Titel:
Nachbarantrag gegen Baugenehmigung für Wohnhaus mit Betreuungs- und Unterstützungsleistungen für Personen nach einer stationären Suchtbehandlung
Normenketten:
BauNVO § 4 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3, § 5 Abs. 1, § 15 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, § 80a Abs. 3
Leitsätze:
1. Anlagen für soziale Zwecke sind Anlagen, die im weiteren Sinne der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt dienen und bei denen Nutzungen, die auf Hilfe, Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen ausgerichtet sind, im Vordergrund stehen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein störendes Verhalten von Bewohnern einer Anlage sind dieser baurechtlich nur dann zuzurechnen, wenn dies eine typische Begleiterscheinungen der baulichen Anlage ist und es sich hierbei noch um städtebauliche Belange handelt. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung im Rahmen einer Drittanfechtungsklage ist zwar die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung. Eine davon abweichende Verlagerung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kommt allerdings dann in Betracht, wenn sich die Sach- und Rechtslage zugunsten des Genehmigungsinhabers verändert hat, da kein Grund besteht, eine in der Vergangenheit rechtswidrig erteilte Genehmigung aufzuheben, wenn sie mittlerweile sofort wieder erteilt werden müsste. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gebietsverträglichkeit, Anlage für soziale Zwecke, betreutes Wohnen stationär erfolgreich behandelter Suchtkranker, Anlagen für soziale Zwecke, Gebietserhaltungsanspruch, Dorfgebiet, allgemeines Wohngebiet, Bestimmtheit
Fundstelle:
BeckRS 2024, 13198
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller als Gesamtschuldner. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Beteiligten streiten im Wege einstweiligen Rechtsschutzes über die Rechtmäßigkeit einer der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung für den „Umbau einer Scheune zu einem Wohnhaus mit zwei Wohnungen für insgesamt sieben Bewohnereinheiten“ auf dem Grundstück FlNr. … der Gemarkung … (* …*) in … Das eingangs genannte Grundstück befindet sich im Stadtgebiet von … an der südlichen Seite der „…“, die von Osten nach Westen verlaufend zur „…“ wird. Für das Grundstück existiert kein Bebauungsplan. Nördlich der … befinden sich ein großflächiger Supermarkt, ein Sportverein mit Tennisplatz, ein Feuerwehrgebäude, eine Fahrschule, eine Textilreinigung, ein Gasthof und im Übrigen Wohnhäuser. Südlich der … befinden sich überwiegend Wohnhäuser, eine Möbeltischlerei, zwei Trockenbau-Handwerksunternehmen (teilweise in aufgegebenen landwirtschaftlichen Hofstellen) und eine Bäckerei.
2
Die Antragsteller sind Eigentümer des östlich angrenzenden Grundstücks FlNr. … (* …*), welches mit einem Wohnhaus bebaut ist und von den Antragstellern selbst bewohnt wird.
3
Mit Bauantrag vom 16. Juni 2023 beantragte die Beigeladene die Baugenehmigung für den Umbau der auf dem eingangs genannten Grundstück liegenden Scheune. Die nicht mit Genehmigungsstempel versehene Nutzungsbeschreibung der Beigeladenen zu dem Vorhaben enthält folgende Aussagen:
„Die baufällige Scheune soll zu einem Wohnhaus umgebaut werden, welches von Bewohnern des ambulanten Bereichs der … genutzt werden soll. Diese Bewohner haben bereits die Behandlung ihrer Suchterkrankung in der besonderen Wohnform (stationärer Bereich) der … erfolgreich abgeschlossen und sich stabilisiert. Sie benötigen zwar weiterhin Unterstützung in verschiedenen Lebensbereichen, leben ansonsten aber eigenverantwortlich in der Wohngruppe und erhalten hier im Rahmen der Assistenz zum Wohnen in einer Wohngemeinschaft entsprechende Betreuungs- und Unterstützungsleistungen. (…) Es sollen zwei Nutzungseinheiten entstehen, wobei die Wohnung im Erdgeschoss über drei Bewohnereinheiten verfügt und die Wohnung im ersten Stock über vier. Hierbei soll die Wohnung im Erdgeschoss barrierefrei seniorengerecht errichtet werden. Da die Bewohner der … teils bereits das Rentenalter erreicht haben oder aufgrund ihrer Suchterkrankung schon früher als üblich an altersbedingten Einschränkungen auch bei der Mobilität leiden, ist dies sinnvoll. (…) Die Bewohner verfügen in der Regel über keine großen finanziellen Ressourcen, sodass ein eigener PKW die absolute Ausnahme darstellt. (…)“
4
Mit streitgegenständlichem Bescheid des Landratsamtes vom 2. Februar 2024 wurde die Baugenehmigung für den Umbau unter Erteilung einer Abweichung von der Stellplatzsatzung der Standortgemeinde erteilt. Auf den Bescheid wird Bezug genommen.
