Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 21.05.2024 – 203 StObWs 138/24
Titel:

Sachaufklärungspflicht im Strafvollzugsverfahren

Normenketten:
StVollzG § 109, § 120 Abs. 1, Abs. 2
StPO § 244 Abs. 2
ZPO § 121 Abs. 2
Leitsätze:
1. Begehrt der Strafgefangene im Strafvollzugsverfahren die Feststellung der Nichtbescheidung oder der nicht rechtzeitigen Bescheidung eines Antrags, obliegt es ihm, zur Begründung des Rechtsschutzbedürfnisses für das gerichtliche Verfahren eine – rechtzeitige – Antragstellung darzutun. (Rn. 7)
2. Hat der Antragsteller eine Antragstellung schlüssig vorgetragen, eröffnet dies der Strafvollstreckungskammer die Möglichkeit, im Rahmen ihrer Sachaufklärungspflicht nach § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 244 Abs. 2 StPO im Freibeweisverfahren zu ermitteln, ob die Behauptung zutrifft. Einseitiges Vorbringen darf der Tatrichter nicht ohne weiteres der Entscheidung zugrunde legen. Der erforderliche Umfang der Aufklärung hängt vom konkreten Einzelfall ab. (Rn. 8)
1. Eine anwaltliche Vertretung ist dann gemäß § 120 Abs. 2 StVollzG, § 121 Abs. 2 ZPO erforderlich, wenn nach Umfang, Bedeutung und Schwierigkeit der Sache zu besorgen ist, der Antragsteller werde seine Interessen ohne anwaltliche Hilfe nicht sachgerecht wahrnehmen können. In die Bewertung fließt dabei auch ein, ob die besonderen persönlichen Verhältnisse des Rechtssuchenden in Bezug auf die konkrete Streitigkeit oder den Verfahrensgegenstand eine Beiordnung erforderlich machen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der insoweit vorzunehmenden Prüfung der subjektiven Merkmale ist darauf abzustellen, inwieweit der Antragsteller nach seiner Vorbildung, seinen geistigen Fähigkeiten sowie seiner Schreib- und Redegewandtheit zur Darstellung seines Anliegens sowie zur angemessenen Wahrnehmung seiner Interessen in der Lage ist. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Strafvollzug, Antrag, Feststellungsantrag, Zugang, Hausbriefkasten, Sachaufklärungspflicht, Darlegungslast, Prozesskostenhilfe
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12862

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde der Justizvollzugsanstalt ... wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing vom 20. Februar 2024 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Rechtsbeschwerde der Justizvollzugsanstalt wird als unbegründet zurückgewiesen.
3. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 500.- Euro festgesetzt.
4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren und auf Beiordnung einer Rechtsanwältin wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
1
Die Justizvollzugsanstalt wendet sich mit ihrer Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing vom 20. Februar 2024. Der Entscheidung liegt folgendes prozessuales Geschehen zugrunde:
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Mit Antragsschrift vom 27. Dezember 2023 hat der Strafgefangene bei der Strafvollstreckungskammer beantragt festzustellen, dass das Nichtverbescheiden seines Ausführungsantrags vom 18. Dezember 2023 für den 26. Dezember 2023 zum Grab seiner Mutter rechtswidrig gewesen sei. Die Justizvollzugsanstalt ... ist dem Feststellungsantrag entgegengetreten. Die bei ihr geführten Personalakten enthielten keinen entsprechenden Antrag des Gefangenen vom 18. Dezember 2023, so dass mangels Antragstellung in der Anstalt für den gerichtlichen Antrag kein Rechtsschutzbedürfnis bestehe. Der Antragsteller hat daraufhin sein Vorbringen dahin gehend ergänzt, dass er den Antrag innerhalb der Anstalt in den Abteilungsbriefkasten der Abteilung D2 abgegeben hätte. Daraufhin hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 20. Februar 2024 festgestellt, dass die Nichtverbescheidung des Antrags vom 18. Dezember 20123 rechtswidrig gewesen sei. Nachdem streitig sei, ob der Antrag überhaupt in der Justizvollzugsanstalt gestellt worden wäre, müsse dieser Umstand zulasten der Anstalt gehen, ohne dass es einer weiteren Aufklärung bedürfe. Denn der Antragsteller könne aus Gründen, die in der Sphäre der Anstalt lägen, einen Zugang seines Antrags nicht beweisen.
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Gegen diese ihr am 23. Februar 2024 zugestellte Entscheidung hat die Justizvollzugsanstalt ... mit Schreiben vom 8. März 2024, bei Gericht eingegangen am 12. März 2024, das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde eingelegt und unter Angriff gegen die Beweislastumkehr beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtbescheidung zurückzuweisen. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt ebenfalls die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Antrags des Strafgefangenen. Der Beschwerdegegner beantragt, die Rechtsbeschwerde unter Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts als unbegründet zurückzuweisen.
II.
