Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis im Fahreignungs-Bewertungssystem
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3, § 29 Abs. 7 S. 1
FeV § 46 Abs. 1
ZPO § 180, § 189
Leitsätze:
1. Eine zu viel ergriffene Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (hier: zwei Verwarnungen) ist unschädlich. (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach Löschung von Punkten besteht ein absolutes Verwertungsverbot. (redaktioneller Leitsatz)
3. Für einen "tatsächlichen Zugang" im Sinn des § 189 ZPO zur Heilung eines Zustellungsmangels genügt nicht das Einlegen des Bescheids in den Briefkasten der Kanzlei, erforderlich ist die Leerung des Briefkastens (durch Kanzleimitarbeiterin). (Leitsätze der Redaktion) (redaktioneller Leitsatz)
Inwiefern es vor dem Hintergrund des § 4 Abs. 6 S. 2 StVG gesetzlich geboten ist, nach Erteilung einer Verwarnung wegen Erreichens eines Punktestandes von 7 Punkten im Hinblick auf zwischenzeitliche Tilgungen/Hinzukommens weiterer Verkehrszuwiderhandlungen und erneuten Erreichens von 7 Punkten eine zweite Verwarnung auszusprechen, kann dahinstehen, da der Betroffene durch eine zu viel ergriffene Maßnahme jedenfalls keinen Rechtsnachteil erlitten, sondern vielmehr erneut einen zeitlichen Aufschub erhalten hat. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahreignungs-Bewertungssystem, Absolutes Verwertungsverbots bei Punktelöschung, Beweiswert einer Postzustellungsurkunde, Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten, Heilung durch Ersatzzustellung, Fahrerlaubnis, Entziehung, Verwarnung, zwischenzeitliche Tilgungen, erneutes Erreichen von sieben Punkten, wiederholte Verwarnung
Fundstellen:
FDStrVR 2024, 012787
BeckRS 2024, 12787
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem und die für sofort vollziehbar erklärte zwangsgeldbewehrte Anordnung zur Abgabe seines Führerscheins.
2
Der 1963 geborene Antragsteller ist Inhaber der Fahrerlaubnis der Klassen A, A1 (79.05), A2, AM, B, BE (79.06) und L.
3
Aufgrund von Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes wurden der Antragsgegnerin rechtskräftige Entscheidungen bezüglich wiederholter Verkehrsverstöße des Antragstellers bekannt. Bezüglich aller seit 19. August 2003 erfassten Taten wird auf den in der Behördenakte befindlichen Auswertungsbogen der Fahreignung (Bl. 17 ff. BA) verwiesen.
4
Der Antragsteller wurde von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 1. Juni 2015 und erneut am 24. Mai 2016 auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) zu einem Punktestand von vier Punkten ermahnt.
5
Mit Schreiben vom 8. Februar 2018, dem Antragsteller am 10. Februar 2018 zugestellt, wurde er auf der Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG verwarnt. Mit Schreiben vom 10. Mai 2022, dem Antragsteller am 12. Mai 2022 zugestellt, wurde er erneut zu einem Punktestand von sieben Punkten verwarnt.
