Titel:
Zu den Rechtsfolgen des Rücktritts von einer Prüfung
Normenketten:
GG Art. 3 Abs. 1
RaPO § 9 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 4, Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4
Leitsätze:
1. Aus Gründen der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit ist einem Prüfling bei der Beurteilung des Zeitpunkts, bis zu dem eine etwaige Rücktrittserklärung in zumutbarer Weise erwartet werden kann, auch dann ein Mindestmaß an Überlegungszeit zuzugestehen, wenn die schriftliche Prüfung beendet ist (ebenso BVerwG BeckRS 2022, 30741). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der das Prüfungsrecht beherrschende, verfassungsrechtlich gewährleistete Grundsatz der Chancengleichheit lässt ein Absehen von der Bewertung einer Prüfung, von der nach Antritt zurückgetreten wird, mit "nicht ausreichend" nur dann zu, wenn der Rücktritt aus Gründen erfolgt, die der Prüfling nicht zu vertreten hat. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zu vertreten hat der Prüfling den Rücktritt in diesem Sinne jedenfalls dann, wenn er es in Kenntnis einer – auch psychischen – gesundheitlichen Einschränkung unterlässt, sich rechtzeitig vor Beginn der Prüfung fachkundig über seine etwaige Prüfungsunfähigkeit zu informieren. (Rn. 13 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rücktritt von einer Prüfung, Prüfungsunfähigkeit, unverzügliche Geltendmachung, Chancengleichheit, Obliegenheit, Vertretenmüssen des Rücktritts
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12218
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Unter Abänderung des Streitwertbeschlusses des Verwaltungsgerichts wird der Streitwert für beide Instanzen auf jeweils 7.500 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Klägerin studiert seit dem Wintersemester 2015/2016 bei der Beklagten Betriebswirtschaft im Bachelorstudiengang. Am 8. Juli 2019 trat die Klägerin ihre zweite und letztmögliche Wiederholungsprüfung im Bachelormodul „Wirtschaftsenglisch im Unternehmenskontext“ an und erzielte dabei die Note „nicht ausreichend“. Den von der Klägerin erklärten Rücktritt von der Prüfung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 31. Juli 2019 ab.
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Das Verwaltungsgericht hat die auf Genehmigung eines Rücktritts von der zweiten Wiederholungsprüfung im Bachelormodul „Wirtschaftsenglisch im Unternehmenskontext“ gerichtete Verpflichtungsklage abgewiesen. Zur Begründung führte es aus, es könne dahingestellt bleiben, ob bei der Klägerin überhaupt eine (erkannte) Prüfungsunfähigkeit vorgelegen habe. Den Rücktritt von der Prüfung habe sie erst mit Schreiben vom 8. Juli 2019, der Beklagten zugegangen am 10. Juli 2019, erklärt. Entgegen § 9 Abs. 3 Satz 2 der Rahmenprüfungsordnung für die Fachhochschulen in Bayern (RaPO) vom 17. Oktober 2001 (GVBl. S. 686, in der hier einschlägigen Fassung vom 6. August 2010, GVBl S. 688) habe sie damit ihre Prüfungsunfähigkeit nicht unverzüglich bei der Prüfungsaufsicht geltend gemacht, sondern die Prüfung zu Ende geschrieben und abgegeben. Die Geltendmachung ihrer Prüfungsunfähigkeit wäre ihr auch während der Prüfung und spätestens bei Abgabe der Arbeit möglich und zumutbar gewesen.
3
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Rechtsschutzziel weiter, den Rücktritt von der zweiten Wiederholungsprüfung im Bachelormodul „Wirtschaftsenglisch im Unternehmenskontext“ zu genehmigen und ihr damit einen weiteren Wiederholungsversuch zu ermöglichen.
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Die Beklagte tritt dem entgegen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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Der zulässige Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1, 4 und 5 VwGO sind nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Art und Weise dargelegt bzw. liegen nicht vor.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen nicht vor.
