Inhalt

VGH München, Beschluss v. 30.04.2024 – 4 CE 24.627
Titel:

zur örtlichen Zuständigkeit zur Obdachlosenunterbringung 

Normenketten:
BayVwVfG Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. a, Nr. 4
BayLStVG Art. 6
Leitsatz:
Im Falle der Obdachlosigkeit bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit der Sicherheitsbehörde gem. Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG nicht nach dem Ort, an dem der Betroffene erstmals obdachlos geworden ist, sondern nach dem Ort, an dem er sich gerade aufhält und an dem die mit der Obdachlosigkeit verbundene Gefahr für Leben und Gesundheit aktuell auftritt. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Obdachlosenunterbringung, örtliche Zuständigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt, Gefahr für Leben und Gesundheit
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 03.04.2024 – M 22 E 24.1617
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12209

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Rechtsstreit betrifft einen Eilantrag auf Obdachlosenunterbringung.
2
Der Antragsteller wandte sich am 28. März 2024 an die Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts und beantragte, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm und seiner Familie eine Obdachlosenunterkunft zur Verfügung zu stellen. Er legte dabei Aktenvermerke der Stadt D., wo er zuletzt gewohnt habe, sowie der Gemeinde B. vor, wo er sich ohne Erfolg um eine Wohnung bemüht habe.
3
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die in einem Aktenvermerk über ein Telefonat mit dem als Dolmetscher fungierenden Schwager des Antragstellers vom 3. April 2024 festgehalten sind, hat der Antragsteller mit seiner über einen Familiennachzug ins Bundesgebiet gekommenen Familie bis Mitte März 2024 zunächst in Dorfen gewohnt; bis zu dem für den 1. April 2024 geplanten Bezug der neuen Wohnung in B. habe er bei Bekannten im Stadtgebiet der Antragsgegnerin unterkommen wollen. Nachdem die Wohnungszusage in B. zurückgenommen worden sei, habe sich die Familie zunächst telefonisch bei der dortigen Gemeindeverwaltung gemeldet, sei aber mit ihrem Anliegen nicht weitergekommen, so dass der Antragsteller schließlich am 27. März 2024 mit dem Schwager persönlich bei der Antragsgegnerin vorgesprochen habe. Diese habe sie allerdings nach Dorfen als den Ort des letzten Wohn- und Meldeorts verwiesen, wo man ebenfalls noch am selben Tag vorgesprochen habe. Die Familie wolle gerne im Stadtgebiet der Antragsgegnerin bleiben, wo sie sich aktuell noch bei Bekannten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung aufhalte; dort könne sie nur noch einige wenige Tage überbrücken.
4
Mit Beschluss vom 3. April 2024 gab das Verwaltungsgericht dem Eilantrag vorläufig bis zum 15. Mai 2024 statt.
5
Hiergegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerde.
6
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.
II.
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1. Die Beschwerde, die der Senat anhand der fristgerecht dargelegten Gründe prüft (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht stattgegeben. Die dagegen vorgebrachten Einwände greifen nicht durch.
8
a) Die Antragsgegnerin trägt vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht ihre örtliche Zuständigkeit nach der Auffangnorm des Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG angenommen. Der Antragsteller habe unstreitig seinen letzten Wohnsitz in der Stadt D. gehabt und seinen künftigen Wohnsitz in der Gemeinde B. begründen wollen; er habe zu keiner Zeit eine Zuzugsabsicht für das Stadtgebiet der Antragsgegnerin erklärt und sich dort lediglich vorübergehend aufgehalten. Daher sei hier die Stadt D. nach der vorrangigen Norm des Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a BayVwVfG zuständig. Lediglich wenn der vorherige gewöhnliche Wohnsitz in einem anderen Bundesland liege, sei diese Vorschrift nicht anwendbar, so dass nur Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG in Betracht komme. Zudem habe sich der Antragsteller nach eigenem Bekunden am 22. März 2024 an die Gemeinde B. gewandt und den Eintritt der Obdachlosigkeit mitgeteilt. Auch wenn diese Gemeinde mitteile, das Gespräch habe nicht stattgefunden, sei die Obdachlosigkeit dort entstanden; dass sie sich ihrer Zuständigkeit rechtswidrig entziehe, könne die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin nicht begründen.
9
b) Dieses Vorbringen stellt die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht in Frage. An der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin zur Obdachlosenunterbringung bestehen unter den gegebenen Umständen keine Zweifel.
10