5
Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 26. Februar 2024 – hier eingegangen am gleichen Tag – ließen die Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und beantragen zugleich einstweiligen Rechtsschutz. Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 19. April 2024 im Wesentlichen vorgetragen, dass in dem hier beantragten und genehmigten Bauvorhaben Bewohner mit chronischer Suchterkrankung einziehen sollten. Die beigeladene Bauherrin beschreibe jedoch in keiner Weise, wie diese künftigen Bewohner konkret unterstützt und kontrolliert und vor allem, das künftige Wohnumfeld in Form der Nachbarschaft von naheliegenden Problemen und Folgeerscheinungen der hier zu behandelnden, chronischen Suchterkrankten geschützt werden sollten. Nach der Beschreibung der beigeladenen Bauherrin sollten die unterzubringenden Personen zwar ihre stationäre Behandlung bereits erfolgreich abgeschlossen haben, dennoch begegneten dieser Beschreibung erheblichste Bedenken, welche nicht zuletzt aufgrund statistischer Erfahrung und kriminalistischen Wahrscheinlichkeiten naheliegend seien. Nach Erhebungen der polizeilichen Kriminalstatistik würden rund 30 Prozent der Straftaten im Bereich Gewaltkriminalität unter Alkoholeinfluss begangen (wird weiter ausgeführt unter Bezug auf Statistiken und andere Beweismittel). Hinzu käme, dass nach wissenschaftlichen Veröffentlichungen nur etwa 15 Prozent der suchterkrankten Personen dauerhaft abstinent leben könnten (wird weiter ausgeführt und belegt). Es bestehe bei ehemaligen Drogenabhängigen eine Rückfallwahrscheinlichkeit von cirka 78 Prozent (wird weiter ausgeführt). Bei langjährigen Missbrauchslebensläufen seien nach wissenschaftlichen Untersuchungen problematische hirnorganische und psychische Langzeitfolgen zu verzeichnen (wird weiter ausgeführt). Das Gericht möge sich eine Situation vor Augen bringen, in der beispielsweise Kinder auf die dortigen Bewohner träfen und in ihrer kindlichen, naiven Art möglicherweise Dinge täten und sagten, die bei den Bewohnern Reaktionen und Verhaltensweisen auslösten, die nicht mehr zu kontrollieren sei. Der Antragsgegner habe im Rahmen seiner Interessensabwägung nach § 34 Abs. 3a BauGB die Interessen der Nachbarschaft außer Acht gelassen. Die Umgebung des Vorhabens sei durch Wohnbebauung mit ansässigen Familien mit kleineren Kindern geprägt. Bei einer Genehmigung des hiesigen Bauvorhabens würde gerade in diesem familiär geprägten und recht ruhigen Wohngebiet eine Einrichtung installiert werden, die durch Bewohner geprägt werde, die im Hinblick auf die geschilderten Gefahren einen absoluten Fremdkörper darstellen und nicht unerhebliche Gefahren für die anliegende Wohnbevölkerung und Kinder mit sich bringen würden (wird weiter ausgeführt). Die unmittelbare Nähe des Bauvorhabens zum nächsten Einkaufsmarkt (in wenigen hundert Meter Entfernung) ermögliche es den Bewohnern, sich problemlos mit Suchtmitteln (insbesondere Alkohol) einzudecken. Es sei nicht im Ansatz ersichtlich, wie künftiger Missbrauch, welcher letztendlich zu einer erheblichen Gefahrenquelle