6
Nach einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 9. Mai 2023 an die Antragsgegnerin ergab sich für den Antragsteller ein Stand von acht Punkten im Fahreignungsregister:
Datum der
- Tat
- Entscheidung
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Verkehrszuwiderhandlung
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Datum der Rechtskraft
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Datum der
- Tilgung
- Löschung
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Punkte
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8.2.2017
27.10.2017
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Geschwindigkeitsüberschreitung 52 km/h außerorts
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15.11.2017
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15.11.2022
15.11.2023
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2
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11.10.2020
9.12.2020
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Geschwindigkeitsüberschreitung 37 km/h außerorts
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18.3.2021
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18.9.2023
18.9.2024
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1
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17.12.2020
25.1.2021
|
Geschwindigkeitsüberschreitung 36 km/h außerorts
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25.3.2021
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25.9.2023
25.9.2024
|
1
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18.3.2021
10.2.2017
|
Geschwindigkeitsüberschreitung 28 km/h außerorts
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24.6.2021
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24.12.2023
24.12.2024
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1
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8.7.2021
29.5.2017
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Geschwindigkeitsüberschreitung 43 km/h außerorts
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24.11.2021
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24.11.2026
24.11.2027
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2
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5.4.2022
10.10.2017
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Geschwindigkeitsüberschreitung 22 km/h innerorts
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30.3.2023
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10.1.2023
10.1.2024
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1
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7
Nach vorheriger Anhörung des Antragstellers mit Schreiben vom 12. Juni 2023, ihm zugestellt am 15. Juni 2023, zeigte der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 19. Juni 2023 seine Vertretung an und beantragte Akteneinsicht. Auf die mit Schreiben vom 7. Juli 2023 nochmalige Bitte um Akteneinsicht und die Mitteilung, dass der Antragsteller weder eine Ermahnung noch eine Verwarnung erhalten habe, erklärte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 11. Juli 2023, dass die Postzustellungsurkunden der Mahnschreiben nicht mehr rekonstruiert werden könnten; nachdem sich aber keine Zahlungsrückstände seitens des Antragstellers ergäben, könne davon ausgegangen werden, dass er beide Ermahnungen erhalten habe. Auch die Verwarnungen seien demnach ordnungsgemäß mittels Postzustellungsurkunde erfolgt.
8
Nach Bewilligung von zwei Fristverlängerungsgesuchen des Bevollmächtigten des Antragtellers vom 27. Juli 2023 und vom 4. August 2023 machte dieser mit Schreiben vom 11. September 2023 Einwendungen bezüglich der Ermahnungen und Verwarnungen geltend. Neben dem Hinweis darauf, dass die Verwarnung nach altem Fahrerlaubnisrecht ergangen sei, wurde unter anderem vorgetragen, dass der Antragsteller seit vielen Jahren die gesamte Postbearbeitung seiner persönlichen Assistentin zugewiesen und überlassen habe. Diese habe sowohl die Ermahnungen als auch die Verwarnungen erhalten, die von der Behörde verlangten Gebühren bezahlt, die Dokumente jedoch nicht dem Antragsteller übergeben. Sie sei davon ausgegangen, dass dies nicht nötig sei und habe im Übrigen Kontovollmacht für den Antragsteller. Diesbezüglich wird eine eidesstattliche Versicherung der persönlichen Assistentin des Antragstellers überreicht.
9
Die Antragsgegnerin äußerte sich mit Schreiben vom 24. Oktober 2023, insbesondere dazu, dass allein Punkte nach dem neuen Recht herangezogen und der Punktestand des Antragstellers bei der Umstellung zum 1. Mai 2014 auf „0“ gesetzt worden sei. Die Stufenregelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG sei beachtet worden.
10
Mit Bescheid vom 7. November 2023 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen (Nr. 1) und ordnete die Abgabe des Führerscheins bis spätestens eine Woche nach Bescheidszustellung an (Nr. 2). Hinsichtlich Nr. 2 wurde für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000 EUR angedroht (Nr. 3) und die sofortige Vollziehung angeordnet (Nr. 4). Die Entziehung der Fahrerlaubnis wurde mit dem Erreichen von acht Punkten begründet (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG), die Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins auf § 3 Abs. 2 StVG, § 47 Abs. 1 Fahrerlaubnisverordnung (FeV) gestützt. Nach Tilgung der entsprechenden Taten sei der Punktezustand zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Entziehung mit acht zu bewerten gewesen. Die Taten vom 8. Februar 2017, 11. Oktober 2020 und 17. Dezember 2020 würden unter Anwendung des § 29 Abs. 6 und 7 StVG zum 15. November 2023, 18. September 2024 und 25. September 2024 gelöscht. Ein absolutes Verwertungsverbot dieser Taten träte daher erst zum genannten Zeitpunkt ein. Bis zur Löschung einer Eintragung lasse der Gesetzgeber deren Verwertung noch zu. Zweifel an der Rechtskraft der im Fahreignungsregister erfassten Eintragungen seien nicht feststellbar.
11
In der Behördenakte findet sich eine Postzustellungsurkunde vom 10. November 2023, 10:15 Uhr, adressiert an den Antragsteller, zuzustellen an den Prozessbevollmächtigten.
12
Gegen diesen Bescheid ließ der Antragsteller am 4. Dezember 2023 beim Verwaltungsgericht München Klage erheben (M 19 K 23.5761) und am 13. Dezember 2023 beantragen,
die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO herzustellen.
