Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 05.06.2024 – 101 AR 63/24
Titel:

Unwirksamkeit eines Verweisungsbeschlusses wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot

Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 1
ZPO § 12, § 17, § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 37 Abs. 1, § 281 Abs. 2 S. 4
Leitsätze:
1. Im Fall eines gerichtlichen Zuständigkeitsstreits ist auch die beklagte Partei berechtigt, die Zuständigkeitsfrage in einem Verfahren gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO klären zu lassen. (Rn. 15)
2. Ein Verweisungsbeschluss ist unter Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs ergangen, wenn der Verweisungsantrag zusätzliche Fragen aufwirft, das Gericht aber von einer ergänzenden Anhörung der beklagten Seite absieht und über den Verweisungsantrag entscheidet, ohne ihn der Gegenseite zur Kenntnis gebracht und eine Frist abgewartet zu haben, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann. (Rn. 21 – 24)
3. Ein Verweisungsbeschluss verstößt gegen das Willkürverbot, wenn sich das verweisende Gericht über seine eigene unzweifelhaft und offensichtlich gegebene Zuständigkeit für die Klage hinwegsetzt. (Rn. 28)
4. Nach Klageerhebung bei einem zuständigen Gericht kann die klagende Partei die unter mehreren nicht ausschließlichen Gerichtsständen getroffene Wahl nicht mehr durch Verweisungsantrag abändern. Ist das angerufene Gericht nur für die Klage gegen einen von mehreren Beklagten zuständig, scheidet eine Gesamtverweisung des Rechtsstreits an das ursprünglich gemeinsam zuständige Gericht aus. (Rn. 30)
Schlagworte:
Verweisung, Gerichtsstandsvereinbarung, Willkürverbot
Fundstellen:
FDZVR 2024, 012861
NJOZ 2024, 819
BeckRS 2024, 12861
LSK 2024, 12861

Tenor

(Örtlich) zuständig ist das Landgericht Nürnberg-Fürth.

Gründe

I.
1
Die Parteien des Hauptsacheverfahrens streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 2. März 2023 in K. ereignet hat. Mit ihrer zum Landgericht Nürnberg-Fürth eingereichten Klage forderte die Klägerin Ersatz des Schadens, der an dem von ihr geleasten Kraftfahrzeug entstanden sein soll. Ihre Klage richtete sie gegen den im Bezirk des Landgerichts Essen wohnhaften Fahrer und Halter des weiteren unfallbeteiligten Personenkraftwagens und dessen in N. ansässige Haftpflichtversicherung. Wegen der örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts bezog sie sich auf den Sitz des Haftpflichtversicherers in N.
2
Die Beklagten rügten mit der Verteidigungsanzeige die örtliche Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts und „beantragten“ die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Kassel „zur dortigen Verbindung“. Nachdem die Klägerin nochmals auf den Sitz der Haftpflichtversicherung in N. hingewiesen hatte, machten die Beklagten geltend, dass das Landgericht Nürnberg-Fürth nur für die Klage gegen die Haftpflichtversicherung örtlich zuständig, im Übrigen aber unzuständig sei. Daraufhin beantragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 8. Januar 2024 die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Kassel mit der Begründung, dass im Bezirk dieses Gerichts der Unfallort liege. Dort bestehe mithin ein gemeinsamer Gerichtsstand für beide Beklagte.
3
Ohne die Beklagten zu diesem Antrag anzuhören, erklärte sich das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Beschluss vom 9. Januar 2024 für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht Kassel. Zur Begründung führte es aus, das angegangene Gericht sei örtlich unzuständig; hinsichtlich der Haftpflichtversicherung, der Beklagten zu 2), sei insoweit von einer entsprechenden Gerichtsstandsvereinbarung auszugehen.
4
Mit Beschluss vom 2. Februar 2024 übernahm das Landgericht Kassel den Rechtsstreit nur hinsichtlich des Fahrzeugführers und Halters, des (damaligen) Beklagten zu 1). Hinsichtlich der Haftpflichtversicherung lehnte es die Übernahme des Rechtsstreits ab, weil die Verweisung insoweit willkürlich erfolgt sei. Mit der Anrufung des Landgerichts Nürnberg-Fürth habe die Klägerin ein für diese Beklagte örtlich zuständiges Gericht gewählt. Die Wahl sei mit der Klagezustellung unwiderruflich und bindend geworden.
5
Einer Verweisung stehe der Grundsatz der perpetuatio fori entgegen. Zudem entbehre die Annahme einer Gerichtsstandsvereinbarung jeglicher Grundlage.