für die Anwohner werden könne, verhindert werden solle. Insbesondere sei kein konkretes Schutzkonzept vorgelegt worden, wie künftig zu erwartende Konfliktsituationen verhindert werden könnten. Die Antragsteller fürchteten aufgrund Substanzmissbrauchs erhebliche Schwierigkeiten, aggressives Verhalten und Gefahrenquellen für vorhandene Kinder. Es seien Übergriffe, Gewalthandlungen und alkohol- und drogenbedingte Ausfallerscheinungen zu erwarten. Derartige Einrichtungen seien zwar grundsätzlich sinnvoll und dem Grunde nach zu befürworten, allerdings hätten sie nach Auffassung der Antragsteller in einem Wohngebiet nichts zu suchen. Anders als die … selbst, welche sich im Außenbereich befinde, wo keine direkten Nachbarn betroffen seien und auch keine Infrastruktur zur Versorgung mit Alkohol und Suchtmitteln vorhanden sei, sei der streitgegenständliche Standort durch solche „Gefahrenquellen“ geprägt (wird weiter ausgeführt). Es fehle ein nachvollziehbares und durchsetzbares Schutzkonzept, wie letztendlich die vorgesehenen Bewohner zum einen vor künftigem Substanzmissbrauch und zum anderen vor problematischen Kontakten zum Wohnumfeld gehindert werden könnten. Dies ergebe sich auch aus dem Rücksichtnahmegebot nach § 34 BauGB i.V.m. § 15 BauNVO.
6
Mit Schriftsatz vom 26. Februar 2024 beantragen die Antragsteller,
die aufschiebende Wirkung der eingereichten Klage bis zur Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils anzuordnen.
7
Der Antragsgegner beantragt,
8
Zur Begründung führt der Antragsgegner im Wesentlichen aus, dass nachbarschützende Vorschriften nicht verletzt seien. Die Abstandsflächen seien eingehalten oder die Einhaltung von Abstandsflächen sei nicht nötig (wird weiter ausgeführt). Die Antragsteller würden auch nicht im Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Es ergäben sich keine neuen Einsichtsmöglichkeiten durch den Balkon auf das Antragstellergrundstück (wird weiter ausgeführt). Seitens des Antragsgegners sei nicht nachvollziehbar, inwiefern die Ausführungen des Vertreters der Antragsteller baurechtliche Relevanz haben sollten, da Baurecht grundstücksbezogen und nicht personenbezogen auszulegen sei.
9
Die Beigeladene äußerte sich nicht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
10
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
11
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig, aber unbegründet.
12
Nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, soweit der Klage – wie im vorliegenden Fall – aufgrund § 80 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt. Hierbei trifft das Gericht eine originäre Ermessensentscheidung, welche sich in erster Linie an den Erfolgsaussichten der Hauptsache (BayVGH, B. v. 26.4.2021 – 15 CS 21.1081 – juris Rn. 22) orientiert. Dem Charakter des vorläufigen Rechtsschutzes entspricht es, dass diese Prüfung grundsätzlich nur summarisch erfolgt, da für eine Beweisaufnahme grundsätzlich bei diesen Verfahren kein Raum bleibt. Bei offenen Erfolgsaussichten wird die Ermessensentscheidung anhand einer Interessenabwägung getroffen (BayVGH a.a.O.).