13
Zur Begründung ließ er im Wesentlichen vortragen, dass der Bescheid, zum maßgeblichen Zeitpunkt seines Wirksamwerdens (§ 43 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwfVG), rechtswidrig gewesen sei. Vorliegend seien zwei Punkte am 15. November 2023 gelöscht worden, der Entziehungsbescheid sei jedoch erst am 17. November 2023 wirksam geworden. Der Bescheid sei am 10. November 2023 durch den Postbediensteten vormittags in den Briefkasten des Bevollmächtigten des Antragstellers geworfen worden. Eine solche Ersatzzustellung gemäß § 180 Zivilprozessordnung (ZPO) sei jedoch unzulässig da der Postbedienstete zunächst das Schriftstück gemäß § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO hätte zustellen müssen. Eine Rückfrage bei einem anderen Postbediensteten habe ergeben, dass die allgemeine Anweisung bestehe, zuzustellende Schriftstücke einfach in den Briefkasten einzuwerfen, ohne vorher die Zustellung gemäß § 178 ZPO versucht zu haben. Außerdem seien die Kanzleiräume des adressierten Prozessbevollmächtigten am Freitag, den 10. November 2023, wie jeden Freitag von morgens 8:00 Uhr bis nachmittags 14:00 Uhr durchgehend besetzt gewesen. Dies könne seine Kanzleiangestellte bezeugen. Die unwirksame Zustellung könne nur gemäß § 189 ZPO geheilt werden. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs vom 6. Mai 2013 sei für den tatsächlichen Zugang i.d.S. der Zeitpunkt entscheidend, in dem der Adressat das Dokument in die Hand bekommen habe. Dies sei erst nach Urlaubsrückkehr nach dem 7. November 2023 gewesen. Die Behörde habe aufgrund des Schreibens des Bevollmächtigten vom 31. Oktober 2023 gewusst, dass der Bevollmächtigte bis zum 17. November 2023 abwesend sei. Am 10. November 2023 habe die Kanzleiangestellte die gesamte eingegangene Post aus dem Briefkasten entnommen und die für die Rechtsanwälte bestimmte Post auf deren jeweiligen Schreibtischplatz gelegt. Die Kanzleimitarbeiterin habe den Umschlag, in dem sich der streitgegenständliche Bescheid befunden habe, am 10. November 2023 jedoch nicht gesehen, da er in die ebenfalls in der Post befindliche Zeitschrift „B.“ gerutscht sei. Sie habe diesen erst am 16. November 2023 vorgefunden, als beim Ordnen der Post der Umschlag aus der Zeitschrift halb herausfiel. Sie habe sodann den Bevollmächtigten des Antragstellers im Urlaub hierüber unterrichtet. Dieser habe den Bescheid erst nach dem 17. November 2023 in die Hand bekommen. Es komme nicht darauf an, dass die Postsendung zunächst unentdeckt geblieben sei.
14
Der Antragsteller hat am 17. November 2023 seinen Führerschein bei der Antragsgegnerin abgeben lassen.
15
Die Antragsgegnerin übersandte am 19. Januar 2024 die Behördenakte und beantragte mit Schreiben vom 24. Januar 2024, den Antrag abzulehnen.
16
Zur Begründung wurde auf die Behördenakte und die rechtlichen Ausführungen im Bescheid Bezug genommen. Darüber hinaus wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass die Vorschaltmaßnahmen getroffen worden seien. Eine nach dem Erreichen von acht Punkten eintretende Punktetilgung sei für die Rechtmäßigkeit einer auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Fahrerlaubnisentziehung ohne Bedeutung. Die Ermahnung und Verwarnung sei dem rechtlichen Vertreter zugestellt worden. Wie in der Antragsbegründung dargestellt, habe dieser die Stufenmaßnahmen zur Kenntnis genommen. Die Zahlung der Gebühren durch eine Bevollmächtigte oder die fehlende Information des Antragstellers hätten keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der behördlichen Maßnahmen. Auch sei der Entziehungsbescheid vom 7. November 2023 mit der Einlegung in den Briefkasten ordnungsgemäß zugestellt worden. Die verspätete Kenntnisnahme durch die Vermischung von geschäftlicher und privater Post liege im Verantwortungsbereich des Empfängers und könne nicht zu Lasten der Antragsgegnerin gehen.