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Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind anzunehmen, wenn in der Antragsbegründung ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. etwa BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – NJW 2009, 3642) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838/839). Schlüssige Gegenargumente in diesem Sinne liegen dann vor, wenn der Rechtsmittelführer substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufzeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung im Ergebnis unrichtig ist (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546/548). Richtigkeit im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bedeutet nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Ergebnisrichtigkeit. Diese ist grundsätzlich nicht nach den Entscheidungsgründen zu beurteilen. Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente schlagen nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – juris Rn. 9; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 12).
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Die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist im Ergebnis richtig. Der Klägerin wurde zu Recht der Rücktritt von der Wiederholungsprüfung im Bachelormodul „Wirtschaftsenglisch im Unternehmenskontext“ verweigert. Der angegriffene Bescheid vom 31. Juli 2019 ist daher rechtmäßig. Die Klägerin wurde mit gerichtlichem Schreiben vom 5. März 2024 zur Ergebnisrichtigkeit des angegriffenen Urteils angehört. Sie nahm mit Schriftsatz vom 9. April 2024 hierzu Stellung.
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a) Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts war die Rechtzeitigkeit der Rücktrittserklärung der Klägerin nicht an § 9 Abs. 3 Satz 2 RaPO zu messen.
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Nach ständiger Rechtsprechung ist einem Prüfling bei der Beurteilung des Zeitpunkts, bis zu dem seine Rücktrittserklärung in zumutbarer Weise erwartet werden kann, wegen der weitreichenden Rechtsfolgen des Rücktritts ein Mindestmaß an Überlegungszeit zuzugestehen, und zwar auch dann, wenn die schriftliche Prüfung vorüber ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.9.2022 – 6 B 20.22 – BeckRS 2022,30741 Rn. 14; U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – BVerwGE 80, 282/286 ff.). Dies zugrunde gelegt, ist das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Klägerin ihre Prüfungsunfähigkeit bereits während oder kurz nach der Prüfung bei der Prüfungsaufsicht hätte geltend machen müssen. Soweit § 9 Abs. 3 Satz 2 RaPO dies verlangt, ist er im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht zur Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Rücktrittserklärung heranzuziehen. Vielmehr entspricht die Rücktrittserklärung der Klägerin vom 8. Juli 2019, die sie nach der absolvierten Prüfung vom selben Tag und nach Aufsuchen des Amtsarztes abgegeben hat, den Anforderungen an eine unverzügliche Anzeige und Glaubhaftmachung der Prüfungsunfähigkeit (vgl. § 9 Abs. 3 Satz 1 RaPO). Unschädlich ist im vorliegenden Einzelfall, dass die Rücktrittserklärung der Klägerin vom 8. Juli 2019 bei der Beklagten erst am 10. Juli 2019 eingegangen ist. Dem amtsärztlichen Zeugnis vom 10. Juli 2019 ist zu entnehmen, dass sich die Klägerin dort bereits am 8. Juli 2019 untersuchen ließ und sie sowohl am 8. als auch am 9. Juli 2019 prüfungsunfähig war.
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b) Obwohl die Klägerin ihre Prüfungsunfähigkeit rechtzeitig angezeigt und glaubhaft gemacht hat, hat sie keinen Anspruch auf Genehmigung des Rücktritts.
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Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 RaPO wird bei Rücktritt von einer Prüfung, die bereits angetreten wurde, die Note „nicht ausreichend“ erteilt, es sei denn, der Rücktritt erfolgte aus vom Studierenden nicht zu vertretenden Gründen. Die Klägerin hat es jedoch in Kenntnis ihrer Erkrankung unterlassen, sich rechtzeitig vor der Prüfung Klarheit über ihre uneingeschränkte Prüfungsfähigkeit zu verschaffen. Sie war sich bewusst, dass ihre vor oder während Prüfungen auftretenden körperlichen Beschwerden, die zur Prüfungsunfähigkeit führten, psychisch bedingt waren und sie psychologische Hilfe benötigt. Ohne sich in eine entsprechende Behandlung zu begeben bzw. den Erfolg einer solchen Behandlung abzuwarten, hat die Klägerin an der streitgegenständlichen Prüfung teilgenommen. Die Verminderung der Leistungsfähigkeit der Klägerin kann damit nicht als Rücktrittsgrund anerkannt werden.
