Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 13.05.2024 – 19 U 4308/23 e
Titel:

Erlöschen des Widerrufsrechts nach vollständiger Vertragserfüllung gemeinschaftsrechtlich vorgegeben 

Normenketten:
AEUV Art. 114
Verbraucherkredit-RL 2008 Art. 14 Abs. 1
Leitsätze:
1. Art. 14 Abs. 1 Verbraucherkredit-RL 2008 ist dahin auszulegen, dass das darin vorgesehene Widerrufsrecht überhaupt nicht mehr ausgeübt werden kann, sobald der Kreditvertrag von den Vertragsparteien vollständig erfüllt worden ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer gemeinschaftsrechtlichen Vollharmonisierung ist den Mitgliedsstaaten jeglicher Erlass von Regelungen verwehrt, die von den unionsrechtlichen Vorgaben abweichen, sofern nicht das Verfahren des Art. 114 Abs. 4–6 AEUV eingehalten wird. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Widerrufsrecht, Erlöschen, Vollharmonisierung, RL 2008/48/EG
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 24.10.2023 – 28 O 11876/23
Fundstellen:
ZBB 2024, 318
WM 2024, 1211
MDR 2024, 1124
ZIP 2024, 2389
WuB 2024, 369
ZIP 2024, 1379
LSK 2024, 12450
BKR 2024, 713
VuR 2025, 63
BeckRS 2024, 12450

Tenor

I. Der Senat weist nach § 522 Abs. 2 S. 2 ZPO darauf hin, dass er beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 24.10.2023, Az. 28 O 11876/23, gemäß § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO zurückzuweisen.
II. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit des Widerrufs eines zwischen ihnen zum Zwecke der Finanzierung eines Fahrzeugkaufs geschlossenen Darlehensvertrags.
2
Am 21.02.2016 schloss die Klägerin mit der Beklagten einen Kreditvertrag über einen Nettodarlehensbetrag von 33.460 € und Zinsen von 3.757,74 € (im Folgenden: Darlehensvertrag; s. Anlage DB 1). Vereinbart wurde ein effektiver Jahreszins von 3,15 % p.a. Hiermit wurde der Kauf eines als Neufahrzeug erworbenen Pkw, Marke VW, Typ Touareg 3.0 V6 TDI SCR Blue Motion, Fahrzeugidentifikationsnummer … (im Folgenden: Kfz), durch die Klägerin bei … B W (im Folgenden: Kfz-Verkäufer), finanziert. Der Kaufpreis betrug 41.460 €. Die Klägerin leistete eine Anzahlung aus Eigenmitteln von 8.000 €. Der Nettodarlehensbetrag wurde von der Beklagten direkt an den Kfz-Verkäufer ausgekehrt. Das Darlehen war in 59 – jeweils Tilgung und Zins enthaltenden – monatlichen Raten zu je 384,86 € und einer Schlussrate von 14.511 € zurückzuzahlen.
3
Das Darlehen wurde am 01.06.2021 vollständig zurückgeführt.
4
Mit Telefax vom 27.12.2021 (Anlage DB 2) widerrief die Klägerin den Darlehensvertrag, was die Beklagte mit Schreiben vom 17.02.2022 zurückwies (Anlage DB 3).
5
Die Klägerin ist immer noch im Besitz des Kfz.
6
Die Klägerin begehrt im Kern die Rückabwicklung des Darlehensvertrages und des damit verbundenen Kfz-Kaufvertrages, da ihr Widerruf wirksam, insbesondere fristgemäß erfolgt sei. Der Darlehensvertrag enthalte fehlerhafte und unvollständige Pflichtangaben. Sie begehrt die Rückzahlung der auf das Darlehen geleisteten Tilgung, der gezahlten Zinsen sowie der Anzahlung, wobei sie sich keinen bezifferten Wertverlust des Kfz anrechnen lässt. Sie errechnet insoweit – offenbar aufgrund eines Berechnungsfehlers fälschlich – eine Gesamtsumme von 45.602,60 €.
7
Das Landgericht wies mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen tatsächliche Feststellungen (§ 522 Abs. 2 S. 4 ZPO) und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, die Klage als derzeit unbegründet ab. Die Beklagte könne dem Anspruch der bezüglich der Rückgabe des Kfz vorleistungspflichtigen Klägerin das Leistungsverweigerungsrecht nach § 358 Abs. 4 S. 1, 5, § 357 Abs. 4 S. 1 BGB a.F. entgegenhalten.