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Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 116 Abs. 1 StVollzG liegen bereits deshalb vor, da eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. In der Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts ist bereits geklärt, dass auch ein primärer Feststellungsantrag gerichtet auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtverbescheidung eines Antrags auf Lockerungen unter Beachtung der Subsidiarität der Feststellungsklage bei bestehendem Rechtsschutzinteresse zulässig sein kann (vgl. BayObLG, Beschluss vom 23. Januar 2024 – 204 StObWs 578/23 –, juris). Die Rechtsbeschwerde ist jedoch zur Wahrung der einheitlichen Rechtsprechung zur Frage der Reichweite der Amtsermittlung zuzulassen.
III.
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Die Rechtsbeschwerde ist auch weitestgehend begründet. Denn die Strafvollstreckungskammer durfte nicht ohne eine weitere Aufklärung den Vortrag des Strafgefangenen, er hätte am 18. Dezember 2023 bei der Justizvollzugsanstalt ... einen Antrag auf Ausführung für den 26. Dezember 2023 gestellt, als wahr unterstellen. Zutreffend weist die Anstalt in der Rechtsbeschwerde darauf hin, dass sie im erstinstanzlichen Verfahren die Stellung eines Antrages nach der Überprüfung der Gefangenenpersonalakte des Antragstellers bestritten hat.
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1. Im Strafvollzugsverfahren obliegt dem Antragsteller nach § 109 Abs. 2 StVollzG eine Darlegungslast dahingehend, dass sein Antrag auf gerichtliche Entscheidung eine Rechtsverletzung als möglich erscheinen lässt (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Februar 2020 – 2 BvR 1719/19 –, juris Rn. 24 m.w.N.).
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2. Begehrt der Strafgefangene im Strafvollzugsverfahren die Feststellung der Nichtbescheidung oder der nicht rechtzeitigen Bescheidung eines Antrags, obliegt es ihm, zur Begründung des Rechtsschutzbedürfnisses für das gerichtliche Verfahren eine – rechtzeitige – Antragstellung darzutun. Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung muss er mit seinem Begehren zunächst an die Anstalt herangetreten sein (vgl. Senat, Beschluss vom 17. April 2023 – 203 StObWs 61/23 –, juris Rn. 8 zum Verpflichtungsantrag; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12. Januar 2021 – 2 Ws 146/20 –, juris und OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Oktober 2007 – 2 Ws 404/06 –, juris jeweils zu § 109 StVollzG; Arloth/Kräh, StVollzG, 5. Aufl. § 109 Rn. 11 m.w.N.; Bachmann in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baier, Strafvollzugsgesetze, 13. Aufl., Kapitel P II § 109 § Rn. 32).
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3. Hat der Antragsteller – wie hier – eine Antragstellung schlüssig vorgetragen, eröffnet dies der Strafvollstreckungskammer die Möglichkeit, im Rahmen ihrer Sachaufklärungspflicht nach § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 244 Abs. 2 StPO im Freibeweisverfahren zu ermitteln, ob die Behauptung zutrifft (vgl. Arloth/Kräh a.a.O. § 115 Rn. 2; Spaniol in Feest/Lesting/Lindemannn, § 115 StVollzG Rn. 3). Einseitiges Vorbringen darf der Tatrichter nicht ohne weiteres der Entscheidung zugrunde legen (KG Berlin, Beschluss vom 21. September 2020 – 5 Ws 115/19 Vollz-, juris Rn. 31; OLG Koblenz, Beschluss vom 13. September 1989 – 2 Vollz (Ws) 35/89 –, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Januar 1984 – 4 Ws 447/83 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 26. Juli 1984 – 1 Vollz (Ws) 120/84 –, juris; Arloth/Kräh a.a.O. § 115 Rn. 2). Der erforderliche Umfang der Aufklärung hängt vom konkreten Einzelfall ab.
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4. Gemessen daran durfte die Strafvollstreckungskammer ihrer Entscheidung den streitigen Tatsachenvortrag des Antragstellers, er hätte den Antrag mittels „Abgabe“ in den Abteilungsbriefkasten gestellt, nicht ungeprüft zugrunde legen.
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a. Zutreffend ist die Strafvollstreckungskammer zwar davon ausgegangen, dass, sofern sich die Strafvollstreckungskammer im Wege des Freibeweises von einem Einwurf eines schriftlichen Antrags in einen Hausbriefkasten überzeugt hätte, zugunsten des Antragstellers von einer hinreichenden Antragstellung auszugehen wäre. Dies würde auch dann gelten, wenn der weitere Verbleib des Schriftstücks innerhalb des Bereichs der Anstalt nicht mehr geklärt werden könnte.