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aa) Der nachträgliche, auf Prüfungsunfähigkeit gestützte Rücktritt von einer Prüfung berührt in besonderem Maße den das gesamte Prüfungsrecht beherrschenden, verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundsatz der Chancengleichheit (vgl. BVerwG, U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – NJW 1989, 2340). Eine solche den Grundsatz der Chancengleichheit zu Lasten der Mitbewerber verletzende zusätzliche Prüfungschance verschafft sich nicht nur derjenige, dem es gelingt, durch nachträglich vorgetäuschte Prüfungsunfähigkeit die Genehmigung des Rücktritts zu erreichen, sondern auch der, der tatsächlich prüfungsunfähig war, sich aber in Kenntnis seines Zustands der Prüfung unterzogen hat, um sich im Falle des Misserfolgs durch nachträglichen Rücktritt den Rechtswirkungen der fehlgeschlagenen Prüfung zu entziehen. Es ist Sache des Prüflings, sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob seine Leistungsfähigkeit durch außergewöhnliche Umstände, insbesondere durch Krankheit, erheblich beeinträchtigt ist. Die Obliegenheit des Prüflings, sich rechtzeitig vor der Prüfung über seine Prüfungsfähigkeit zu vergewissern, ist Teil der auf dem Prüfungsrechtsverhältnis beruhenden Pflicht des Prüflings, am Prüfungsverfahren mitzuwirken, die ihren Rechtsgrund in dem auch im Prüfungsverfahren geltenden Grundsatz von Treu und Glauben hat. Eine Mitwirkung kann vom Prüfling nur im Rahmen des Zumutbaren verlangt werden; er verletzt die Obliegenheit zur Mitwirkung nur, wenn er ihr hätte nachkommen können und müssen (vgl. auch BayVGH, U.v. 15.1.1997 – 7 B 96.2410 – BeckRS 1997, 19401; U.v. 16.4.2002 – 7 B 01.1889 – BeckRS 2002, 22392 Rn. 18).
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bb) Bereits mit Schreiben vom 3. Juli 2017 hatte die Klägerin einen „Antrag auf Annullierung einer Prüfungsleistung“ mit der Begründung gestellt, ihr sei während ihrer Prüfung im Bachelormodul „Unternehmensorganisation“ (Drittversuch) am 3. Juli 2017 „schwindelig und schwarz vor Augen“ geworden und es sei Übelkeit aufgetreten. Am 23. Januar 2018 stellte sie erneut einen „Antrag auf Annullierung einer Prüfungsleistung“ im Bachelormodul „Englisch im Unternehmenskontext“ mit der Begründung, ihr sei bereits am Vormittag während der Prüfung im Bachelormodul „Unternehmensorganisation“ am 22. Januar 2018 schwindelig und übel geworden. Danach sei es ihr etwas besser geworden, allerdings seien die Beschwerden am Nachmittag in der Prüfung zum Bachelormodul „Englisch im Unternehmenskontext“ wieder aufgetreten. Mit Schreiben vom 13. Juli 2018 stellte die Klägerin einen „Antrag auf Nachfrist“ für die schriftliche Prüfung „Kosten- und Leistungsrechnung“, weil sie an der Prüfung am 13. Juli 2018 wegen eines grippalen Infekts und Übelkeit nicht habe teilnehmen können. Mit Schreiben vom 21. Januar 2019 erfolgte ein weiterer „Antrag auf Nachfrist“ für die Prüfung „Englisch im Unternehmenskontext“ am 21. Januar 2019. In dem Schreiben führte die Klägerin aus, der Prüfungsantritt sei aus krankheitsbedingten Gründen, wie Kreislaufproblemen, Kopfschmerz und Übelkeit am selben Tag unzumutbar. Da diese körperlichen Beschwerden aufgrund „psychischer Nervosität und Mangel an Stressresistenz“ aufgetreten seien, werde sie auf Empfehlung ihrer Hausärztin psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Das gleichzeitig eingereichte Attest der Hausärztin Dr. B., Gemeinschaftspraxis Dres. C. u.a., vom 21. Januar 2019 bestätigte, dass die Klägerin aufgrund akuter Kopfschmerzen mit Übelkeit und Erbrechen nicht prüfungsfähig sei; eine neurologische Abklärung und psychologische Behandlung würden dringend empfohlen. Ein weiterer „Antrag auf Nachfrist“ erfolgte mit gleichlautendem Schreiben der Klägerin vom 31. Januar 2019 für das Bachelormodul „Produktions- und Logistikmanagement“. Im Ärztlichen Attest vom 31. Januar 2019 bestätigte die Hausärztin Dr. F., Gemeinschaftspraxis Dres. C. u.a., Prüfungsunfähigkeit der Klägerin am 31. Januar 2019 wegen starker akuter Kopfschmerzen mit Übelkeit und Fieber am Vortag. Die ärztlichen Atteste wurden jeweils durch Zeugnisse des Gesundheitsamts im Landratsamt M. bestätigt. Wenn auch nur teilweise dokumentiert, wurde den Anträgen der Klägerin entsprechend stattgegeben.