8
Dagegen richten sich die mit Schriftsatz vom 13.11.2023 (Bl. 1 f. d. OLG-eAkte) eingelegte und mit Schriftsatz vom 18.03.2024 (Bl. 11 ff. d. OLG-eAkte) begründete Berufung der Klägerin. Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landgerichts abzuändern zu erkennen wie folgt:
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 45.602,60 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen nach Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs der Marke VW, Typ: Touareg, FIN: … nebst Schlüsseln und Fahrzeugpapieren.
2.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 13.05.2022 mit der Rücknahme des unter Ziff. 2 genannten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
3.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.002,41 € freizustellen.
9
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
10
Ergänzend und wegen der Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die klägerische Berufungsbegründung vom 18.03.2024 (Bl. 11 ff. d. OLG-eAkte), die Berufungserwiderung vom 08.05.2024 (Bl. 23 ff. d. OLG-eAkte) sowie die weiteren Schriftsätze der Parteien samt Anlagen verwiesen.
II.
11
Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass die Berufung der Klägerin offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
12
Das verfahrensrechtlich bedenkenfreie und somit zulässige Rechtsmittel der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg.
13
Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts ist richtig. Dessen Urteil beruht nicht auf einer Rechtsverletzung (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO). Vielmehr rechtfertigen die Tatsachen, die der Senat im Rahmen des durch § 529 ZPO festgelegten Prüfungsumfangs der Beurteilung des Streitstoffes zugrunde zu legen hat, keine andere Entscheidung. Die Ausführungen der Klägerin in der Berufungsinstanz vermögen dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg zu verhelfen, da sie das Ersturteil, auf das Bezug genommen wird, nicht erschüttern.
14
Anzumerken bleibt nur Folgendes:
15
Zum Zeitpunkt der klägerischen Widerrufserklärung am 27.12.2021 (Anlage DB 2) bestand unter keinen Umständen mehr ein Widerrufsrecht der Klägerin.
16
§ 495 Abs. 1 BGB in der vom 13.06.2014 bis 20.03.2016 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) (i.V.m. § 491 BGB a.F. in der vom 13.06.2014 bis 20.03.2016 geltenden Fassung [im Folgenden: a.F.], § 355 BGB) ist hier nach Ansicht des Senats zwingend richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass die Ausübung des dort geregelten Widerrufsrechts durch die Klägerin im Dezember 2021 – und damit nach vorheriger kompletter Abwicklung des Darlehensvertrages im Juni 2021 – rechtlich nicht mehr möglich war (s. dazu bereits Senatsurteil v. 26.06.2023, Az. 19 U 7301/23 e, Rz. 33 ff.).
17
1. Der Senat folgt dabei der Rechtsprechung des EuGH (Urteil v. 21.12.2023, Az. C-38/21, C-47/21 und C-232/21, Rz. 273 ff., insb. Rz. 292 [ECLI:EU:C:2023:1014]; dem nunmehr folgend BGH, Beschluss v. 09.04.2024, Az. XI ZR 91/23; Beschluss v. 26.03.2024, Az. XI ZR 288/21; Beschluss v. 23.01.2024, Az. XI ZR 310/22), wonach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.04.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (im Folgenden: VerbrKrRL) dahin auszulegen ist, dass das darin vorgesehene Widerrufsrecht überhaupt nicht mehr ausgeübt werden kann, sobald der Kreditvertrag von den Vertragsparteien – wie vorliegend – vollständig erfüllt worden ist.
18
So geht aus dem 34. Erwägungsgrund der VerbrKrRL hervor, dass sie ein Widerrufsrecht unter Bedingungen vorsieht, die den in der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.09.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG (im Folgenden: FernFin-RL) vorgesehenen entsprechen. Mit der Bestimmung in Art. 6 Abs. 2 lit. c FernFin-RL, dass das Widerrufsrecht bei Verträgen ausgeschlossen ist, die auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers von beiden Seiten bereits voll erfüllt sind, bringt die FernFin-RL den Grundsatz zum Ausdruck, dass das Widerrufsrecht unter allen Umständen bei vollständiger Erfüllung des Vertrags nicht geltend gemacht werden kann; dieser Grundsatz muss auch für die VerbrKrRL gelten.
