Titel:
Täuschungsversuch in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung
Normenketten:
BayJAPO § 11 Abs. 4, Abs. 6
GG Art. 12 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsätze:
1. Mit § 11 Abs. 4 JAPO werden Fallgestaltungen sanktioniert, die nicht bereits vom Anwendungsbereich des Absatzes 1 erfasst werden; § 11 Abs. 4 JAPO geht somit weit über die übrigen in der Regelung enthaltenen Sanktionsnormen hinaus. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Da von § 11 Abs. 4 JAPO auch Fallgestaltungen erfasst sein können, bei denen eine Gefährdung der Chancengleichheit nicht in Betracht kommen kann und daher die vorgesehene Rechtsfolge einer Bewertung mit "ungenügend" (0 Punkte) weder erforderlich noch angemessen ist, muss die Norm in jedem Einzelfall in einer den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügenden Weise angewendet werden. Auch § 11 Abs. 4 JAPO enthält keinen Automatismus dahingehend, dass die Prüfungsarbeit bei Vorliegen der Voraussetzungen immer mit "ungenügend" (0 Punkten) zu bewerten wäre. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zweite Juristische, Staatsprüfung, (unerlaubtes) Verlassen des beaufsichtigten Prüfungsbereichs (strittig), Sanktionsnorm, Verhältnismäßigkeit, Zweite Juristische Staatsprüfung, schriftliche Prüfung, Bewertung, Täuschungsversuch, Prüfungsbereich, unerlaubtes Verlassen, Belehrung, Toilettengang, Chancengleichheit
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 22.03.2024 – M 4 S 24.1275
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12217
Tenor
I. Unter Abänderung von Ziffern I. und II. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 22. März 2024 wird die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 15. Februar 2024 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 6. Februar 2024 wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 6. Februar 2024.
2
Der Antragsteller nahm im Termin 2023/2 am schriftlichen Teil der Zweiten Juristischen Staatsprüfung teil. Am ... 2023 hatte er im Sitzungssaal ... des Verwaltungsgerichts M. die Aufgabe 4 anzufertigen. Nachdem die Prüflinge ihren jeweiligen Platz eingenommen hatten, wurden sie unter anderem darüber belehrt, dass bei einem Versuch, das Prüfungsergebnis durch Unterschleif, Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel zu beeinflussen, die Arbeit mit der Note „ungenügend – 0 Punkte“ bewertet werde. Ein Unterschleif liege auch dann vor, wenn ein Prüfling nach Ausgabe der Aufgaben unerlaubt den beaufsichtigten Prüfungsbereich verlasse. Im Rahmen der Belehrung wurden die Prüflinge aufgefordert, etwaige noch auf oder unter ihrem Tisch befindliche verbotene Hilfsmittel sofort zu entfernen und in der Garderobe oder auf einem gesonderten Tisch abzulegen. Anschließend wurden die Aufgabentexte ausgeteilt, die laut Belehrung mit dem Deckblatt nach oben auf den Tischen der Prüflinge liegenzubleiben hatten und erst aufgeschlagen werden durften, wenn der Aufsichtführende den Beginn der Arbeitszeit festgesetzt hatte. Der Antragsteller wurde als einer von acht bei insgesamt elf Prüfungsteilnehmern für eine Kontrolle mittels Metalldetektoren ausgewählt, die durch Justizbeamte am jeweiligen Arbeitsplatz des Prüflings durchzuführen war. Im Rahmen einer weiteren Belehrung wurden die Prüflinge, die an den für diese Kontrolle vorab ausgewählten Plätzen saßen, gebeten, aufzustehen, sämtliche metallischen Gegenstände wie Münzen etc. aus Kleidungstaschen zu entfernen und an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben, bis die Justizbeamten zu ihnen kämen. Noch während der Kontrolle der ausgewählten Prüflinge und vor seiner eigenen Kontrolle verließ der Antragsteller den Prüfungsraum mit den Worten „das dauert hier ja alles noch“ und kehrte nach ca. 30 bis 60 Sekunden zurück. Nach Beendigung der Kontrolle begann die Arbeitszeit. Eine anschließende Überprüfung der Toiletten war ausweislich der Niederschrift über die Bearbeitung der Aufgabe 4 ohne Befund.