17
Der Bevollmächtigte des Antragstellers übersandte am 23. Januar 2024 die Vollmacht vom 19. Juni 2023, die er im Verwaltungsverfahren der Antragsgegnerin vorgelegt hatte (vgl. Bl. 31 BA), sowie den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 6. Mai 2014. Mit weiterem Schriftsatz vom 26. Januar 2024 trug er vor, dass die Postzustellungsurkunde vom 10. November 2023 falsch ausgefüllt worden sei. Angekreuzt worden sei, dass das Schriftstück in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt worden sei, obwohl sich unter der adressierten Adresse allein die Anwaltskanzlei und eine Steuerkanzlei befinde.
18
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
19
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bleibt ohne Erfolg.
20
Nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) ist davon auszugehen, dass der Antragsteller hinsichtlich der in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung seiner Fahrerlaubnis die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 StVG) und hinsichtlich der in Nr. 2 des Bescheids verfügten und für sofort vollziehbar erklärten Verpflichtung zur Ablieferung seines Führerscheins die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung begehrt. Hinsichtlich der in Nr. 3 des Bescheids verfügten und ebenfalls kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz – VwZVG) ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses davon auszugehen, dass diesbezüglich keine Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gewünscht ist. Denn der Antragsteller ist seiner Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheids zur Abgabe des Führerscheins nachgekommen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin das angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 VwZVG gleichwohl beitreiben will.
21
Der so verstandene Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
22
1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids vom 7. November 2023 bezüglich der sofortigen Vollziehung der Abgabe des Führerscheins genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Antragsgegnerin hat dargelegt, dass sie die sofortige Ablieferung des Führerscheins angeordnet hat, um seiner missbräuchlichen Verwendung nach Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen zu wirken. Im Übrigen ergibt sich im Bereich des Sicherheitsrechts das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung bereits aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts maßgebend waren (BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 CS 19.180 – juris Rn. 10 ff.).
23
2. Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Bei der Prüfung ist in erster Linie von den Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs, hier der Klage vom 4. Dezember 2023, auszugehen. Lässt sich bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. So liegt die Sache hier.
24
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 30.8.2023 – 3 C 15/22 – juris Rn. 8; 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13), hier somit derjenige des Bescheidserlasses. Dies gilt auch für den vorliegenden Beschluss.
25
2.1. Die zulässige Klage vom 4. Dezember 2023 gegen die mit Bescheid vom 7. November 2023 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis (dort Nr. 1) hat voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg, da die Entziehung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
26
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt dieser als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich aus dem Fahreignungs-Bewertungssystem acht oder mehr Punkte ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sie die Maßnahmen der davorliegenden Stufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG bereits ergriffen hat (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Für die Entziehung der Fahrerlaubnis hat die Behörde nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Punkte ergeben sich nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (Tattagprinzip).
27
2.1.1. Am 5. April 2022 – dem Tag der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG) – ergaben sich für den Antragsteller acht Punkte, sodass die Fahrerlaubnis zu diesem Zeitpunkt zu entziehen war. Zu den einzelnen Punkten des Antragstellers wird auf die unter I. dargestellte Tabelle verwiesen.
28
Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 StVG werden Zuwiderhandlungen nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in Satz 5 genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen bleiben nach § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG unberücksichtigt. Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt am 5. April 2022 waren die Tilgungsfristen für die neben der Tat vom 5. April 2022 im Bescheid berücksichtigten Taten vom 8. Februar 2017, 11. Oktober 2020, 17. Dezember 2020, 18. März 2021 und vom 8. Juli 2021 noch nicht abgelaufen (vgl. insoweit § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a und Buchst. b, Abs. 4 Nr. 3 StVG). Dies ist zwischen den Parteien auch nicht streitig. Infolge des erst späteren Ablaufs der jeweiligen Tilgungsfrist finden daher alle in der unter I. dargestellten Tabelle aufgeführten Taten für den Punktestand des Antragstellers am 5. April 2022 Berücksichtigung.