19
Außerdem kann bei vollständiger Erfüllung des Kreditvertrags mit der Verpflichtung zur Erteilung der in Art. 10 Abs. 2 VerbrKrRL vorgesehenen Informationen das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel, das darin besteht, es dem Verbraucher zu ermöglichen, alle für die ordnungsgemäße Durchführung des Vertrags und insbesondere für die Ausübung seiner Rechte, zu denen sein Widerrufsrecht gehört, erforderlichen Informationen zu erhalten, damit er den Umfang seiner Rechte und Pflichten zur Kenntnis nehmen kann, grundsätzlich nicht mehr erreicht werden. Daraus folgt, dass diese Verpflichtungen nicht mehr den gleichen Grad der Nützlichkeit aufweisen, wenn der Vertrag vollständig erfüllt worden ist.
20
Schließlich hat der EuGH (Urteil v. 10.04.2008, Az. C-412/06, Rz. 42 [ECLI:EU:C:2008:215]) zu dem in der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen vorgesehenen Widerrufsrecht bereits entschieden, dass es nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts nicht ausgeübt werden kann, wenn keinerlei Verpflichtung aus dem betreffenden Vertrag mehr besteht.
21
Unter diesen Umständen ist, da die Erfüllung eines Vertrags die natürliche Form des Erlöschens vertraglicher Verpflichtungen darstellt, davon auszugehen, dass sich ein Verbraucher mangels einschlägiger spezieller Bestimmungen nicht mehr auf das ihm nach Art. 14 Abs. 1 VerbrKrRL zustehende Widerrufsrecht berufen kann, sobald der Kreditvertrag von den Parteien vollständig erfüllt wurde und die gegenseitigen Verpflichtungen aus diesem Vertrag somit beendet sind.
22
2. Zwar war nach § 7 Abs. 1 VerbrKrG a.F. im deutschen Verbraucherkreditrecht bereits ab 1991 ein Widerrufsrecht bei Verbraucherkrediten verankert, welches die Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit noch nicht vorsah.
23
§ 495 Abs. 1 BGB a.F., der dieses Widerrufsrecht erstmals mit der Schuldrechtsmodernisierung 2002 ins BGB überführte, setzt jedoch Art. 14 Abs. 1 VerbrKrRL um (BT-Drs. 16/11643, S. 83; Grüneberg in: Grüneberg, BGB, 83. Aufl., § 495 Rz. 1; Knops in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.07.2023, § 495 BGB Rz. 11; Möller in: BeckOK BGB, 69. Ed., Stand: 01.05.2023, § 495 Rz. 2; Weber in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl., § 495 Rz. 3; Krämer in: Dauner-Lieb/Langen, BGB Schuldrecht, 4. Aufl., § 495 Rz. 1; Pöschke in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 18. Aufl., § 495 Rz. 1 Roth in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl., § 495 BGB Rz. 1).
24
3. Die VerbrKrRL bestimmt aber keine Mindest-, sondern eine vollständige Harmonisierung der in ihren Geltungsbereich fallenden Kreditverträge (Senatsurteil v. 26.06.2023, Az. 19 U 7301/23 e, Rz. 41 ff.; so auch bereits Senatsbeschluss v. 04.04.2023, Az. 19 U 1790/22, juris Rz. 65 ff.).
25
Ob eine Maßnahme der Union eine abschließende Regelung beabsichtigt, ist durch Auslegung unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, ihrer Zielsetzung und ihrer Regelungssystematik zu ermitteln (EuGH, Urteil v. 25.04.2002, Az. C-183/00, Rz. 25 [ECLI:EU:C:2002:255]; Urteil v. 25.04.2002, Az. C-154/00, Rz. 12 [ECLI:EU:C:2002:254]; Urteil v. 25.04.2002, Az. C-52/00, Rz. 16 [ECLI:EU:C:2002:252]).