13
1. Die Anfechtungsklage hat nach summarischer Prüfung wohl keine Aussicht auf Erfolg, da die angegriffene Baugenehmigung rechtmäßig ist und die Antragsteller nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
14
Einem Kläger kommt im Rahmen einer Drittanfechtungsklage gegen eine an einen Dritten gerichtete Baugenehmigung kein Vollüberprüfungsanspruch zu. Vielmehr kann der Kläger als Nachbar nur solche Rechtsverletzungen ins Feld führen, die auf Normen beruhen, die in qualifizierter und individualisierter Weise gerade auch dem Schutz des Klägers dienen (BayVGH, B.v. 26.5.2020 – 15 ZB 19.2231 – juris Rn. 8). Soweit ein Vorhaben im Innenbereich in Streit steht, sind solche (bauplanungsrechtlich) drittschützenden Rechte regelmäßig nur aus dem Gebot der Rücksichtnahme oder aus einem im Anwendungsbereich des § 34 Abs. 2 BauGB denkbaren Gebietserhaltungsanspruch ableitbar.
15
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung im Rahmen einer Drittanfechtungsklage ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung. Eine davon abweichende Verlagerung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kommt allerdings dann in Betracht, wenn sich die Sach- und Rechtslage zugunsten des Genehmigungsinhabers verändert hat, da kein Grund besteht, eine in der Vergangenheit rechtswidrig erteilte Genehmigung aufzuheben, wenn sie mittlerweile sofort wieder erteilt werden müsste (BVerwG, B. v. 23.4.1998 – 4 B 40/98 – juris Rn. 3 m.w.N. = NVwZ 1998, 1179).
16
1.1 Der Gebietserhaltungsanspruch gibt Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet einen Abwehranspruch gegen nach der Art der baulichen Nutzung unzulässige Vorhaben, um sich gegen eine schleichende Umwandlung des Baugebiets zu wehren. Der Anspruch beruht auf dem Gedanken einer bodenrechtlichen Schicksalsgemeinschaft aller Eigentümer von Grundstücken innerhalb eines Baugebiets und ist deswegen von einer konkreten Betroffenheit durch das in Frage stehende Vorhaben unabhängig. Er gilt grundsätzlich wesensgleich im Anwendungsbereich von § 34 Abs. 2 BauGB (zum Ganzen BVerwG, B.v. 22.12.2011 – 4 B 32/11 – juris Rn. 5 m.w.N. = ZfBR 2012, 378, BayVGH, B.v. 23.2.2021 – 15 CS 21.403 – juris Rn. 62 m.w.N.).
17
Der Gebietserhaltungsanspruch ist dabei räumlich grundsätzlich auf diejenigen Grundstückseigentümer begrenzt, deren Grundstücke im gleichen Baugebiet liegen, wobei nicht der Geltungsbereich des Bebauungsplans, sondern die konkrete Baugebietsgrenze maßgeblich ist (BVerwG, B.v. 10.1.2013 – 4 B 48/12 – juris Rn. 4 m.w.N. = BauR 2013, 934; BayVGH, B.v. 18.2.2020 – 15 CS 20.57 – juris Rn. 18 = NVwZ-RR 2020, 671).
18
Ein Gebietserhaltungsanspruch existiert demgegenüber nicht, bei sog. Gemengelagen bei denen die Anwendung des § 34 Abs. 2 BauGB ausscheidet (BayVGH, B.v. 12.2.2019 – 9 CS 18.177 – juris Rn. 19 m.w.N.).