29
2.1.2. Die Antragsgegnerin hat die beiden nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG vor der Entziehung der Fahrerlaubnis liegenden Stufen des Maßnahmensystems rechtsfehlerfrei gegen den Antragsteller ergriffen.
30
Bei der Berechnung des Punktestandes zum Ergreifen der Maßnahmen ist auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der letzten (zur Maßnahme führenden) Straftat oder Ordnungswidrigkeit (Tattagprinzip) ergeben hat (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG), wobei nur die Verstöße berücksichtigt werden dürfen, deren Tilgungsfrist in diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. § 4 Abs. 5 Satz 6 StVG stellt ausdrücklich klar, dass spätere Verringerungen des Punktestandes aufgrund von Tilgungen unberücksichtigt bleiben. Damit wird klargestellt, dass es ausreicht, wenn die jeweilige Maßnahmenstufe einmal erreicht wurde (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 – juris Rn. 22). Anders als bei der vorbeschriebenen Unbeachtlichkeit einer zwischenzeitlich erfolgten Tilgung für den maßgeblichen Punktestand liegt es bei der Löschung der Eintragung nach § 29 Abs. 6 StVG (Rückschluss aus § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG). Im Falle einer Löschung überlagert und begrenzt das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Sätze 5 bis 7 StVG (BVerwG, U.v. 18.6.2020 – 3 C 14/19 – juris Rn. 20).
31
Die Ermahnung erfolgte bei einem Punktestand von vier Punkten mit Schreiben vom 24. Mai 2016 aufgrund der jeweils mit zwei Punkten bewährten Taten vom 14. April 2014 und vom 22. Juni 2015. Nachdem eine mit einem Punkt bewährte Tat vom 29. Januar 2017 (Rechtskraft 19.9.2017) und eine mit zwei Punkten bewährte Tat vom 8. Februar 2017 (Rechtskraft 15.11.207) hinzukamen, wurde er bei einem Punktestand von sieben Punkten mit Schreiben vom 8. Februar 2018 das erste Mal verwarnt. Aufgrund zwischenzeitlicher Tilgungen (von 5 Punkten) und des Hinzukommens weiterer Verkehrszuwiderhandlungen (vom 11.10.2020, 17.12.2020, 18.3.2021 und 8.7.2021), die mit insgesamt fünf Punkten bewährt waren, wurde erneut ein Punktestand von sieben Punkten erreicht, der zu der zweiten Verwarnung am 10. Mai 2022 geführt hat. Inwiefern es vor dem Hintergrund des § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG gesetzlich geboten war, die zweite Verwarnung auszusprechen, kann vorliegend schon deshalb dahinstehen, da der Antragsteller durch eine zu viel ergriffene Maßnahme jedenfalls keinen Rechtsnachteil erlitten, sondern vielmehr erneut einen zeitlichen Aufschub erhalten hatte. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nötigen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung wirft dieses Vorgehen keine durchgreifenden Bedenken auf und wurde im gerichtlichen Verfahren auch nicht von Antragstellerseite in Abrede gestellt.
32
2.1.3. Sämtliche Maßnahmeerklärungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG wurden dem Antragsteller per Postzustellungsurkunde ordnungsgemäß zugestellt. Der im Verwaltungsverfahren erhobene Einwand, dass er die Ermahnungen und Verwarnungen nicht erhalten habe, muss unberücksichtigt bleiben, da die Antragstellerseite vortragen lässt, dass er seine gesamte Post seiner persönlichen Assistentin und Sekretärin zugewiesen und diese auch mit Kontovollmacht ausgestattet hatte. Er muss sich somit ihr Verhalten aufgrund ihrer Bevollmächtigung zurechnen lassen. Nachdem alle für die Maßnahmen anfallenden Kosten auch beglichen wurden, belegt dies letztendlich – trotzt Fehlens der Ermahnungen und ihrer jeweiligen Zustellnachweise in der Verfahrensakte – den Erhalt und die Existenz der Schreiben.
33
2.1.4. Eine inhaltliche Überprüfung, ob der Antragsteller die jeweilige Ordnungswidrigkeit oder Straftat tatsächlich begangen hat, findet im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems nicht statt. Die Fahrerlaubnisbehörde ist nach § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG an die rechtskräftige Entscheidung gebunden.