3
Mit Bescheid vom 6. Februar 2024 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller nach vorheriger Anhörung mit, der Prüfungsausschuss für die Zweite Juristische Staatsprüfung habe beschlossen, die Bearbeitung der Aufgabe 4 der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2023/2 des Antragstellers mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) zu bewerten (§ 11 Abs. 4 JAPO). Der Antragsteller habe nach Ausgabe der Prüfungsarbeiten den beaufsichtigten Prüfungsbereich unerlaubt verlassen, obwohl er mehrfach, zuletzt am Prüfungstag, darüber belehrt worden sei, dass auch in diesem Fall ein Unterschleif vorliege. Eine Erlaubnis durch die Prüfungsaufsicht sei nicht erteilt worden. Der vom Antragsteller angeführte Blickkontakt im Zusammenhang mit seiner Bemerkung „das dauert hier ja alles noch“ habe nicht als Zustimmung der Prüfungsaufsicht zum Verlassen des Prüfungsraums verstanden werden können. Die sofortige Vollziehung des Bescheids wurde angeordnet.
4
Mit Schreiben vom 25. Februar 2024 erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners (Az. M 4 K 24.748). Mit Schreiben vom 12. März 2024 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 22. März 2024 ablehnte.
5
Hiergegen wendet sich der Antragsteller im Wesentlichen mit der Begründung, das gesamte Verhalten des Antragstellers habe am Maßstab des objektiven Empfängerhorizonts nicht anders verstanden werden können als eine Bitte um Erlaubniserteilung. Er habe frühzeitig Blickkontakt zur Prüfungsaufsicht aufgenommen, diesen gehalten und darüber hinaus mit dem Finger in Richtung Ausgang und Toilette gezeigt. Gerade im Hinblick auf die erfolgte Belehrung hätte der Prüfungsaufsicht bewusst sein müssen, dass das Verhalten des Antragstellers als Bitte um Erlaubnis, den Raum verlassen zu dürfen, zu verstehen sei. § 11 Abs. 4 JAPO sehe keine besondere Form der Erlaubniserteilung vor. Nach dem auch im Prüfungsrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben ergebe sich eine Obliegenheit der Prüfungsbehörde und ihrer Hilfspersonen, auf etwaige Mängel im Verhalten des Prüflings rechtzeitig hinzuweisen. Mit dieser sei nicht vereinbar, wenn eine Aufsichtsperson zwar nicht antworte, den Prüfling jedoch auch nicht verbal aufhalte, obwohl der Weg von dessen Arbeitsplatz zur Ausgangstür am Pult der Aufsichtspersonen vorbeiführe. Das Vorliegen eines minder schweren Falls im Sinne des § 11 Abs. 6 JAPO sei fehlerhaft verneint worden. Die prüfungsrechtliche Sanktion des § 11 Abs. 4 JAPO stelle einen Eingriff in die Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 Abs. 1 GG dar und sei dann unverhältnismäßig, wenn die verhängte Sanktion ungeeignet sei, den mit ihr verfolgten Zweck zu erreichen, weil das sanktionierte Verhalten nicht geeignet gewesen sei, das Prüfungsergebnis zu beeinflussen. Zum Zeitpunkt des Verlassens des Prüfungsraums seien die Aufgaben zwar ausgeteilt, aber die Sachverhalte nicht geöffnet gewesen. Mangels Kenntnis der Aufgabenstellung wäre eine Kontaktaufnahme mit Dritten nutzlos gewesen. Der Antragsteller habe sich auch nicht eines unerlaubten Hilfsmittels entledigt; die Durchsuchung des Toilettenraums habe nichts ergeben.
6
Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen. Im Wesentlichen trägt er vor, es werde bestritten, dass durch die Aufsichtspersonen konkludent, durch Nicken o.ä., eine Erlaubnis zum Verlassen des Prüfungsraums erteilt worden sei. Der Antragsteller sei mit den Worten „das dauert hier ja noch“ von seinem Arbeitsplatz auf der rechten Saalseite am Pult, an dem die Aufsichtspersonen gesessen hätten, vorbeigelaufen und habe den Prüfungsraum verlassen. Aufgrund der Kürze der Zeit – die Tür des Prüfungsraums sei vom Antragsteller in wenigen Schritten zu erreichen gewesen – sei es den Aufsichtspersonen nicht möglich gewesen zu reagieren. Als die Aufsichtsperson VRiLG B. dem Antragsteller nachgegangen sei, sei ihm dieser bereits wieder entgegengekommen. Der Antragsteller habe den Prüfungsraum trotz zweimaliger Belehrung ohne positive Erlaubnis verlassen; eine Nachfrage der Aufsichtspersonen sei deshalb nicht erforderlich gewesen. Die Voraussetzungen für die Annahme eines minder schweren Falls lägen nicht vor.