26
Aus Art. 22 Abs. 1 VerbrKrRL in seiner Auslegung im Licht ihrer Erwägungsgründe 9 und 10 geht hervor, dass diese Richtlinie eine vollständige Harmonisierung der in ihren Geltungsbereich fallenden Kreditverträge vorsieht, und, wie sich aus der Überschrift von Art. 22 VerbrKrRL ergibt, zwingenden Charakter hat, was dahin zu verstehen ist, dass es den Mitgliedstaaten in den spezifisch von dieser Harmonisierung erfassten Bereichen nicht gestattet ist, von dieser Richtlinie abweichende innerstaatliche Rechtsvorschriften beizubehalten oder einzuführen (EuGH, Beschluss v. 12.10.2016, Az. C-511/15, C-512/15, Rz. 26 [ECLI:EU:C:2016:787]; Urteil v. 12.07.2012, Az. C-602/10, Rz. 38 [ECLI:EU:C:2012:443]; s. auch Nobbe, WM 2011, 625; Ady/Paetz, WM 2009, 1061 [1062]).
27
Bei einer gemeinschaftsrechtlichen Vollharmonisierung ist den Mitgliedsstaaten jeglicher Erlass von Regelungen verwehrt, die von den unionsrechtlichen Vorgaben abweichen, sofern nicht das Verfahren des Art. 114 Abs. 4-6 AEUV eingehalten wird (Schröder in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl., Art. 114 AEUV Rz. 46). Weder der deutsche Gesetzgeber noch die Rechtsprechung dürfen folglich bei der Anwendung des § 495 Abs. 1 BGB a.F. von den Vorgaben des Art. 14 Abs. 1 VerbrKrRL – in der oben dargestellten, vom EuGH vorgenommenen Auslegung – abweichen und insbesondere dürfen die Gerichte daraus keine Rechte oder Pflichten ableiten, die in der VerbrKrRL nicht vorgesehen sind (EuGH, Urteil v. 09.11.2016, Az. C-42/15, Rz. 55 [ECLI:EU:C:2016:842]).
28
Damit gehört das Bestehen des Widerrufsrechts nur bis zur vollständigen beiderseitigen Erfüllung der Verpflichtungen aus einem Verbraucherdarlehensvertrag – und nicht darüber hinaus – zu den – bei richtiger Auslegung des Art. 14 Abs. 1 VerbrKrRL – geregelten und damit der Vollharmonisierung unterfallenden Gegenständen der VerbrKrRL. Da dies auch für den Fall des Verbunds an keiner Stelle der VerbrKrRL zurückgenommen oder modifiziert wird, würde es einen Verstoß gegen die Richtlinie darstellen, wollte die nationale Legislative oder Judikative das Widerrufsrecht auch nach Abwicklung des Vertrags weiterbestehen lassen.
29
4. Die in den Europäischen Verträgen vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und die in Art. 288 Abs. 3 AEUV verankerte Pflicht zu dessen richtlinienkonformer Auslegung zwingt den Senat daher dazu, in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht in der vorgeschilderten Auslegung des EuGH die Norm des § 495 Abs. 1 BGB a.F. (i.V.m. § 491 BGB a.F., § 355 BGB) dahingehend zu verstehen, dass das darin vorgesehene Widerrufsrecht nicht mehr ausgeübt werden kann, sobald der Verbraucherkreditvertrag von den Vertragsparteien allseitig vollständig erfüllt worden ist.
30
a) Der EuGH hat die Methode der richtlinienkonformen Auslegung mit der Verpflichtung aller Träger öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch der Gerichte begründet, das in einer Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen sowie alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen (EuGH, Urteil v. 23.04.2009, Az. C-378/07, Rz. 106 [ECLI:EU:C:2009:250]; Urteil v. 13.11.1990, Az. C-106/89, Rz. 8 [ECLI:EU:C:1990:395]; Urteil v. 10.04.1984, Az. C-14/83, Rz. 26 [ECLI:EU:C:1984:153]). Sie impliziert, dass bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses Recht unter Anwendung aller verfügbaren Auslegungsmethoden so ausgelegt wird, dass die Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck dieser Richtlinie ausgerichtet wird, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen (EuGH, Urteil v. 19.01.2010, C-555/07, Rz. 48 [ECLI:EU:C:2010:21]; Urteil v. 10.04.1984, Az. C-14/83, Rz. 26 [ECLI:EU:C:1984:153], s. auch BVerfG, Beschluss v. 08.04.1987, Az. 2 BvR 687/85, juris Rz. 45).