34
2.1.5. Die Punkte unterlagen im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Bescheids auch nicht der Löschung und damit des absoluten Verwertungsverbots des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG.
35
Gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG dürfen die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen hinsichtlich einer Entziehung aufgrund einer Punkteüberschreitung nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwendet werden, wenn eine Eintragung im Fahreignungsregister gelöscht ist. Die Vorschrift manifestiert ein absolutes Verwertungsverbot. Sie überlagert und begrenzt damit das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG (vgl. BVerwG, U.v. 18.6.2020 – 3 C 14/19 – juris Rn. 20). Die dem Antragsteller für die Tat vom 8. Februar 2017 zur Last gelegten zwei Punkte wurden zum 15. November 2023 gelöscht. Der vorliegende Entziehungsbescheid wurde allerdings bereits am 10. November 2023 zugestellt. In diesem Zeitpunkt bestand noch kein absolutes Verwertungsverbot. Dem Vortrag der Antragstellerseite, der Bescheid sei ihr erst am 17. November 2023 wirksam zugegangen, wird nicht gefolgt.
36
(1) Bezüglich des streitgegenständlichen Bescheids vom 7. November 2023 existiert eine Postzustellungsurkunde vom 10. November 2023 (Bl. 56 BA). Diese wurde ordnungsgemäß ausgefüllt. Ihr zufolge wurde das Schriftstück „zu übergeben versucht“ (Nr. 9 des Formblatts) und durch den Postbediensteten in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt, weil die Übergabe in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich war (Nrn. 2, 10.1 des Formblatts). Der Umstand, dass hinsichtlich des Übergabeversuchs das Kästchen „zur Wohnung“ statt „zum Geschäftsraum“ angekreuzt worden ist, ändert an der entscheidenden Aussage, dass eine unmittelbare Übergabe versucht worden sei, nichts. Gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Bayerisches Verwaltungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) gelten für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 der ZPO entsprechend. Im Raum steht somit eine Ersatzzustellung gemäß § 180 Satz 1 ZPO, wonach im Falle einer nicht ausführbaren Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt werden kann.
37
Eine Zustellungsurkunde erbringt grundsätzlich gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG i.V.m. §§ 182 Abs. 1 Satz 2, 418 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Die Antragstellerseite wendet zur Erschütterung dieses Beweiswertes der Postzustellungsurkunde ein, dass die vorgenommene Ersatzzustellung gemäß § 180 ZPO nicht wirksam sei. Die Voraussetzungen der § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO, wonach bei Nichtantreffen des Adressaten das Schriftstück in der Wohnung einem erwachsenen Familienangehörigen, einer in der Familie beschäftigten Person oder einem erwachsenen ständigen Mitbewohner oder in Geschäftsräumen einer dort beschäftigten Person zugestellt werden kann, lägen nicht vor. Die die Post zustellende Person habe es gar nicht erst versucht, eine Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zu bewirken, sondern habe das Schriftstück unmittelbar in den Briefkasten geworfen. Dies könne eine Kanzleimitarbeiterin bezeugen, wonach die Kanzlei am 10. November 2024 von morgens 8:00 Uhr bis nachmittags um 14:00 Uhr durchgehend besetzt gewesen sei. Außerdem habe eine Rückfrage bei einem anderen Postbediensteten ergeben, dass eine allgemeine Anweisung bestehe, zuzustellende Schriftstücke in den Briefkasten einzuwerfen, ohne vorher die Zustellung gemäß § 178 ZPO versucht zu haben. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob dieser Vortrag den hohen Beweiswert einer Postzustellungsurkunde glaubhaft zu entkräften vermag (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 27.4.2000 – 1 Ws 299/00 – juris Rn. 5). Eine endgültige Klärung dieser Frage wäre dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
38
(2) Sie kann jedoch dahinstehen, da selbst dann, wenn eine unwirksame Ersatzzustellung gemäß § 180 ZPO unterstellt würde, am Mittag des 10. November 2023 mit Leerung der Kanzleipost durch die Kanzleimitarbeiterin des Bevollmächtigten des Antragstellers ein etwaiger Zustellungsmangel mittels eines tatsächlichen Zugangs i.S.d. § 189 ZPO jedenfalls geheilt worden wäre.