6
Nach einem Hinweis des Landgerichts Kassel, dass es prozessökonomisch erscheine, das Verfahren „gegen den nun einzigen Beklagten“ zu dem beim selben Gericht bereits anhängigen Verfahren umgekehrten Rubrums gemäß § 147 ZPO zu verbinden, nahm die Klägerin mit ihrem an das Landgericht Kassel gerichteten Schriftsatz vom 5. März 2024 die gegen diesen Beklagten gerichtete Klage zurück. Sie betonte, die Klage gegen die Haftpflichtversicherung vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth aufrechtzuerhalten. Sie äußerte die Ansicht, dass das Verfahren somit vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth fortzusetzen sei.
7
Die gegnerischen Prozessbevollmächtigten vertraten die Rechtsansicht, dass der Verweisungsbeschluss Bindungswirkung entfalte, weshalb das Landgericht Kassel trotz Rücknahme der gegen den früheren Beklagten zu 1) gerichteten Klage für den verbliebenen Rechtsstreit gegen die Haftpflichtversicherung zuständig geworden sei. Die Verweisung sei nicht willkürlich erfolgt, denn im Zeitpunkt der Verweisung habe ein gemeinsamer Gerichtsstand nur beim Landgericht Kassel bestanden. Dass das verweisende Gericht sich mit einer seine Zuständigkeit begründenden Norm nicht befasst habe, begründe keine Willkür. Vorsorglich beantragten sie die „Vorlage dieser Rechtsfrage“ an das hierfür zuständige Gericht.
8
Die Klägerin verwahrte sich gegen eine Vorlage und schloss sich der Rechtsansicht des Landgerichts Kassel an.
9
Unter Bezugnahme auf den Vorlageantrag der Beklagtenvertreter hat das Landgericht Kassel das Verfahren mit Beschluss vom 23. April 2024 dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Zuständigkeitsbestimmung vorgelegt.
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Die Parteien haben im Bestimmungsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, sich aber nicht geäußert
II.
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Auf den zulässigen Antrag der beklagten Haftpflichtversicherung ist die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Nürnberg-Fürth auszusprechen.
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1. Die Voraussetzungen für eine Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
13
a) Die mit der Sache befassten Gerichte haben sich im Sinne dieser Vorschrift „rechtskräftig“ für unzuständig erklärt, das Landgericht Nürnberg-Fürth mit dem nach Rechtshängigkeit der Streitsache ergangenen unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 9. Januar 2024, das Landgericht Kassel mit dem die Übernahme des Rechtsstreits hinsichtlich der damaligen Beklagten zu 2) und nunmehr einzigen Beklagten ablehnenden Beschluss vom 2. Februar 2024. Beide Beschlüsse sind den Parteien bekanntgegeben worden. Die in dieser Weise jeweils ausgesprochene verbindliche Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt alle Anforderungen, die an das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12 m. w. N.; Schultzky in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.).
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b) Das Bayerische Oberste Landesgericht ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 9 EGZPO zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen, weil die Bezirke der am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Landgerichte zu den Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Oberlandesgerichte (Nürnberg und Frankfurt am Main) gehören, weshalb das für sie gemeinschaftliche im Rechtszug zunächst höhere Gericht der Bundesgerichtshof ist. An dessen Stelle entscheidet das Bayerische Oberste Landesgericht, weil das mit der Sache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt.
15
c) Das für eine Gerichtsstandsbestimmung erforderliche Gesuch, § 37 Abs. 1 ZPO, liegt vor. Im Fall eines negativen Kompetenzkonflikts ist nach einhelliger Ansicht nicht nur der Kläger oder eines der beteiligten Gerichte, sondern auch die beklagte Partei berechtigt, die Zuständigkeitsfrage in einem Verfahren gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO klären zu lassen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26. September 2016, 32 SA 55/16, juris Rn. 22; Schultzky in Zöller, ZPO, § 37 Rn. 1; Toussaint in BeckOK ZPO, 52. Ed. Stand: 1. März 2024, § 37 Rn. 2; Becker in Anders/Gehle, ZPO, 82. Aufl. 2024, § 37 Rn. 4; Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, 21. Aufl. 2024, § 37 Rn. 2; Patzina in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 37 Rn. 2).
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2. Örtlich zuständig für den Rechtsstreit gegen die verbliebene Beklagte ist das Landgericht Nürnberg-Fürth, weil dessen Verweisungsbeschluss ausnahmsweise nicht die in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO vorgesehene Bindungswirkung entfaltet.