31
b) Allerdings findet die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege zugleich ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten (BVerfG, Beschluss v. 17.11.2017, Az. 2 BvR 1131/16, Rz. 37; Beschluss v. 26.09.2011, Az. 2 BvR 2216/06, Rz. 47). So verlangt auch der EuGH von den nationalen Gerichten nur, bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses „soweit wie möglich“ anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auszulegen (EuGH, Urteil v. 16.12.1993, Az. C-334/92, Rz. 20 [ECLI:EU:C:1993:945]; Urteil v. 13.11.1990, Az. C-106/89, Rz. 8 [ECLI:EU:C:1990:395]).
32
Ebenso hat der EuGH erkannt, dass die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit ihre Schranken findet und daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen darf (EuGH, Urteil v. 15.01.2014, Az. C-176/12, Rz. 39 [ECLI:EU:C:2014:2]; Urteil v. 16.07.2009, C-12/08, Rz. 61 [ECLI:EU:C:2009:466]; s. auch BVerfG, Beschluss v. 17.11.2017, Az. 2 BvR 1131/16, Rz. 37; BAG, Beschluss v. 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21, juris Rz. 30; BayObLG, Beschluss v. 11.01.2023, Az. Verg 2/21, juris Rz. 111).
33
Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung zulässt, können nur innerstaatliche Gerichte beurteilen (EuGH, Urteil v. 07.01.2004, Az. C-60/02, Rz. 58 [ECLI:EU:C:2004:10], BVerfG, Beschluss v. 26.09.2011, Az. 2 BvR 2216/06, Rz. 47; BGH, Urteil v. 18.11.2020, Az. VIII ZR 78/20, juris Rz. 28).
34
c) Nach den vorstehend dargestellten, gemeinschafts- und verfassungsrechtlichen Vorgaben ist § 495 Abs. 1 BGB a.F. in der vom Senat vorgenommenen Weise auszulegen.
35
Der Senat respektiert im Rahmen seiner Rechtsfindung die gesetzgeberische Grundentscheidung, begibt sich nicht sich aus der Rolle des Normanwenders hinaus oder überschreitet die Grenze zu einer normsetzenden Instanz (aa) und wahrt die innerstaatlich vorgegebenen methodischen Grenzen, da er von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung Gebrauch macht (bb).
36
aa) Der Sinn des gesetzlichen Widerrufsrechts von Verbrauchern besteht darin, dem Verbraucher ein an keine materiellen Voraussetzungen gebundenes, einfach auszuübendes Recht zur einseitigen Loslösung vom Vertrag an die Hand zu geben (BGH, Urteil v. 30.08.2018, Az. VII ZR 243/17, Rz. 34; Urteil v. 16.03.2016, Az. VIII ZR 146/15, juris Rz. 16; Urteil v. 25.11.2009, Az. VIII ZR 318/08, juris Rz. 17).
37
Zweck des in § 495 Abs. 1 BGB a.F. eingeräumten Widerrufsrechts ist es, dem Verbraucher Gelegenheit zu geben, das angebahnte Verbraucherdarlehensgeschäft noch einmal in Ruhe zu überdenken, Vergleichsangebote einzuholen und gegebenenfalls seine auf den Abschluss des Verbraucherdarlehensvertrags gerichtete Willenserklärung rückgängig zu machen, um seine Entschließungsfreiheit zu wahren (Nietsch in: Erman, BGB, 17. Aufl., § 495 Rz. 1). Dies gilt umso mehr aufgrund der regelmäßig erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung einer Kreditaufnahme (Knops in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.07.2023, § 495 BGB Rz. 1).
38
Das Widerrufsrecht soll den Verbraucher vor Risiken, die er nicht überblickt (OLG Karlsruhe, Urteil v. 17.10.2000, Az. 17 U 206/99, juris Rz. 52), und damit vor übereilten und unüberlegten Willenserklärungen bewahren, die von erheblicher wirtschaftlicher Tragweite sein können (BGH, Urteil v. 15.04.2010, Az. III ZR 218/09, juris Rz. 13; Urteil v. 27.06.2000, Az. XI ZR 322/98, juris Rz. 19; Urteil v. 19.11.1998, Az. VII ZR 424/97, juris Rz. 14; Urteil v. 01.03.1990, Az. VII ZR 159/89, juris Rz. 10, 19).