39
Gemäß § 189 ZPO gilt das Dokument in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es „der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist“.
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Der Begriff des „tatsächlichen Zugangs“ ist umstritten und führte aufgrund divergierender Rechtsauffassung der verschiedenen Senate des Bundesfinanzhofs zu einem Vorlagebeschluss vor den Großen Senat des Bundesfinanzhofs (vgl. BFH, B.v. 6.5.2014 – GrS 2/13 Rdn. 48 ff. zum unterschiedlichen Meinungsstand der BFH-Rechtsprechung, anderer Gerichte und des Schrifttums). Dieser stellte klar, dass ein Dokument i.S.d. § 189 ZPO in dem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen ist, in dem der Adressat das Dokument „in den Händen hält“ (BFH, B.v. 6.5.2014 – GrS 2/13 – juris Rdn. 65, 78; im Anschluss BGH, U. v. 12.9.2019 – IX ZR 262/18 – juris Rn. 31; Dörndorfer in BeckOK ZPO, Stand Dezember 2023, § 189 Rn. 4). Der Zugangsbegriff des § 189 ZPO ist somit von dem des § 130 BGB zu differenzieren. Für einen Zugang gemäß § 130 BGB genügt, dass die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers gelangt sein muss, dass nach normalem Lauf der Dinge mit der Kenntnisnahme gerechnet werden kann. Hierzu zählt auch der Einwurf in einen Briefkasten oder das Postfach des Empfängers (vgl. etwa LG Berlin, U.v. 14.7.2009 – 63 S 523/08 – juris Rn. 25; Börstinghaus, Kündigungs-Handbuch, 1. Auflage 2021, Kapitel 6 Rn. 14). Aufgrund der Verwendung des Adjektivs „tatsächlich“ in § 189 ZPO und § 8 VwZG, ist damit eine qualifizierte Form des Zugangs gemeint (BFH, B.v. 6.5.2014 – GrS 2/13 – juris Rn. 66). Der Gesetzgeber wolle mit den Vorschriften daran festhalten, dass eine Zustellung in ihrer Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet (BFH, B.v. 6.5.2014 – GrS 2/13 – juris Rn. 68; BGH, U.v. 21.3.2001 – VIII ZR 244/00 – juris Rn. 19). So stellte bereits der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung 2001 klar, dass eine Heilung durch den tatsächlichen Zugang des Schriftstücks i.S.d. § 187 Satz 1 ZPO voraussetze, dass das Schriftstück so in den Machtbereich des Adressaten gelangt, dass er es behalten kann und Gelegenheit zur Kenntnisnahme von dessen Inhalt hat. Grundsätzlich erfordert dies eine Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks an den Adressaten (BGH, U.v. 21.3.2001 a.a.O. Rn. 19 f.; Musielak/Voit/Wittschier, 20. Aufl. 2023, ZPO, § 189 Rn. 3).
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Aufgrund dieser vorausgesetzten Körperlichkeit der Übergabe ist dem Antragsteller zuzugeben, dass allein das Einlegen des Bescheids in den Briefkasten am Vormittag des 10. November 2023 noch nicht die Heilung bewirkt hat. Ein tatsächlicher Zugang erfolgte allerdings in dem Moment, in dem der Briefkasten geleert wurde und der Bescheid in den Macht- und Einflussbereich der adressierten Person gelangte. Die Briefkastenleerung erfolgte vorliegend noch am Mittag des 10. November 2023 durch eine Kanzleimitarbeiterin. Somit ist auch unter Zugrundelegung der engeren Begrifflichkeit des Zugangs vorliegend das Schriftstück jedenfalls in diesem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen.
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Die vorliegende Konstellation ist eine andere, als die dem BFH-Verfahren zugrundliegende. Im dortigen Verfahren wurde der tatsächliche Zugang durch Leeren des Kanzleibriefkastens nicht bestritten, sondern es ging um die fehlende Heilung des Zustellmangels i.S.d. § 189 ZPO mit Einlegen der Post in den Briefkasten. Dementsprechend sieht das Gericht vorliegend eine Heilung einer etwaig gescheiterten Ersatzzustellung auch nicht am Freitag, den 10. November 2023 im Moment des Einlegens des Bescheids in den Briefkasten, sondern erst im Zeitpunkt des Leerens des Briefkastens und Verbringens der Post in die Rechtsanwaltskanzlei durch die Kanzleiangestellte am Mittag des 10. November 2023.