Nach der Rechtsprechung des Senats umfasst die aus der Funktion als untere Sicherheitsbehörde (Art. 6 LStVG) folgende, zum eigenen Wirkungskreis zählende kommunale Aufgabe der Obdachlosenfürsorge nicht nur Personen, die in der Gemeinde vor Eintritt der Obdachlosigkeit bereits ihren Wohnsitz gehabt haben oder sonst einen Bezug zu der Gemeinde aufweisen können (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 15.2.2024 – 4 CE 24.60 – juris Rn. 13 m.w.N.). Eine örtliche Gefahrenlage besteht ebenso bei neu zugezogenen Personen, die wegen des Fehlens einer Unterkunft individuellen Gesundheitsgefahren ausgesetzt sind. Der für die Annahme einer gemeindlichen Aufgabe geforderte spezifische Bezug zur örtlichen Gemeinschaft folgt bereits daraus, dass die um Unterbringung nachsuchende Person sich im Ortsgebiet aufhält und weiter aufhalten will; eine darüberhinausgehende innere Verbundenheit ist nicht erforderlich (BayVGH, a.a.O.). Die örtliche Zuständigkeit der Sicherheitsbehörde bestimmt sich daher gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG nicht nach dem Ort, an dem der Betroffene – zu einem zurückliegenden Zeitpunkt – erstmals obdachlos geworden ist, sondern nach dem Ort, an dem er sich gerade aufhält und an dem die mit der Obdachlosigkeit verbundene Gefahr für Leben und Gesundheit aktuell auftritt (BayVGH, B.v. 14.8.2019 – 4 CE 19.1546 – BayVBl 2020, 197 Rn. 11 m.w.N.).
11
Hiernach ist im vorliegenden Fall die unmittelbar drohende Obdachlosigkeit erst und allein im Stadtgebiet der Antragsgegnerin aufgetreten. Durch die bloße Beendigung des Nutzungsverhältnisses hinsichtlich der früheren Wohnung in Dorfen Mitte März 2024 wurden der Antragsteller und seine Familie noch nicht obdachlos, da sie zu diesem Zeitpunkt den Bezug einer neuen Wohnung in B. zum 1. April 2024 in Aussicht hatten und für die Übergangszeit ihre wohnungsmäßige Versorgung durch die Bereitschaft eines Bekannten zur Überlassung einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Stadtgebiet der Antragsgegnerin gesichert war. Erst nachdem die Möglichkeit eines Umzugs nach B. entfallen und die Unterkunft bei dem Bekannten nur noch für kurze Zeit verfügbar war, entstand die konkrete Gefahr einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit. Da der Antragsteller die Absicht bekundet hat, mit seiner Familie zunächst einmal an dem bisherigen Wohnort im Stadtgebiet der Antragsgegnerin zu verbleiben, ist diese als Sicherheitsbehörde zur Gefahrenabwehr verpflichtet. Dass wohnungslose Personen durch die Ausübung des ihnen über Art. 11 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG zustehenden Grundrechts der Freizügigkeit beeinflussen können, wo die Obdachlosigkeit eintritt, ist angesichts der Regelungsstruktur des Sicherheitsrechts hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 4 CE 17.615 – NVwZ-RR 2017, 575 Rn. 6 m.w.N.).
12
Die Antragsgegnerin kann sich hier nicht auf die – gegenüber dem Auffangtatbestand des Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG vorrangige – Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a BayVwVfG berufen, wonach in Angelegenheiten, die eine natürliche Person betreffen, diejenige Behörde örtlich zuständig ist, in deren Bezirk die betreffende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Selbst wenn die frühere Anwesenheit des Antragstellers und seiner Familie in Dorfen nicht bloß als ein vorübergehendes Verweilen anzusehen gewesen sein sollte und dieser Ort daher als ihr letzter „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Rechtssinne (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, § 9 Satz 1 AO) zu betrachten wäre, ergäbe sich daraus noch keine Zuständigkeit der Stadt D. zur Gefahrenabwehr im Hinblick auf die erst jetzt drohende Obdachlosigkeit. Die Regelungen des Art. 3 BayVwVfG sollen die räumlichen Tätigkeitsbereiche von Behörden mit gleicher sachlicher Zuständigkeit abgrenzen; sie dienen der Vermeidung von Doppelzuständigkeiten (Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 3 Rn. 7). Liegt wie bei der Stadt D. mangels einer im Stadtgebiet entstandenen Obdachlosigkeit bereits keine eigene Aufgabe nach Art. 6 LStVG vor und fehlt es damit an der sachlichen Zuständigkeit bzw. der Verbandskompetenz, so kann sich nicht allein aus der verfahrensrechtlichen Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a BayVwVfG ein Zuständigkeitsvorrang gegenüber der kraft Gesetzes zur Gefahrenabwehr verpflichteten Behörde ergeben. Die Stadt D. würde vielmehr kompetenzwidrig handeln, wenn sie sich einer außerhalb ihres Ortsgebiets entstandenen Gefahrenlage annehmen würde.
13
Erst recht kann die Antragsgegnerin nicht auf eine vorrangige Zuständigkeit der Gemeinde B. verweisen. Dort haben sich der Antragsteller und seine Familie weder in der Vergangenheit aufgehalten noch beabsichtigen sie derzeit, dorthin umzuziehen. Dass sie sich möglicherweise vor kurzem nach einer möglichen Unterbringung durch die Gemeinde B. erkundigt haben, kann deren sicherheitsbehördliche Zuständigkeit nicht begründen, da jedenfalls aktuell dieser Wunsch nicht mehr besteht.
14
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert aus § 47 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 1.5, Nr. 35.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
15
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).