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a) Im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist der Kompetenzstreit in der Weise zu entscheiden, dass das für den Rechtsstreit tatsächlich zuständige Gericht bestimmt wird (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 1970, 2 BvR 48/70, BVerfGE 29, 45 [49, juris Rn. 19]; BGH, Beschluss vom 14. Februar 1995, X ARZ 35/95, juris Rn. 3; BayObLG, Beschluss vom 7. Juni 2023, 101 AR 126/23 e, AG 2024, 82 [juris Rn. 28]; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 36 Rn. 47). Bei der Entscheidung sind die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen und eingetretene verfahrensrechtliche Bindungswirkungen zu beachten (BGH NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; BayObLG, Beschluss vom 14. Juni 2023, 102 AR 21/23, juris Rn. 25; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 38; Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, § 36 Rn. 31).
18
Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO die Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen angeordnet. Im Fall eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist.
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Nach ständiger Rechtsprechung kommt einem Verweisungsbeschluss allerdings dann keine Bindungswirkung zu, wenn dieser schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 [juris Rn. 13 f.]; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16).
20
b) Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor.
21
aa) Der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth entfaltet bereits deshalb keine Bindungswirkung, weil er gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs verstößt.
22
(1) Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zu Grunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Maßgebend ist dabei der Gedanke, dass die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit haben müssen, durch einen sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2013, 1 BvR 859/13, WM 2014, 251 Rn. 11; Beschluss vom 27. September 1978, 1 BvR 570/77, BVerfGE 49, 212 [215, juris Rn. 7]). Dieses Äußerungsrecht ist eng verknüpft mit dem Recht auf Information (BVerfG, Beschluss vom 19. Juni 2013, 2 BvR 1960/12, NJW 2013, 2658 Rn. 9; BGH, Beschluss vom 12. März 2020, I ZB 64/19, WM 2021, 504 Rn. 37). Dabei erschöpft sich Art. 103 Abs. 1 GG nicht im Recht der Beteiligten, im Verfahren überhaupt gehört zu werden; gewährleistet wird vielmehr die Möglichkeit, sich grundsätzlich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite zu äußern. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG scheidet daher nicht schon deshalb aus, weil sich eine Partei in einem früheren Stadium des Verfahrens hat äußern können und geäußert hat (BVerfG, NJW 2013, 2658 Rn. 9). Aus diesen Gründen ist der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann verletzt, wenn das Gericht eine den Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet, sondern auch dann, wenn das Gericht sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann (BVerfGE 49, 212 [215, juris Rn. 7]).
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(2) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Verweisungsbeschluss unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ergangen.
24
Die einzig verbliebene Beklagte, vormals die Beklagte zu 2), hatte keine Gelegenheit, zu dem Verweisungsantrag der Klägerin Stellung zu nehmen. Die Beklagten hatten zwar selbst die Zuständigkeitsfrage aufgeworfen, allerdings die Rüge der örtlichen Unzuständigkeit zuletzt auf die Klage gegen den früheren Beklagten zu 1) beschränkt. Der daraufhin gestellte Verweisungsantrag der Klägerin betraf demgegenüber den gesamten Rechtsstreit. Er warf deshalb zusätzliche Fragen auf, zu denen eine ergänzende Anhörung der Beklagten, insbesondere der Beklagten zu 2), erforderlich gewesen wäre. Denn die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts für die Klage gegen die Haftpflichtversicherung stand wegen deren Sitzes, den die Klägerin auf die erste undifferenzierte Rüge der Unzuständigkeit nochmals betont hatte, nicht mehr in Frage. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Fallkonstellation daher von den vom Bundesgerichtshof (NJW-RR 2017, 1213 Rn. 18) bzw. dem Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 14. Dezember 2018, 32 SA 53/18, juris Rn. 30) entschiedenen Fällen. Der (früheren) Beklagten zu 2) hätte deshalb Gelegenheit gegeben werden müssen, zu dem Verweisungsantrag Stellung zu nehmen.
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Außerdem hat die vom verweisenden Gericht angenommene Gerichtsstandsvereinbarung zwischen Klägerin und (früherer) Beklagter zu 2) keine Grundlage im aktenkundigen Vorbringen der Parteien. Auch deshalb verletzt die hierauf gestützte Verweisung des Rechtsstreits insgesamt, also einschließlich der gegen die Haftpflichtversicherung geführten Klage, den Anspruch der nach Teilklagerücknahme einzig verbliebenen Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
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(3) Die Verletzung des in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Gebots stellt einen so schwerwiegenden Mangel des Verweisungsbeschlusses dar, dass ihm die Bindungswirkung im Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO abzuerkennen ist (BGH, Beschluss vom 15. März 1978, IV ARZ 17/78, BGHZ 71, 69 [72 f., juris Rn. 4]). Einer Feststellung, dass die Verweisung bei ordnungsgemäßer Anhörung beider Parteien möglicherweise unterblieben wäre, bedarf es nicht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17. Oktober 2022, 102 AR 80/22, NJW-RR 2023, 68 [juris Rn. 18] m. w. N.; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 17a; Thole in Stein/Jonas, ZPO, § 281 Rn. 58).