7
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
8
Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Die auf die fristgerecht dargelegten Gründe beschränkte Prüfung (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ergibt, dass die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage nach der im Eilverfahren gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Bewertung der Erfolgsaussichten der Klage, die aufgrund der Konsequenzen sowohl für den Antragsteller als auch für den Antragsgegner über eine rein summarische Prüfung hinauszugehen hat (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 101), erfolgreich sein wird. Der streitgegenständliche Bescheid des Antragsgegners ist rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG. Zwar kann anhand der gegenwärtig bekannten Tatsachen nicht abschließend beurteilt werden, ob der Antragsteller von einer möglicherweise konkludent erteilten Erlaubnis zum Verlassen des Prüfungsraums ausgehen konnte bzw. ob die zeitlichen Gegebenheiten eine Nachfrage der Aufsichtspersonen zugelassen hätten (vgl. nachfolgend 1.). Allerdings ist aufgrund der Besonderheiten des hier zu entscheidenden Einzelfalls vom Vorliegen eines minder schweren Falls im Sinne von § 11 Abs. 6 JAPO auszugehen (nachfolgend 2.). Unter Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 22. März 2024 ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 6. Februar 2024 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO daher wiederherzustellen.
9
1. Nach Aktenlage kann gegenwärtig nicht abschließend beurteilt werden, ob die Tatbestandmerkmale des vom Antragsgegner als Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Bescheids herangezogenen § 11 Abs. 4 JAPO vorliegen. Danach ist die Arbeit eines Prüfungsteilnehmers, der nach Ausgabe der Prüfungsaufgaben unerlaubt den beaufsichtigten Prüfungsbereich verlässt, mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) zu bewerten.
10
a) Streitig zwischen den Beteiligten ist, ob der Antragsteller den beaufsichtigten Prüfungsbereich unerlaubt verlassen hat. Der Antragsteller beruft sich darauf, er habe dringend die Toilette aufsuchen müssen. Er sei wie angewiesen wegen der Kontrolle mittels Metalldetektoren neben seinem Arbeitsplatz gestanden, habe Blickkontakt mit einer der zwei am Pult sitzenden Aufsichtspersonen aufgenommen, mit dem Finger Richtung Ausgang gedeutet und in fragendem Ton geäußert „das dauert hier ja alles noch?“. Unweit vom Ausgang des Sitzungssaals hätten sich die Toiletten befunden. Er habe ein kurzes Augenschließen einer der Aufsichtspersonen als Zustimmung wahrgenommen und sei daraufhin diagonal von seinem Platz in der dritten Reihe an den Aufsichtspersonen vorbei durch die Ausgangstür gegangen. Unstreitig ist, dass die Aufsichtspersonen keinerlei Reaktion zeigten, während sich der Antragsteller auf den Weg zur Ausgangstür des Sitzungssaals begab und diesen verließ.
11
b) Da im Beschwerdeverfahren nicht gerügt wurde, der Antragsgegner sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Antragsteller durch das Betreten des Toilettenbereichs den beaufsichtigten Prüfungsbereich verlassen habe, kommt es maßgeblich darauf an, warum es den Aufsichtspersonen nicht möglich war, den Antragsteller auf das Verlassen seines Arbeitsplatzes sowie des Prüfungsraums anzusprechen. Diese nach Aktenlage nicht eindeutig zu klärende Frage ist nach Ansicht des Senats entscheidend dafür, ob das Tatbestandsmerkmal „unerlaubt“ des § 11 Abs. 4 JAPO überhaupt erfüllt ist.
