteller auf irgendeinen neuen Umstand oder irgendeine neue Erkenntnis beruft, unabhängig von deren Relevanz für die Schutzgewährung; infolgedessen sind neue Erkenntnisse und Elemente bereits dann zu berücksichtigen sind, wenn sie für die Beurteilung der Begründetheit eines Antrags maßgeblich erscheinen (vgl. U. v. 8.2.2024 – C-216/22 – Rn. 50 f.).
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(b) Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stellt auch der EASO Practical Guide on Subsequent Applications (Stand: Dezember 2021), auf den die Gesetzesbegründung zur Änderung des § 71 AsylG Bezug nimmt (BT-Drs. 20/9463 S. 59), zur Bestimmung, ob die Wahrscheinlichkeit einer Schutzgewährung erheblich erhöht wird, darauf ab, ob es sich um eine für die Schutzgewährung neue glaubhafte Tatsache mit unmittelbarem Bezug zu den Voraussetzungen der Schutzansprüche handelt, die von entscheidender Bedeutung für die Risikobewertung im Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland sein könnte (a.a.O., S. 30 f.).
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(c) Für eine restriktive Auslegung der Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig spricht schließlich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur bisherigen Fassung des § 71 AsylG – der die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens von dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig machte –, wonach aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG ein Folgeantrag nur dann als unzulässig abgelehnt werden durfte, wenn die neuen Tatsachen „von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet“ waren, „zur Asylberechtigung beziehungsweise zur Anerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen“ (so BVerfG, B. v. 4.12.2019 – 2 BvR 1600/19 – BeckRS 2019, 32778 Rn. 21).
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(d) Infolgedessen ist es geboten, den Begriff „erhebliche Wahrscheinlichkeit“ eng auszulegen, wobei nach Auffassung des Gerichts die Frage, ob ein Element bzw. eine Erkenntnis mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung beiträgt, bereits dann zu bejahen ist, wenn die neue Erkenntnis bzw. das neue Element möglicherweise entscheidungserheblich ist.
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(3.) Der Annahme einer erheblichen Wahrscheinlichkeit einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung steht schließlich auch nicht entgegen, dass die dem Antragsteller ursprünglich zuerkannte Flüchtlingseigenschaft aufgrund der mit Urteil des Amtsgerichts München vom 16. April 2018 (272 Js …) verhängten Freiheitsstraße von 20 Monaten wegen versuchter gefährliche Körperverletzung in Mittäterschaft widerrufen wurde.
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Unabhängig davon, ob für die Beurteilung des Beitrags zu einer günstigeren Entscheidung allein auf die potentielle Erheblichkeit der neuen Erkenntnisse bzw. Elemente abzustellen ist – dann wäre die frühere Straftat des Antragstellers für die Zulässigkeitsprüfung seines Folgeantrags irrelevant – oder ob – entgegen dem Wortlaut und der gebotenen restriktiven Auslegung etwaiger Unzulässigkeitsgründe – die eine Schutzgewährung ausschließenden Gründe, vgl. § 3 Abs. 2 bis 4 und § 4 Abs. 2 AsylG, bereits im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu berücksichtigen sind, kann jedenfalls im vorliegenden Fall gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, dass die damalige Straftat des Antragstellers der erheblichen Wahrscheinlichkeit einer für den Antragstellers günstigeren Entscheidung entgegensteht.
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Ausweislich der Ausführungen im Widerrufsbescheid war die zum Zeitpunkt des Widerrufs konkret drohende Wiederholungsgefahr für die damalige Entscheidung ebenso maßgeblich wie eine Abwägung des Bleibeinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen Interesse der Gefahrenabwehr, die zugunsten der öffentlichen Interessen ausfiel. Bereits aufgrund des Verstreichens von mehr als sechs Jahren seit der erwähnten Verurteilung des Antragstellers kann nicht davon ausgegangen werden, dass die damaligen Erwägungen ohne Weiteres unverändert Fortbestand haben können. Vielmehr handelt es sich insofern um Fragen, die eine vertiefte Prüfung erfordern und daher nicht die Ablehnung des Folgeantrags als unzulässig rechtfertigen können.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
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3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.