19
a) Es kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob die Eigenart der näheren Umgebung nach § 34 Abs. 2 BauGB tatsächlich einem Dorfgebiet im Sinne von § 5 Abs. 1 BauNVO oder einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 Abs. 1 BauNVO entspricht, denn das Bauvorhaben der Beigeladenen wäre selbst bei Annahme eines allgemeinen Wohngebiets dort entweder als Wohngebäude oder Anlage für soziale Zwecke allgemein zulässig (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 3 BauNVO). Anlagen für soziale Zwecke sind dabei Anlagen, die im weiteren Sinne der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt dienen und bei denen Nutzungen, die auf Hilfe, Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen ausgerichtet sind, im Vordergrund stehen (BVerwG, B.v. 13.7.2009 – 4 B 44/09 – juris Rn. 5 m.w.N. = BauR 2009, 1556; BayVGH, U.v. 16.1.2014 – 9 B 10.2528 – juris Rn. 25). Der Begriff des Wohnens ist dagegen durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet (BVerwG, B.v. 20.12.2016 – 4 B 49/16 – juris Rn. 7 m.w.N. = NVwZ 2017, 723). Selbst bei weit überwiegender Betreuungs- oder Pflegeleistung kann – wie § 3 Abs. 4 BauNVO klarstellt – eine Wohnnutzung gegeben sein, wenn diesen Leistungen eine freiwillige Inanspruchnahme zugrunde liegt (zum „(freiwillig) sozialpsychiatrisch betreuten Wohnen für psychisch kranke Menschen“ im reinen Wohngebiet etwa BayVGH, B.v. 25.8.2009 – 1 CS 09.287 – juris Rn. 33 m.w.N.; vgl. auch etwa König/Roeser/Stock BauNVO § 3 Rn. 22 ff.; 30 ff.; § 4 Rn. 51 ff.). Das Gericht kann aufgrund der zu ungenauen Angaben in der – im Übrigen nicht als Bestandteil der Baugenehmigung gestempelten – „Nutzungsbeschreibung“ nicht en Detail erkennen, ob der Aspekt des „Wohnens“ oder der „sozialen Fürsorge“ bei dem Bauvorhaben im Vordergrund steht, wobei aufgrund der anscheinend weitgehend selbstständigen Lebensgestaltung viel dafür spricht, dass vorliegend eine Wohnnutzung gegeben ist. Dies ist allerdings auch entscheidungsunerheblich, da selbst dann, wenn Fürsorgeleistungen im Vordergrund stünden, von einer zulässigen Anlage für soziale Zwecke auszugehen wäre.
20
b) Das Vorhaben erfüllt auch die Anforderungen an das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „Gebietsverträglichkeit“.
21
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U.v. 21.3.2002 – 4 C 1/02 – BVerwGE 116, 155; B.v. 28.2.2008 – 4 B 60.07 – BayVBl 2008, 542) sind die in den Baugebieten der §§ 2 bis 9 BauNVO allgemein (regelhaft) zugewiesenen Nutzungsarten ebenso wie die Vorhaben, die ausnahmsweise zugelassen werden können, unzulässig, wenn sie den jeweiligen Gebietscharakter gefährden und deshalb gebietsunverträglich sind. Das ungeschriebene Erfordernis der Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung rechtfertigt sich nach dieser Rechtsprechung aus dem typisierenden Ansatz der Baugebietsvorschriften in der Baunutzungsverordnung. Ein Vorhaben in einem Baugebiet nach §§ 2 bis 9 BauNVO ist, auch wenn es nach dem Nutzungskatalog des jeweiligen Baugebiets an sich allgemein oder ausnahmsweise zulässig wäre, mit der Zweckbestimmung des Baugebiets nicht vereinbar und damit unzulässig, wenn es – bezogen auf den jeweiligen Charakter des Gebiets – aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirkt. Gegenstand der Betrachtung sind die Auswirkungen, die typischerweise von einem Vorhaben der beabsichtigten Art, insbesondere nach seinem räumlichen Umfang und der Größe seines betrieblichen Einzugsbereichs, der Art und Weise der Betriebsvorgänge, dem vorhabenbedingten An- und Abfahrtsverkehr sowie der zeitlichen Dauer dieser Auswirkungen und ihrer Verteilung auf die Tages- und Nachtzeiten, ausgehen (zum Ganzen BayVGH, B.v. 29.1.2016 – 15 ZB 13.1759 – juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 24.7.2018 – 2 CS 18.1180 – juris Rn. 6 m.w.N.). Die Prüfung der Gebietsverträglichkeit ist der Prüfung der Einzelausprägungen des Gebots der Rücksichtnahme – etwa in § 15 Abs. 1 BauNVO – vorgelagert und anhand eines typisierenden Maßstabs – also unabhängig von Besonderheiten des Einzelfalls – zu beurteilen (BVerwG, U.v. 31.3.2002 – 4 C 1/02 – juris Rn. 13 = BVerwGE 116, 155; König/Roeser/Stock BauNVO § 8 Rn 19).