39
Ist allerdings ein – grundsätzlich widerruflicher – Vertrag vollständig abgewickelt, bleibt für diese Überlegungs- und Übereilungsschutzfunktion kein sinnvoller Raum mehr. Jede billigenswerte Bedenkens- und Vergleichsfrist ist damit verstrichen. Sämtliche – insbesondere wirtschaftliche – Risiken, welche mit Darlehensvertragsschluss und -durchführung verbunden gewesen sein mochten, haben sich entweder verwirklicht oder erledigt. Der Zweck des Widerrufsrechts ist spätestens damit entfallen. Es gibt nun grundsätzlich kein rechtlich anerkennenswertes Interesse des Verbrauchers mehr, den Vertrag nun doch noch rückabzuwickeln.
40
Allein allgemeine, namentlich späte Vertragsreue stellt keinen Grund für einen Widerruf dar (OLG Stuttgart, Urteil v. 29.12.2011, Az. 6 U 79/11, juris Rz. 39; OLG Frankfurt, Urteil v. 08.02.2012, Az. 19 U 26/11, juris Rz. 42).
41
Etwas anders mag in Ausnahmefällen gelten, etwa falls der Verbraucher aufgrund besonderer Umstände unverschuldet nicht in der Lage ist, das Widerrufsrecht vor vollständiger Vertragsabwicklung auszuüben oder diese ohne dessen Willen herbeigeführt wird, z.B. durch von ihm ungewollte, aufgrund § 267 Abs. 1 BGB aber wirksame Erfüllung Dritter. Dann könnte sich das Berufen der Bank auf das Erlöschen des Widerrufsrechts gegebenenfalls als treuwidrig darstellen, § 242 BGB.
42
bb) Der Senat hat auch von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung Gebrauch gemacht. Er hat hierdurch die Grenzen herkömmlicher Gesetzesinterpretation und richterlicher Rechtsfortbildung gewahrt.
43
aaa) So steht der Wortlaut des § 495 Abs. 1 BGB a.F. der vom Senat vorgenommen, richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegen.
44
Danach steht dem Darlehensnehmer bei einem Verbraucherdarlehensvertrag ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB zu. Dies lässt sich zwanglos dahingehend verstehen, dass mit „Verbraucherdarlehensvertrag“ i.S.v. § 495 Abs. 1 BGB a.F. ein noch nicht vollständig abgewickelter und dadurch erloschener gemeint ist.
45
Bei einem regulären Verlauf endet ein Schuldverhältnis damit, dass die geschuldete Leistung an den jeweiligen Gläubiger bewirkt wird, womit das Schuldverhältnis nach § 362 Abs. 1 BGB durch Erfüllung erlischt. Sind sämtliche wechselseitigen Forderungen – mithin Haupt-, Neben- und gegeben falls Sekundärleistungspflichten als Schuldverhältnisse i.e.S. gemäß § 241 Abs. 1 BGB – aus einem Vertragsverhältnis erfüllt, erlischt damit auch der Vertrag als Schuldverhältnis i.w.S. gemäß § 311 Abs. 1 BGB insgesamt. Dies gilt gleichermaßen im Falle von Erfüllungssurrogaten wie Aufrechnung (§ 389 BGB) oder Leistung an Erfüllungs Statt (§ 364 Abs. 1 BGB).
46
bbb) Dies wird gestützt durch eine systematische Betrachtung der Rechtsnatur des Widerrufsrechts nach § 355 BGB.
47
Beim Widerrufsrecht handelt es sich um ein Gestaltungsrecht, welches das zunächst wirksam geschlossene Schuldverhältnis i.w.S. – im vorliegenden Zusammenhang den Verbraucherdarlehensvertrag – ex nunc in ein Rückgewährschuldverhältnis umwandelt (Müller-Christmann in: BeckOK BGB, 69. Ed., Stand: 01.02.2024, § 355 Rz. 15; Mörsdorf in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.04.2024, § 355 BGB Rz. 25; Fritsche in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl., § 355 Rz. 36; Koch in: Erman, BGB, 17. Aufl., § 355 Rz. 4). Damit zielt das Widerrufsrecht darauf, ein noch bestehendes Vertragsverhältnis mit Wirkung für die Zukunft inhaltlich abzuändern (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 18.01.2012, Az. I-6 W 221/11, juris Rz. 15). Existiert wegen vollständiger Erfüllung sämtlicher wechselseitiger Forderungen kein Vertrag mehr, geht die Ausübung des Widerrufsrechts ins Leere, da es nichts umzugestalten gibt.