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Dem Akteninhalt lassen sich auch keine besonderen Umstände entnehmen, die es ausnahmsweise als ausgeschlossen erscheinen ließen, dass der Verweisungsbeschluss auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruht (dazu: BGH, Beschluss vom 14. Februar 2018, X ARZ 5/18, juris Rn. 12; Beschluss vom 26. August 2014, X ARZ 275/14, MDR 2015, 51 Rn. 8). Angesichts der engagierten Auseinandersetzung der Parteien mit der Zuständigkeitsfrage spricht vielmehr Einiges dafür, dass im Fall einer Anhörung die Klage gegen den (früheren) Beklagten zu 1) gemäß § 145 Abs. 1 ZPO abgetrennt und nur das abgetrennte Verfahren an das hierfür zuständige Landgericht Kassel verwiesen worden wäre. bb) Der Verweisungsbeschluss verstößt zudem gegen das Willkürverbot.
28
Das Landgericht Nürnberg-Fürth war für die in Nürnberg ansässige Beklagte unzweifelhaft und offensichtlich gemäß §§ 12, 17 ZPO örtlich zuständig. Über seine eigene Zuständigkeit hat sich das verweisende Gericht mithilfe der Konstruktion einer von keiner Partei vorgetragenen Gerichtsstandsvereinbarung hinweggesetzt, ohne auch nur im Ansatz zu begründen, wie die eigene Zuständigkeit trotz des Grundsatzes der perpetuatio fori (§ 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO) durch eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Rechtshängigkeit in Wegfall geraten konnte. Bereits dies lässt die Entscheidung als objektiv nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen.
29
Hinzu kommt, dass die Klägerin den allgemeinen Gerichtsstand der Haftpflichtversicherung im Bezirk des angerufenen Gerichts ausdrücklich angesprochen hatte, nachdem beklagtenseitig anfänglich undifferenziert die örtliche Unzuständigkeit gerügt worden war, und dass daraufhin die Rüge der Unzuständigkeit auf die Klage gegen den ursprünglichen Beklagten zu 1) beschränkt worden war. Das Übergehen der hinsichtlich der Haftpflichtversicherung, der ursprünglichen Beklagten zu 2), offensichtlich gegebenen eigenen Zuständigkeit ist deshalb nicht vergleichbar mit einem schlicht rechtsirrtümlichen Übersehen einer Zuständigkeitsnorm (dazu etwa: BGH, Beschl. v. 17. Mai 2011, X ARZ 109/11, NJW-RR 2011, 1364 Rn. 12).
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Die Verweisung erscheint getragen von dem Ziel, eine Aufspaltung des Rechtsstreits zu verhindern, obwohl es die Klägerin in der Hand gehabt hätte, Klage im gemeinsamen Gerichtsstand zu erheben. Dadurch wird sie dem verfassungsrechtlichen Anspruch der Beklagten zu 2) auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) in keiner Weise gerecht. Infolge der bei Klageerhebung gegen die Haftpflichtversicherung getroffenen Wahl war der anfänglich gegebene gemeinsame Gerichtsstand des Delikts nach § 32 ZPO, § 20 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG verloren gegangen (zum Verlust eines ursprünglich gegebenen gemeinsamen Gerichtsstands vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020, X ARZ 156/20, NJW-RR 2020, 1070 Rn. 29 f.; BayObLG, Beschluss vom 12. September 2019, 1 AR 87/19, juris Rn. 20 m. w. N.; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 28. April 2022, 11 SV 4/22, juris Rn. 9; Roth in Stein/Jonas, ZPO, § 36 Rn. 27; zum Gerichtsstand des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherers vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 1983, I ARZ 682/82, NJW 1983, 1799 [juris Rn. 4]; Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl. 2024, VVG § 115 Rn. 25; Kemperdiek in BeckOK StVR, 23. Ed. Stand: 15. April 2024, VVG § 115 Rn. 37; Steinborn in BeckOK VVG, 23. Ed. Stand: 22. April 2024, VVG § 115 Rn.41). Es bestand offenkundig keine Sachlage, in der dennoch ausnahmsweise eine Bestimmung des gemeinsam zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO in Betracht gekommen wäre. Damit schied auch eine Befugnis der Klägerin aus, nach Erhebung der Klage gegen die Haftpflichtversicherung nochmals durch Verweisungsantrag eine Wahl zwischen mehreren nicht ausschließlichen Gerichtsständen gemäß § 35 ZPO zu treffen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 20. Juli 2023, 101 AR 150/23 e, MDR 2023, 1408 [juris Rn. 55]).
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Wegen der Häufung grober Rechtsfehler kann die Verweisung nicht mehr als im Rahmen der Gesetze ergangen angesehen werden.