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cc) Mit streitgegenständlichem Schreiben vom 8. Juli 2019 beantragte die Klägerin die „Annullierung einer Prüfungsleistung“ im Bachelormodul „Englisch im Unternehmenskontext“ im Drittversuch. Sie habe am 8. Juli 2019 die Prüfung angetreten und geschrieben. Sie leide unter Konzentrationsschwierigkeiten, die bei Druck aufträten (psychisch bedingt). Während der Klausur sei nach ca. der Hälfte der Zeit die Übelkeit wieder aufgetreten. Sie habe versucht, die Klausur zu Ende zu schreiben, befürchte aber nun, durchgefallen zu sein. Zwar wurde der Klägerin mit Zeugnis des Gesundheitsamts, Landratsamt M. vom 10. Juli 2019, und hausärztlichem Attest der Dres. C. u.a. vom 9. Juli 2019 das Vorliegen von Prüfungsunfähigkeit bescheinigt. Der im streitgegenständlichen Bescheid der Beklagten vom 31. August 2019 enthaltenen Begründung, die Klägerin habe den Rücktritt von der Prüfung zwar fristgerecht erklärt, der Prüfungsausschuss sei aber aufgrund der vorgelegten fach- und amtsärztlichen Atteste zu dem Ergebnis gekommen, dass am 8. Juli 2019 keine unerkannte Prüfungsunfähigkeit vorgelegen habe, ist jedoch beizupflichten. Die Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass sich die Klägerin vor Antritt der streitgegenständlichen Wiederholungsprüfung um die medizinische Abklärung ihrer Prüfungsfähigkeit hätte bemühen müssen.
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Die Klägerin musste sich nach zahlreichen Prüfungsrücktritten bzw. Anträgen auf Fristverlängerung wegen Konzentrationsschwierigkeiten und Übelkeit bewusst sein, dass sie nicht bzw. nicht uneingeschränkt prüfungsfähig ist. Seit ihrem Schreiben vom 21. Januar 2019, in dem sie die Inanspruchnahme psychologischer Hilfe auf Empfehlung ihrer Hausärztin ankündigte, war ihr positiv bekannt, dass sie bei Prüfungen unter Leistungsbeeinträchtigungen leidet, die zumindest der Abklärung und voraussichtlich einer Behandlung bedürfen. Nimmt die Klägerin an einer weiteren Prüfung teil, ohne entsprechende Maßnahmen zur Wiederherstellung ihrer Prüfungsfähigkeit ergriffen zu haben, handelt es sich um eine bewusste Risikoentscheidung, die dazu führt, dass die Verminderung ihrer Leistungsfähigkeit nicht als Rücktrittsgrund anzuerkennen ist (vgl. Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 265).