48
Der Senat sieht wohl, dass nach der Rechtsprechung des BGH dem Verbraucher ein Widerrufsrecht auch dann zusteht, wenn der Vertrag wegen Nichtigkeit oder Vertragskündigung bzw. -aufhebung nicht (mehr) existent ist. Dahinter steht der Gedanke, dass der Verbraucher die Möglichkeit erhalten soll, sich von dem geschlossenen Vertrag auf einfache Weise durch Ausübung des Widerrufsrechts zu lösen, ohne mit dem Unternehmer in eine rechtliche Auseinandersetzung über die Nichtigkeit des Vertrages eintreten zu müssen (BGH, Urteil v. 25.11.2009, Az. VIII ZR 318/08, Rz. 17 ff.) oder die mit sonstigen Nichtigkeits- oder Beendigungsgründen verbundenen, gegebenenfalls weniger günstigen Rechtswirkungen in Kauf nehmen zu müssen (BGH, Urteil v. 11.10.2016, Az. XI ZR 482/15, Rz. 28).
49
Diese Argumente verfangen indessen nicht bei Erlöschen des Widerrufsrechts im Falle beiderseits vollständiger Leistungserbringung.
50
Daher hält auch der BGH in seinen aktuellen Entscheidungen hierzu (BGH, Beschluss v. 09.04.2024, Az. XI ZR 91/23; Beschluss v. 26.03.2024, Az. XI ZR 288/21; Beschluss v. 23.01.2024, Az. XI ZR 310/22) konsequenterweise seine bisherige Rechtsprechung (so z.B. BGH, Urteil v. 25.04.2017, Az. XI ZR 314/16, Rz. 13, jedoch begründungslos), dass eine Beendigung des Darlehensvertrags durch komplette Abwicklung einem Widerruf nicht entgegensteht, mit Blick auf die neueste Rechtsprechung des EuGH zu Art. 14 Abs. 1 VerbrKrRL (Urteil v. 21.12.2023, Az. C-38/21, C-47/21 und C-232/21, Rz. 273 ff., insb. Rz. 292 [ECLI:EU:C:2023:1014]) nicht weiter aufrecht.
51
ccc) Ebenso ist die Auslegung des Senats von der ratio des verbraucherdarlehensrechtlichen Widerrufsrechts gedeckt (s.o.).
III.
52
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO). Auch erfordern weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats als Berufungsgericht oder die Zulassung der Revision (§§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO).
53
Wie dargestellt, liegen den vorstehenden Ausführungen die von der unionsgerichtlichen und höchstrichterlichen nationalen Rechtsprechung entwickelten Leitlinien zugrunde. Auch der BGH folgt mittlerweile – wie oben dargestellt – der Rechtsauffassung des EuGH, dass dem Darlehensnehmer nach der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags kein Widerrufsrecht nach Art. 14 Abs. 1 VerbrKrRL mehr zusteht.
54
Dazu ist keine mündliche Verhandlung geboten (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 ZPO), da keine besonderen Gründe vorgetragen oder sonst ersichtlich sind, bei denen nur die Durchführung einer mündlichen Verhandlung der prozessualen Fairness entspräche.
IV.
55
Bei dieser Sachlage wird schon aus Kostengründen empfohlen, die Berufung zurückzunehmen, was eine Ermäßigung der Gebühren für das „Verfahren im Allgemeinen“ von 4,0 (Nr. 1220 GKG-KV) auf 2,0 (Nr. 1222 GKG-KV) mit sich brächte.
56
Zu diesen Hinweisen besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses. Der Senat soll nach der gesetzlichen Regelung die Berufung unverzüglich durch Beschluss zurückweisen, falls sich Änderungen nicht ergeben. Mit einer einmaligen Verlängerung dieser Frist um maximal drei weitere Wochen ist daher nur bei Glaubhaftmachung konkreter, triftiger Gründe zu rechnen (vgl. OLG Rostock, Beschluss v. 27.05.2003, Az. 6 U 43/03, juris Rz. 7 ff.). Eine Fristverlängerung um insgesamt mehr als einen Monat ist daneben entsprechend § 520 Abs. 2 S. 3 ZPO nur mit Zustimmung des Gegners möglich.