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(3) Zur Frage, inwiefern ein tatsächlicher Zugang an einen Rechtsanwalt bereits durch den Eingang der an ihn gerichteten Post in seiner Kanzlei erfolgt, nimmt das BFH-Verfahren – mangels dortiger Entscheidungserheblichkeit – nicht Stellung. Die dortige Konstellation unterschied sich auch insofern von der vorliegenden, als hier das Datum des Einlegens des Bescheids in den Briefkasten nicht in Rede stand – dieses erfolgte unbestritten am Freitag, den 10. November 2023 – während im Verfahren des BFH ein Datumsvermerk auf der Postzustellungsurkunde fehlte.
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Der Einwand des Bevollmächtigten des Antragstellers, er habe sich bis zum 17. November 2023 im Urlaub befunden, habe dies der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 31. Oktober 2023 auch mittgeteilt und habe somit das Schreiben erst nach dem 17. November 2023 in den Händen gehalten, verfängt nicht. Der tatsächliche Zugang gemäß § 189 ZPO von Dokumenten gegenüber einem Rechtsanwalt beginnt nicht nach einer Urlaubs- oder Krankheitsabwesenheit, sondern im Zeitpunkt, in dem das Dokument in die Kanzleiräume gelangt.
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Der Prozessvertreter des Antragstellers war bereits im Verwaltungsverfahren durch die vom 19. Juni 2023 ausgestellte Vollmacht wirksam zur Entgegennahme von Dokumenten für den Antragsteller bevollmächtigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Vertretungsvollmacht allein den Rechtsanwalt persönlich oder aber – wie die Prozessvertretung vom 1. Dezember 2023 – die gesamte Kanzlei mitsamt Kollegen umfasste. Denn auch ein einzelner Rechtsanwalt hat in seiner Kanzlei dafür Sorge zu tragen, dass an ihn zugestellte Schriftstücke im Falle seiner Urlaubsabwesenheit fristwahrend eingehen können (vgl. § 53 BRAO – Bundesrechtsanwaltsordnung). Bei der Entgegennahme von Schriftstücken handelt es sich um eine Routineangelegenheit, die der Rechtsanwalt entsprechend geschultem Fachpersonal übertragen kann. Fehlerquellen müssen durch organisatorische Maßnahmen in größtmöglichem Umfang ausgeschlossen werden. Das Übersehen eines Schriftstücks, weil es in eine Zeitschrift rutscht, ist keineswegs unüblich, kann jedoch durch sorgfältiges Prüfen von Zeitschriften, Werbung etc. ausgeschlossen werden. Ein derartiger Vorgang würde einen Wiedereinsetzungsantrag in den vorigen Stand im Falle einer Fristversäumung nicht begründen, da ein Rechtsanwalt ihn sich zurechnen lassen müsste (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 32, Rn. 33 ff.). Entsprechendes gilt für die vorliegende Konstellation.
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2.1.6. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Fahrerlaubnisinhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen (zur Verfassungsmäßigkeit der zwingenden Fahrerlaubnisentziehung vgl. BayVGH, B.v. 17.1.2005 – 11 CS 04.2955 – juris Rn. 35, 38 ff. zu § 4 StVG a.F.). Der Fahrerlaubnisbehörde ist bei der Ergreifung von Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG kein Ermessen eingeräumt, so dass sie bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigen konnte, dass der Antragsteller beruflich und privat auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist.
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2.2. Da die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, verbleibt es auch bei der Verpflichtung zur unverzüglichen Abgabe des Führerscheins aus Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids (§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV). Die Zwangsgeldandrohung im Fall der Zuwiderhandlung beruht auf Art. 36 und Art. 31 VwZVG und ist nicht zu beanstanden, ebenso wenig wie die Kostenentscheidung in Nr. 5 des Bescheids.
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3. Der Antrag war nach alldem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
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Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5, 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, wobei die Klassen A und B maßgebend sind. Der nach Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs in Antragsverfahren zu halbierende Gesamtstreitwert von 10.000 EUR ergibt einen Streitwert von 5.000 EUR.