22
aa) Hiernach sind bei der gebotenen typisierenden Betrachtung keinerlei gebietsunverträgliche Auswirkungen durch das Bauvorhaben der Beigeladenen zu befürchten. Die Anlage kommt, selbst wenn sie noch als Anlage für soziale Zwecke zu bewerten wäre, einer Wohnnutzung bereits sehr nahe, insbesondere da mit keinem erhöhten An- und Abfahrtsverkehr zu rechnen wäre. Auch Besucher- oder „Kundenverkehr“ ist bei dieser Anlage typischerweise nicht zu befürchten. Städtebaulich relevante Belästigungen (dazu sogleich), sind bei Anlagen dieser Art typischerweise nicht zu erwarten (so in der Sache auch zu einer Suchtberatungsstelle im Allgemeinen Wohngebiet: OVG Lüneburg, B.v. 18.1.2023 – 1 LA 89/22 – juris Rn. 13 = NVwZ-RR 2023, 313).
23
bb) Soweit sich die Antragsteller auf ein subjektiv empfundenes Stören dadurch berufen, dass die Bewohner der Anlage suchtkranke Menschen sind, ist vorab deutlich klarzustellen, dass das Baurecht nach herrschender Meinung keinen sog. „Milieuschutz“ vermittelt (BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C13/94 – juris Rn. 72 = BVerwGE 101, 364). Im Übrigen sind auch die anderen von den Antragstellern befürchteten, „naheliegenden Probleme/Folgeerscheinungen wie aggressivem Verhalten und Übergriffen“ in keiner (bei typisierender Prüfung) anzunehmenden Weise substantiiert. Soweit sich die Antragsteller auf eventuelle Straftaten durch die Bewohner berufen, beziehen sie sich auf Statistiken über die Häufigkeit von Alkoholeinfluss bei Straftaten. Dabei sei angemerkt, dass aus der Tatsache, dass viele Straftaten unter Alkoholeinfluss begangen werden, nicht der Rückschluss gezogen werden kann, dass jeder oder auch nur die Mehrheit der alkoholkranken Menschen Straftäter sind. Es ist in keiner Weise belegt, dass ein betreutes Wohnen der oben genannten Art typischerweise mit einer Zunahme von Straftaten oder Übergriffen einhergeht.
24
Die Antragsteller räumen zwar letztlich auch ein, dass die Anlage nur von stationär bereits erfolgreich therapierten Suchtkranken bewohnt werden soll, beziehen sich jedoch auf eine Rückfallgefährdung. Noch viel weniger trägt mit den obigen Ausführungen dieses Argument.
25
Im Übrigen wäre „störendes Verhalten“ der Bewohner der Anlage baurechtlich nur dann zuzurechnen, wenn dies eine typische Begleiterscheinungen der baulichen Anlage ist und es sich hierbei noch um städtebauliche Belange handelt (zu „milieubedingten“ Begleiterscheinungen eines Bordellbetriebs etwa BVerwG, B.v. 2.11.2015 – 4 B 32/15 – juris Rn. 4 = NVwZ 2016, 151; BayVGH, B.v. 10.6.2010 – 1 ZB 09.1971 – juris Rn. 20; U.v. 9.9.2020 – 9 BV 17.2417 – juris Rn. 25 f. = GewArch 2021, 41). Dabei ist höchstrichterlich geklärt, dass „milieubedingte Begleiterscheinungen“ im städtebaulichen Sinne nicht solche Aspekte darstellen können, die in keinem Baugebiet zulässig wären, wie die auch hier angeführten Straftaten oder aggressive Belästigungen (BVerwG, U.v. 9.11.2021 – 4 C 5/20 – juris Rn. 16 m.w.N. = BVerwGE 174, 118). Gegen diese – der baulichen Anlage nicht mehr zurechenbaren Folgeentscheidungen, die mit baurechtlichen Mitteln nicht mehr gelöst werden können – ist mit Mitteln des Ordnungs- und Polizeirechts vorzugehen (BVerwG a.a.O.).