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b. Hier hat jedoch die Justizvollzugsanstalt nach der Prüfung der Aktenlage das Vorbringen des Strafgefangenen vollumfänglich bestritten und damit auch den von ihm behaupteten Einwurf des Antrags in den Hausbriefkasten in Abrede gestellt. Damit war die Strafvollstreckungskammer ausgehend von den bislang nur vagen Angaben des Strafgefangenen gehalten, zunächst freibeweislich die näheren Umstände der Abgabe des Antrags aufzuklären. Andernfalls wäre es einer Justizvollzugsanstalt in vergleichbaren Feststellungsverfahren nicht möglich, der Behauptung eines Strafgefangenen, er habe ein entsprechendes Schriftstück rechtzeitig in einen anstaltsinternen Briefkasten eingeworfen, prozessual entgegenzutreten.
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5. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer kann daher bereits aus diesem Grund keinen Bestand haben. Es kommt nicht mehr darauf an, dass die Strafvollstreckungskammer sich auch nicht mit der Vorschrift des § 113 Abs. 1 StVollzG und der Frage, inwieweit die der Anstalt vom Antragsteller zugestandenen Entscheidungsfrist angemessen gewesen wäre, auseinandergesetzt hat.
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6. Der Senat weist darauf hin, dass der Antragsteller am 27. November 2023 im gerichtlichen Verfahren noch weitere Anträge gestellt hat, zu denen sich die Strafvollstreckungskammer bislang nicht verhalten hat.
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7. Die weitergehende Rechtsbeschwerde der Justizvollzugsanstalt ist als unbegründet zurückzuweisen. Soweit die Beschwerdeführerin über die Aufhebung des Beschlusses hinausgehend die Zurückweisung des Antrags des Strafgefangenen auf gerichtliche Entscheidung begehrt, war diesem Antrag nicht stattzugeben, da die Sache noch nicht entscheidungsreif ist.
IV.
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1. Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist nicht veranlasst. Im Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz ist auch in der Rechtsbeschwerde eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht vorgeschrieben, so dass die Voraussetzungen von § 121 Abs. 1 ZPO nicht vorliegen. Nach § 120 Abs. 2 StVollzG, § 121 Abs. 2 ZPO wird dem Strafgefangenen neben der Bewilligung von Prozesskostenhilfe ein zur Vertretung bereiter Anwalt nur dann beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist. Eine anwaltliche Vertretung ist dann erforderlich, wenn nach Umfang, Bedeutung und Schwierigkeit der Sache zu besorgen ist, der Antragsteller werde seine Interessen ohne anwaltliche Hilfe nicht sachgerecht wahrnehmen können. In die Bewertung fließt dabei auch ein, ob die besonderen persönlichen Verhältnisse des Rechtssuchenden in Bezug auf die konkrete Streitigkeit oder den Verfahrensgegenstand eine Beiordnung erforderlich machen. Bei der insoweit vorzunehmenden Prüfung der subjektiven Merkmale ist darauf abzustellen, inwieweit der Antragsteller nach seiner Vorbildung, seinen geistigen Fähigkeiten sowie seiner Schreib- und Redegewandtheit zur Darstellung seines Anliegens sowie zur angemessenen Wahrnehmung seiner Interessen in der Lage ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 14. Februar 2022 – 5 Ws 4/22 Vollz –, juris Rn. 5 m.w.N.). Eine Schwierigkeit der Sache, die die Mitwirkung eines Rechtsanwalts gebieten würde, ist vorliegend nicht gegeben. Die in der Erwiderung zur Rechtsbeschwerde wiederholte Behauptung, der Antrag wäre gestellt worden, war dem Antragsteller auch ohne professionelle Unterstützung möglich. Die Antragsgegnerin ist auch nicht anwaltlich vertreten. Die Vertretung durch einen rechtlich geschulten Behördenvertreter steht einer anwaltlichen Vertretung im Sinne der Vorschrift nicht gleich (vgl. KG a.a.O. Rn. 8 m.w.N.).
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2. Die Entscheidung über die Versagung der Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren folgt aus Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, §§ 114, 119 Abs. 1 und § 115 Abs. 1, 2 und 4 ZPO. Mit Blick auf die Höhe des Rentenbescheids und die geringen Verfahrenskosten kommt eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch nach § 115 Abs. 4 ZPO nicht in Betracht. Liegen wie hier die Voraussetzungen für eine Anwaltsbeiordnung im Rahmen einer begehrten Prozesskostenhilfe nicht vor, so ist für die Höhe der von dem Beteiligten für die Verfahrensführung voraussichtlich aufzubringenden Kosten im Sinne von § 115 Abs. 4 ZPO allein auf die eigenen Gerichtskosten abzustellen (OLG Celle, Beschluss vom 13. Januar 2012 – 10 WF 8/12 –, juris; Groß in: Groß, Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe/Verfahrenskostenhilfe, 14. Aufl. 2018, § 115 Einsatz von Einkommen und Vermögen Rn. 136; zur Berechnung bei Strafgefangenen vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 13. Juli 2016 – 9 WF 168/16 –, juris und KG, Beschluss vom 22. März 2013 – 9 W 13/13 –, juris).
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2. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer dieser vorbehalten. Die Festsetzung des Geschäftswerts richtet sich nach § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 52, 60, 65 GKG.