12
Mit der Zulassung zur Prüfung entsteht zwischen dem Prüfling und dem Rechtsträger, dessen Organe (Prüfungsämter) die Prüfungsdurchführung verantworten, ein besonderes öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis. Das Prüfungsrechtsverhältnis enthält beiderseitig vielfältige Rechte und Pflichten bzw. Obliegenheiten (vgl. Dieterich in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022 Rn. 13 f.). Diese resultieren insbesondere aus dem auch im öffentlichen Recht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben, der das Prüfungsrechtsverhältnis gerade im Hinblick auf die Bereiche prägt, die regelmäßig keine oder nur eine fragmentarische Regelung durch die Prüfungsordnungen erfahren. Aufgrund der den Prüfungsbehörden obliegenden Fürsorgepflicht, die unter Beachtung des einem Prüfling zustehenden Grundrechtsschutzes aus Art. 12 Abs. 1 GG auch Beratungs- und Hinweispflichten umfasst (vgl. BVerwG, U.v. 6.9.1995 – 6 C 18/93 – NJW 1996, 2670/2674), wäre zu erwarten gewesen, dass die Aufsichtspersonen den Antragsteller auf dessen Weg zum Ausgang befragen, warum er den Prüfungsraum verlassen wolle. Trotz der zuvor erfolgten Belehrung wäre es zudem naheliegend gewesen, dass die Aufsichtspersonen den Antragsteller nochmals auf die Konsequenzen eines unerlaubten Verlassens des Prüfungsraums aufmerksam machen. Auch wenn das Verhalten des Antragstellers zugegebenermaßen äußerst ungeschickt war, musste er nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Aufsichtspersonen, deren Pult er beim Verlassen des Prüfungsraums passierte, ihm schweigend beim Verlassen des Prüfungsraums zusehen und gleichwohl das Verlassen als unerlaubt und die Konsequenz des § 11 Abs. 4 JAPO auslösend gewertet wird. Warum keiner der Aufsichtführenden auf das Verhalten des Antragstellers reagiert hat, lässt sich nicht allein mit der Kürze des vom Antragsteller zurückgelegten Wegs begründen. Immerhin musste dieser zwei Sitzreihen sowie das Pult der Aufsichtspersonen passieren. Nicht maßgeblich ist – wovon der Antragsgegner und das Verwaltungsgericht ausgehen –, dass die Aufsichtspersonen nicht befugt sind, einen Prüfling durch Zwangsmaßnahmen am Verlassen des Prüfungsraums zu hindern.
13
2. Selbst dann, wenn vorliegend von einem unerlaubten Verlassen des beaufsichtigten Prüfungsbereichs auszugehen ist und damit die Tatbestandsvoraussetzungen des § 11 Abs. 4 JAPO vorliegen, musste der Antragsgegner aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls von einem minder schweren Fall im Sinne des § 11 Abs. 6 JAPO ausgehen und von der Bewertung der Aufgabe 4 mit „ungenügend“ (0 Punkte) absehen. Der streitgegenständliche Bescheid ist daher rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG.
14
a) Berufsbezogene Prüfungen sollen Aufschluss darüber geben, ob die Prüflinge über diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die einen Erfolg der Berufsausbildung und eine einwandfreie Berufsausübung erwarten lassen (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2019 – 6 C 3.18 – juris Rn. 15 m.w.N.). Regelungen, die für die Aufnahme eines Berufs den Nachweis erworbener Fähigkeiten durch Bestehen einer Prüfung verlangen, greifen in die Freiheit der Berufswahl ein und müssen deshalb den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG genügen (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2012 – 6 C 19.11 – NVwZ 2012, 1188 ff. Rn. 21 m.w.N.). Einen an Art. 12 Abs. 1 GG zu messenden Eingriff in die Freiheit der Berufswahl stellt es insbesondere dar, wenn eine Vorschrift das Fehlverhalten eines Prüflings sanktioniert, indem sie eine erbrachte Prüfungsleistung von der inhaltlichen Bewertung ausschließt. Um eine solche Regelung handelt es sich bei § 11 Abs. 4 JAPO.