26
1.2 Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind Bauvorhaben im Einzelfall unzulässig, wenn Sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – juris Rn. 18 ff. = BVerwGE 94, 151). § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO beinhaltet nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, B.v. 13.5.2002 – 4 B 86/01 – juris Rn. 4 = NVwZ 2002, 1384) einen Gebietsprägungserhaltungsanspruch. Für einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist jedenfalls im Hinblick auf die Aspekte „Anzahl“ und „Umfang“ ein Umschlagen von „Quantität in Qualität“ notwendig (BVerwG, U.v. 16.3.1995 – 4 C 3/94 – juris Rn. 17 = NVwZ 1995, 899).
27
Ein Verstoß im Einzelfall gegen die Zweckbestimmung der Baugebiete ist, unabhängig davon, ob es sich um ein allgemeines Wohngebiet oder ein Dorfgebiet handelt, nicht erkennbar. Wie bereits oben dargestellt, handelt es sich bei der Anlage entweder um eine Wohnnutzung oder eine dem Wohnen sehr stark angenäherte Anlage für soziale Zwecke. Ansatzpunkte für eine Unzulässigkeit im Einzelfall sind weder vorgetragen, noch ersichtlich. Vielmehr läuft die Argumentation der Antragsteller auf eine pauschale und damit typisierende Abwehr von „Wohneinrichtungen“ für Suchtkranke hinaus, die schon oben in dem Aspekt der Gebietsverträglichkeit behandelt wurde. Dies zeigt sich auch daran, dass die Antragsteller die Verweisung solcher Anlagen auf den Außenbereich vorschlagen, wo solche Einrichtungen gar nicht errichtet werden dürfen. Auch die vorgetragene Tatsache, dass sich in der Nähe ein Supermarkt mit Erwerbsmöglichkeiten für Alkohol befindet, ist keine Besonderheit des Einzelfalls in diesem Sinne. Einkaufsmöglichkeiten für Alkohol finden sich in sowohl Dorfgebieten als auch allgemeinen Wohngebiet regelmäßig und typischerweise, wie schon die Zulässigkeit von Tankstellen und Läden zeigt (§ 4 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 3 bzw. § 5 Abs. 2 Nr. 5 und 9 BauNVO). Auch insofern ist dies lediglich eine weitere (vorgelagerte) Facette baurechtlich unbeachtlicher, milieubedingter Begleiterscheinungen, weshalb auf die Argumentation zur Gebietsverträglichkeit verwiesen werden kann.
28
Im Übrigen verweist auch der Antragsgegner zu Recht darauf, dass Baurecht grundstücksbezogen und nicht personenbezogen auszulegen ist (BVerwG, U.v. 23.9.1999 – 4 C 6/98 – juris Rn. 29 = BVerwGE 109, 314; B.v. 5.10.2005 – 4 BN 39/05 – juris Rn. 2 = BauR 2006, 480). Insofern kommt es für die Einzelfallbetrachtung auch nicht darauf an, ob die Antragsteller kleine Kinder haben oder nicht.
29
Obige Ausführungen zu 1.1 und 1.2 gelten auch für § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und den dortigen Begriff der „unzumutbaren Störung/Belästigung“.