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dd) Nicht durchdringen kann die Klägerin mit dem Einwand, sie sei sich bewusst gewesen, dass ihre Prüfungsfähigkeit aufgrund der Vorgeschichte eingeschränkt gewesen sein könne, anders als bei anderen Prüfungen habe sie jedoch vor der Prüfung am 8. Juli 2019 keinerlei Anzeichen bemerkt. Eine bewusste Risikoentscheidung liege deshalb eben nicht vor. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin bereits mehrfach Anträge auf „Annullierung einer Prüfungsleistung“ mit der Begründung gestellt hatte, ihr sei während der Prüfung „schwindelig und schwarz vor Augen“ bzw. übel geworden. Im Einzelnen handelte es sich dabei um Prüfungen in den Bachelormodulen „Unternehmensorganisation“ am 3. Juli 2017 und „Englisch im Unternehmenskontext“ am 22. Januar 2018. Letzteren Antrag hatte sie damit begründet, dass ihr bereits vormittags während der Prüfung „Unternehmensorganisation“ schwindelig und übel geworden sei, danach sei es ihr etwas besser gegangen. Am Nachmittag seien die Beschwerden während der Prüfung „Englisch im Unternehmenskontext“ wieder aufgetreten, als sie sich „in Englisch konzentrierte“. Vor diesem Hintergrund hätte es sich der Klägerin – bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt gegen sich selbst – aufdrängen müssen, dass sich die wiederkehrend auftretenden, im Wesentlichen gleichartigen Symptome möglicherweise auch erst im Laufe der jeweiligen Prüfung einstellen könnten. Wenn sich die Klägerin dessen ungeachtet darauf verlassen haben sollte, dass sich die Prüfungsunfähigkeit bereits vor Antritt der Prüfung ankündigt, spricht dies nicht gegen eine bewusste Risikoentscheidung. Bei anderer Betrachtungsweise würde sich das jedem Prüfungsrücktritt innewohnende Risiko einer Verletzung der Chancengleichheit zu Lasten der Mitbewerber verwirklichen, weil ein Prüfling es in der Hand hätte, durch Teilnahme an der Prüfung abzuklären, ob er diese erfolgreich absolvieren wird und sich anderenfalls durch Rücktritt wegen einer vorliegenden Krankheit eine weitere Prüfungschance zu verschaffen. Nicht auszuschließen ist, dass die Klägerin von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Hierfür spricht ihre Äußerung im Schreiben vom 8. Juli 2019, sie befürchte durchgefallen zu sein.
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Der Vortrag der Klägerin, sie habe durchaus Maßnahmen zur dauerhaften Gewährleistung ihrer Prüfungsfähigkeit ergriffen, aber erst im Sommer 2019 einen Therapieplatz erhalten, ist zum einen nicht glaubhaft gemacht, zum anderen bleibt offen, ob der Therapieantritt vor oder nach der Prüfung am 8. Juli 2019 erfolgt ist. Auch im ersteren Fall konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass sich die psychischen Probleme bei Prüfungen kurzfristig erledigt hätten.
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Ungeachtet dessen liegt aufgrund des weiteren Verlaufs der Prüfungsgeschichte der Klägerin mit mehrfachen Prüfungsrücktritten in den Jahren 2020 bis 2022, die jeweils mit psychischen Schwierigkeiten begründet wurden, der Schluss nahe, dass die psychischen Probleme der Klägerin auch schon im Jahr 2018 ein Dauerleiden darstellten. Selbst wenn es sich dabei nicht nur um persönlichkeitsbedingte Defizite, die ohnehin nicht zum Rücktritt von einer Prüfung berechtigen, handeln würde, sondern um eine Krankheit, hätte diese nicht nur vorübergehend, sondern auf unabsehbare Zeit den Zustand der Klägerin bei Prüfungen beeinträchtigt und damit ihre individuelle Leistungsfähigkeit geprägt. Das Vorliegen eines Dauerleidens stellt jedoch keinen Grund für einen nachträglichen Prüfungsrücktritt dar (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2021 – 6 C 1.20 – juris Rn. 18 ff. m.w.N.).
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2. Die Berufung ist auch nicht wegen des Vorliegens einer Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) zuzulassen.
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Die Klägerin trägt vor, das Verwaltungsgericht weiche in seinem Urteil von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Oktober 1988 – 7 C 8.88 – (juris) ab. Das Bundesverwaltungsgericht habe ausgeführt, dass ein Rücktritt wegen gesundheitlicher Beschwerden, die nach dem Beginn einer schriftlichen Prüfung aufgetreten seien, je nach Art der Beschwerden und ihrer Auswirkungen auf die Prüfungsfähigkeit auch dann noch unverzüglich sein könne, wenn der Prüfling am selben Tag sofort nach der Prüfung einen Arzt konsultiert und alsbald danach, noch vor der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses, die Rücktrittserklärung abgegeben habe. Das Verwaltungsgericht habe hingegen im Hinblick auf die Unverzüglichkeit des Rücktritts gefordert, dass bei Vorliegen von Krankheitssymptomen ein unbedingter Rücktritt spätestens bei Abgabe der Prüfung erfolgen müsse, auch wenn sich der Prüfling hinsichtlich des Vorliegens einer Prüfungsunfähigkeit aufgrund der Krankheitssymptome nachvollziehbar nicht sicher sei.
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Ungeachtet dessen, dass die Divergenz in der Zulassungsbegründung schon nicht hinreichend bezeichnet worden war (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), rechtfertigt diese die Zulassung der Berufung nicht. Entscheidend sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 41). Da der Verwaltungsgerichtshof die Begründung des Verwaltungsgerichts ausgetauscht und festgestellt hat, dass die Rücktrittserklärung unverzüglich erfolgt ist, kommt der von der Klägerin gerügten Divergenz keine Bedeutung mehr zu.
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3. Der Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 138 Nr. 3, § 108 Abs. 1 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) liegt nicht vor.
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Hierzu trägt die Klägerin auch nach Anhörung zum Austausch der Begründung durch gerichtliches Schreiben vom 5. März 2024 weiterhin vor, das Verwaltungsgericht habe weder in dem richterlichen Hinweis vom 3. Dezember 2020 noch in der mündlichen Verhandlung einen Hinweis darauf gegeben, dass es einen Nachweis der mangelnden Erkennbarkeit des Vorliegens einer krankheitsbedingten Prüfungsunfähigkeit durch ärztliches Attest für erforderlich halte.
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Mit diesem Vortrag der Klägerin wird keine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung dargetan. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt, dass der Beteiligte Gelegenheit hat, das aus seiner Sicht für seine Rechtsverfolgung oder -verteidigung Notwendige in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht vorzutragen. Zum Grundsatz des rechtlichen Gehörs gehört auch das Verbot von Überraschungsentscheidungen. Eine der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs zuwiderlaufende unzulässige Überraschungsentscheidung liegt erst dann vor, wenn das Gericht einen bislang nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl. etwa BVerwG, B.v. 26.6. 2013 – 7 B 42.12 – juris Rn. 11 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall.
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Bereits in seinem Schriftsatz zur Klagebegründung vom 26. September 2019 führte der Bevollmächtigte der Klägerin aus, dass diese ab „ca. der Hälfte der Bearbeitungszeit“ die krankhafte Verminderung ihrer Leistungsfähigkeit erkannt hat oder hätte erkennen müssen. Die Beklagte stimmte dieser Bewertung im Schriftsatz vom 11. November 2019 zu. Im Hinweis vom 3. Dezember 2020 ist das Verwaltungsgericht ebenso wie im Urteil vom 19. Juli 2022 von der Kenntnis der Klägerin hinsichtlich ihrer Prüfungsunfähigkeit ausgegangen. Nicht nachvollziehbar ist deshalb, aus welchem Grund das Verwaltungsgericht auf die Erforderlichkeit eines ärztlichen Attests zum Nachweis der Nichterkennbarkeit der Prüfungsunfähigkeit hätte hinweisen sollen.
28
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Bei der streitgegenständlichen Prüfung handelt es sich um eine Einzelleistung, deren Nichtbestehen zur Beendigung des Studiums führt, sodass der Streitwert nach Nr. 36.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit festzusetzen ist.
29
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).