15
§ 11 Abs. 4 JAPO sanktioniert das Fehlverhalten eines Prüflings, der unerlaubt nach Ausgabe der Prüfungsarbeiten den beaufsichtigten Prüfungsbereich verlässt. In diesem Fall besteht zwar die Möglichkeit, dass er sich bei dritten Personen Unterstützung verschafft oder unerlaubte Hilfsmittel benutzt oder beseitigt. Nimmt der Prüfling Kontakt zu Dritten auf oder trägt er unerlaubte Hilfsmittel bei sich, benutzt er diese oder will er diese beseitigen, wird ein solches Verhalten nach dem spezielleren § 11 Abs. 1 JAPO zu ahnden sein. Mit § 11 Abs. 4 JAPO werden somit die Fallgestaltungen sanktioniert, die nicht bereits vom Anwendungsbereich des Absatzes 1 erfasst werden. § 11 Abs. 4 JAPO geht somit weit über die übrigen in der Regelung enthaltenen Sanktionsnormen hinaus. Setzen diese zumindest ein Verhalten voraus, das konkret geeignet ist, dem Prüfling selbst oder einem anderen Prüfling einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen, sanktioniert § 11 Abs. 4 JAPO seinem Wortlaut folgend jedes tatbestandsmäßige Verhalten des Prüflings unabhängig davon, ob dieses eine Verletzung der Chancengleichheit mit sich bringen kann. Es handelt sich bei § 11 Abs. 4 JAPO somit in erster Linie um eine Vorschrift zur Ordnung des Prüfungsverfahrens, die tatsächliche Vorgänge als Anknüpfungspunkt für die Sanktion vorgibt.
16
Sanktionsnormen unterliegen im Rahmen berufsbezogener Prüfungen nach dem Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG strengen Anforderungen nicht nur in Bezug auf ihre Bestimmtheit, sondern auch auf ihre Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2019 – 6 C 3.18 – juris Rn. 13 ff.). Normative Regelungen von berufsbezogenen Prüfungen müssen, um als Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl gerechtfertigt zu sein, auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, das heißt einem legitimen Zweck dienen und als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Dabei haben Sanktionsvorschriften als besonders sensibel zu gelten, wenngleich der zuständige Normgeber bei ihrer Ausgestaltung grundsätzlich auch dem Gesichtspunkt der Generalprävention Rechnung tragen und in deren Sinne einen gewissen Abschreckungseffekt erzeugen darf (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2019 a.a.O. Rn. 18).
17
Da von § 11 Abs. 4 JAPO auch Fallgestaltungen erfasst sein können, bei denen eine Gefährdung der Chancengleichheit nicht in Betracht kommen kann und daher die vorgesehene Rechtsfolge einer Bewertung mit „ungenügend“ (0 Punkte) weder erforderlich noch angemessen ist, muss die Norm in jedem Einzelfall in einer den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügenden Weise angewendet werden (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2012 – 6 C 19.11 – juris Rn. 27; BayVGH, U.v. 19.12.2022 a.a.O. Rn. 38 zu § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO). Auch § 11 Abs. 4 JAPO enthält keinen Automatismus dahingehend, dass die Prüfungsarbeit bei Vorliegen der Voraussetzungen immer mit „ungenügend“ (0 Punkten) zu bewerten wäre.
18
b) Dies zugrunde gelegt, ist bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit der vorgenommenen Bewertung der Aufgabe 4 mit „ungenügend“ (0 Punkte) zu berücksichtigen, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass durch das Verhalten des Antragstellers der Grundsatz der Chancengleichheit verletzt sein könnte.
19
Nach den schriftlichen Ausführungen der Aufsichtsperson VRiLG B. hat sich der Antragsteller lediglich 30 bis 60 Sekunden außerhalb des Prüfungsraums aufgehalten. Die Durchsuchung der vom Antragsteller in diesem Zeitraum aufgesuchten Toilette ist ergebnislos verlaufen. Sonstige Anhaltspunkte für den vom Antragsgegner vorgetragenen Verdacht, der Antragsteller hätte sich unerlaubter Hilfsmittel entledigen wollen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Einen Wissensvorsprung konnte sich der Antragsteller bereits deshalb nicht verschaffen, weil die Aufgabentexte noch verdeckt auf den Pulten lagen und ihm der zu bearbeitende Sachverhalt daher noch nicht bekannt war. Dem Argument des Antragsgegners, ein minder schwerer Fall scheide schon unter dem Gesichtspunkt aus, dass der Antragsteller zweimal darüber belehrt worden sei, er dürfe den Prüfungsraum nicht unerlaubt verlassen, kommt demgegenüber keine entscheidende Bedeutung zu. Im Hinblick auf die obigen Ausführungen kann die Sanktion des § 11 Abs. 4 JAPO unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls nicht ausschließlich auf das unerlaubte Verlassen des beaufsichtigten Prüfungsbereichs gestützt werden.
20
3. Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
21
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.