30
1.3 Eine Baugenehmigung muss nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG hinreichend bestimmt sein, was bedeutet, dass die Beteiligten – gegebenenfalls nach Auslegung – erkennen können müssen, was von ihnen verlangt oder was ihnen zugemutet werden kann (BVerwG, U.v. 20.4.2005 – 4 C 18/03 – juris Rn. 53 = NVwZ 2005, 933). Der Inhalt der Baugenehmigung bestimmt sich nach der Bezeichnung und den Regelungen im Baugenehmigungsbescheid, der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen (BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 1 CS 20.2637 – juris Rn. 15 m.w.N.; vgl. BVerwG, U.v. 29.11.2012 – 4 C 8/11 – juris Rn. 13 = BVerwGE 145, 145.). Nicht mit Genehmigungsvermerk versehene Unterlagen können nur dann zur Bestimmung des Inhalts der Baugenehmigung herangezogen werden, wenn anderweitig in den gestempelten Bauvorlagen oder im Genehmigungsbescheid auf sie Bezug genommen wird (BayVGH, B.v. 22.1.2024 – 1 CS 23.2030 – juris Rn. 9 m.w.N. = BayVBl 2024, 270). Nachbarn können eine Baugenehmigung unter Verweis auf den Bestimmtheitsgrundsatz nur dann erfolgreich angreifen, wenn sich die Unbestimmtheit gerade auf ein nachbarschützendes Recht bezieht und deswegen eine Verletzung dieses Rechtes nicht ausgeschlossen werden kann (BayVGH, B. v. 26.5.2020 – 15 ZB 19.2231 – juris Rn. 11 m.w.N.).
31
a) Hiernach leidet der Genehmigungsbescheid aktuell an einer nachbarrechtsrelevanten Unbestimmtheit, denn die für die Bestimmung der Zulässigkeit nach der Art der baulichen Nutzung entscheidende „Nutzungsbeschreibung“ ist – im Gegensatz etwa zu den planerischen Bauvorlagen – nicht als Genehmigungsteil gestempelt worden. Auch der pauschale Bezug auf die „geprüften Bauvorlagen“ eingangs der „Hinweise zum Bescheid“ genügt schon deswegen nicht, weil insofern das Abstempeln der Bauvorlagen regelmäßig dazu dient, geprüfte Unterlagen von sonstigen Unterlagen zu unterscheiden. Eine explizite Bezugnahme auf die Nutzungsbeschreibung ist ebenfalls nicht erfolgt.
32
Im Hinblick darauf, dass nach den eingangs genannten Maßstäben jedoch Veränderungen zugunsten des Bauherren berücksichtigt werden müssen und es sich bei der mangelnden Bezugnahme um formal durch Ergänzungsbescheid oder nachträgliche Stempelung behebbare Mängel handelt, kann dennoch nicht von überwiegenden Erfolgsaussichten der Hauptsache ausgegangen werden.
33
b) Soweit die Antragsteller ein mangelndes „Konzept“ zu ihrem Schutz vor den Bewohnern der Einrichtung anführen, kann hierin jedoch keine nachbarrechtlich relevante Unbestimmtheit gesehen werden. Einerseits ist bereits mehrfach ausgeführt worden, dass Belästigungen der befürchteten Art mit Mitteln des Polizeirechts zu begegnen wäre. Andererseits ist auch nicht ersichtlich, was für ein Konzept die Beigeladene erstellen könnte, um derartige Störungen zu vermeiden. Die Antragsteller befürchten unter anderem Straftaten. Wie sich jemand, dem die Sanktionierung durch Strafrecht egal ist, durch sonstige Vorgaben/Konzepte beeindruckt zeigen könnte, verbleibt schleierhaft. Im Übrigen soll die geplante Einrichtung nach der Nutzungsbeschreibung gerade Hilfestellungen durch Betreuungsangebote liefern, deren Sinn es sich sicherlich auch ist, Konfliktsituationen ebenso wie die befürchteten Rückfälle in die Sucht zu vermeiden.
34
Der Antrag ist daher abzulehnen.
35
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 i.V.m. § 159 Satz 2 VwGO. Da sich die Beigeladene mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es auch nicht der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO, ihr einen Kostenerstattungsanspruch zuzusprechen. Sie trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
36
3. Die Entscheidung zum Streitwert fußt auf § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs.