Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.04.2024 – 20 ZB 22.1407
Titel:

Erfolglose Berufungszulassung bezüglich Corona-Schutzmaßnahmen: Falscher Adressat – keine Schwierigkeit der Rechtssache bei betrieblichem Corona-Ausbruch

Normenketten:
IfSG § 28 Abs. 1 S. 1, § 30 Abs. 1 S. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2
Leitsätze:
1. Hat derjenige, der eine Berufungszulassung erreichen will (hier: die Behörde), die rechtlich allein entscheidungstragenden Erwägungen des VG, den Kläger zum einen (jedenfalls auch) als Inhaltsadressaten des streitgegenständlichen Bescheids (hier: Corona-Schutzmaßnahmen) anzusehen und zum anderen die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG in seiner Person als nicht erfüllt anzusehen, weder in Frage gestellt und unterliegt deren Richtigkeit nach Aktenlage auch nicht offensichtlichen Zweifeln, so bestehen keine Zweifel an der Richtigkeit im Sinne einer Berufungszulassung. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dass ein sich ausbreitendes Corona-Infektionsgeschehen unter mehreren hundert auf engem Raum untergebrachten Saisonarbeitskräften im Juli 2020 unübersichtlich war und die zuständigen Behörden vor erhebliche Herausforderungen gestellt hat, führt für sich genommen nicht zu besonderen Schwierigkeiten der hier allein maßgeblichen Rechtssache im Sinne einer Berufungszulassung, deren Gegenstand sich auf die – vom VG nachvollziehbar verneinte – Frage der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids beschränkt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Absonderungsanordnung, landwirtschaftlicher Betrieb, „Betriebsquarantäne“, Betriebsquarantäne, Absonderung, Berufungszulassung, Corona, Infektionsschutz, Infektionsgeschehen, Richtigkeit des Urteils, besondere Schwierigkeit, Unübersichtlichkeit
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 31.01.2022 – RN 5 K 20.1372
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12191

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
II. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 30.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
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Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der in erster Instanz zum überwiegenden Teil unterlegene Beklagte gegen die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheids, mit dem eine häusliche Quarantäne angeordnet wurde.
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1. Der Kläger ist Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs, dessen Schwerpunkt u.a. auf dem Anbau von Gurken liegt. Die Gurkenernte erfolgt überwiegend durch auswärtige Erntehelfer, die während der Erntezeit als Saisonarbeitskräfte auf dem Betriebsgelände untergebracht sind. Nachdem am 24. Juli 2020 zunächst bei sieben und am 25. Juli 2020 bei weiteren 167 Saisonarbeitskräften eine Infektion mit SARS-CoV-2 festgestellt wurde, erließ das Landratsamt D.-L. am 27. Juli 2020 einen (nur) an den Kläger adressierten Bescheid, der – soweit in erster Instanz zuletzt noch streitbefangen – folgenden Wortlaut hatte:
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„1.1 Mit sofortiger Wirkung wird für die Anwesen und die dazugehörigen Unterkünfte des Herrn … … und den [sich!] dort befindlichen Personen in der … 50 und im … 8 in … … eine häusliche Quarantäne angeordnet. Die Anordnung gilt bis auf weiteres. Der Zeitpunkt der Beendigung wird in Absprache mit dem Gesundheitsamt Dingolfing-Landau noch festgelegt.
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1.1 Allen auf den Anwesen befindlichen Personen ist in dieser Zeit untersagt, die Anwesen ohne ausdrückliche Zustimmung des Gesundheitsamtes zu verlassen. Ferner ist es untersagt, dass andere Personen ohne Zustimmung des Landratsamtes D.-L. die Anwesen betreten. (…)“
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Die ausweislich der Bescheidgründe ausdrücklich auf „§§ 28 Abs. 1 Satz 1, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG“ gestützte Anordnung einer häuslichen Quarantäne für den gesamten Betrieb „mit allen Mitarbeitern sowie der Betriebsleitung“ sei erforderlich, da aufgrund der hohen Zahl an Infizierten nicht mehr möglich gewesen sei, „dass die Betroffenen sich räumlich und zeitlich konsequent von anderen Personen getrennt halten“.
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2. Nachdem der Kläger am 7. August 2020 hiergegen Anfechtungsklage erhoben und Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hatte, hob das Landratsamt mit Bescheid vom 10. August 2020 den Bescheid vom 27. Juli 2020 insgesamt wieder auf, weil die Kontaktermittlung abgeschlossen sei und alle Kontaktpersonen der Kategorie I das Gelände inzwischen verlassen hätten. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren wurde aufgrund übereinstimmender Erledigungserklärungen durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2020 eingestellt.
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3. Im Hauptsacheverfahren stellte der Kläger seinen Antrag im Hinblick auf die Ziff. 1.1 und 1.2 des Bescheids vom 27. Juli 2020 auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage um und erklärte den Rechtsstreit im Übrigen für erledigt. Der Beklagte stimmte der (Teil-)Erledigungserklärung zu und das Verfahren wurde insoweit eingestellt. Mit Urteil vom 31. Januar 2022 – den Beteiligten zugestellt am 12. Mai 2022 – stellte das Verwaltungsgericht außerdem fest, dass die Ziff. 1.1 und 1.2 Satz 1 des Bescheids rechtswidrig gewesen seien. Nach den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG kämen allein Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider als Adressaten des Verbots, einen Ort nicht zu verlassen, in Betracht. Vorliegend sei das Verbot aber gegenüber dem Kläger als dem Arbeitgeber der betroffenen Personen angeordnet worden. Hinsichtlich der Anordnung in Ziff. 1.2 Satz 2 des Bescheids hätten die Voraussetzungen des insofern einschlägigen § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG dagegen vorgelegen; im Übrigen wurde die Klage daher abgewiesen.
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4. Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2022 stellte der Beklagte Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil vom 31. Januar 2022, dem der Kläger entgegentritt. Zur Begründung seines Antrags beruft sich der Beklagte mit Schriftsatz vom 27. Juni 2022 zunächst auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Zweifel beständen insbesondere an der rechtlichen und tatsächlichen Feststellung des Verwaltungsgerichts, den Kläger und nicht die bei ihm beschäftigten Erntehelfer als Adressaten der Quarantäneanordnung anzusehen. Die Inhaltsadressaten des Bescheids vom 27. Juli 2020 ergäben sich unmittelbar aus dessen Ziff. 1.1 und 1.2. Satz 1, nämlich die auf den genannten Anwesen befindlichen Personen. Der Kläger sei allenfalls für seine eigene Person Inhaltsadressat des Bescheids; darüber hinaus sei er als Inhaber und Leiter eines Betriebs, der Saisonarbeitskräfte beschäftige und ihnen Unterkünfte zur Verfügung stelle, lediglich Empfangsbote für behördliche Anweisungen gegenüber diesen Saisonarbeitskräften. Soweit das Verwaltungsgericht vertrete, dass an Stelle des angegriffenen Bescheids eine Allgemeinverfügung hätte ergehen können, werde diese Vorstellung den tatsächlichen Gegebenheiten in der konkreten Situation bei Bescheiderlass nicht gerecht. Weiter beruft sich der Beklagte auf besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache. Dem Problem eines sich ausbreitenden Infektionsgeschehens unter mehreren hundert in engen Unterkünften untergebrachten Saisonarbeitskräften mit den Mitteln des Infektionsschutzrechts gerecht zu werden, sei auch dem Verwaltungsgericht nicht leichtgefallen. Insofern werde auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 4. August 2020 (RN 14 E 20.1311) verwiesen, in dem seinerzeit noch das Bestehen einer vollständigen häuslichen Quarantäne der Saisonarbeitskräfte des Klägers zugrunde gelegt worden sei. Sollten die angegriffenen Anordnungen als Umsetzung der Allgemeinverfügung des Beklagten „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I und von Verdachtspersonen“ vom 7. Mai 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 249) verstanden werden, so bleibe dieser Aspekt in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts – das die streitgegenständlichen Anordnungen nur auf §§ 28 Abs. 1 Satz 1 und § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt habe – außen vor.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 31. Januar 2022 hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich nach § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungsverfahren grundsätzlich beschränkt, ergeben sich die geltend gemachten Berufungszulassungsgründe (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO) nicht.
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1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Solche Zweifel liegen (nur) vor, wenn der Rechtsmittelführer einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (stRspr, vgl. nur BVerfG, B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587/17 – juris Rn. 32 m.w.N.; BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 20 ZB 23.1043 – juris Rn. 2). Solche Gegenargumente sind der Antragsbegründung nicht zu entnehmen.
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Soweit der Beklagte Zweifel an der Richtigkeit des Urteils damit begründen will, dass das Verwaltungsgericht nur den Kläger und nicht (auch) die von ihm beschäftigten Erntehelfer als Adressaten des angegriffenen Bescheids angesehen habe, handelt es sich hierbei schon um keine entscheidungstragende Erwägung. Denn die Argumentation des Verwaltungsgerichts beruht – wenn auch teilweise nur konkludent (vgl. U.v. 31.1.2022 – RN 5 K 20.1372 – juris Rn. 57) – allein darauf, dass der Kläger (auch) Inhaltsadressat des Bescheids vom 27. Juli 2020 war, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG aber nicht erfüllt waren und der insofern rechtswidrige Bescheid den Kläger in seinen Rechten verletzt hat. Ob darüber hinaus noch weitere Personen – insbesondere die vom Kläger beschäftigten Erntehelfer – ebenfalls Inhaltsadressaten des Bescheids vom 27. Juli 2020 waren, hat vor diesem Hintergrund keine eigenständige Bedeutung mehr: Die Rechtswidrigkeit des Bescheids ergibt sich bereits daraus, dass seine rechtlichen Voraussetzungen im Hinblick auf den Kläger nicht vorgelegen haben. Ebenso wenig beruht die angegriffene Entscheidung daher auf der weiter als unzutreffend gerügten Erwägung, dass an Stelle des streitgegenständlichen Bescheids eine Allgemeinverfügung hätte erlassen und direkt den betroffenen Erntehelfern bekanntgegeben werden können; die hierauf bezogenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts (vgl. U.v. 31.1.2022 – RN 5 K 20.1372 – juris Rn. 59) bilden lediglich ein Obiter dictum im Hinblick auf den Prozessvortrag des Beklagten. Die rechtlich allein entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts, den Kläger zum einen (jedenfalls auch) als Inhaltsadressaten des Bescheids vom 27. Juli 2020 anzusehen und zum anderen die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG in seiner Person als nicht erfüllt anzusehen, hat der Beklagte mit seinem Zulassungsantrag dagegen weder in Frage gestellt noch unterliegt deren Richtigkeit nach Aktenlage offensichtlichen Zweifeln (vgl. dazu Rudisile in Schoch/Schneider, VerwR, Stand März 2023, § 124a VwGO Rn. 100).
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2. Auch die zur Begründung des Zulassungsantrags geltend gemachten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor.
14
Solche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht (stRspr, vgl. etwa BayVGH, B.v. 5.2.2024 – 6 ZB 23.1545 – juris Rn. 22; Rudisile in Schoch/Schneider, VerwR, Stand März 2023, § 124 VwGO Rn. 28). Das ist vorliegend nicht der Fall.
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Soweit der Beklagte die besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache darauf stützt, dass das Verwaltungsgericht in einem anderweitigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Beschluss vom 4. August 2020 (RN 14 E 20.1311) den streitgegenständlichen Bescheid vom 27. Juli 2020 noch als Umsetzung der Allgemeinverfügung des Beklagten „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I und von Verdachtspersonen“ vom 7. Mai 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 249) verstanden habe und dass der Rechtscharakter einer Maßnahme, die Personen auf der Basis dieser Allgemeinverfügung unter Quarantäne stelle, nicht definitiv geklärt sei, wird auf das rechtskräftige Urteil des Senats vom 26. Juli 2022 (20 B 22.29, 20 B 22.30 – juris Rn. 38) verwiesen – zumal der Beklagte in der mündlichen Verhandlung am 31. Januar 2022 vor dem Verwaltungsgericht ausdrücklich vorgetragen hat, den angegriffenen Bescheid deshalb nicht auf die damals geltende Allgemeinverfügung gestützt zu haben, weil dies „die Ermittlung der Kontaktpersonen der Kategorie I vorausgesetzt hätte“. Auch im Übrigen sind besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache nicht erkennbar. Dass das dem angegriffenen Bescheid zugrundeliegende tatsächliche Geschehen im Juli 2020 – ein sich ausbreitendes Infektionsgeschehen unter mehreren hundert auf engem Raum untergebrachten Saisonarbeitskräften – unübersichtlich war und die zuständigen Behörden vor erhebliche Herausforderungen gestellt hat, führt für sich genommen nicht zu besonderen Schwierigkeiten der hier allein maßgeblichen Rechtssache, deren Gegenstand sich auf die – vom Verwaltungsgericht nachvollziehbar verneinte – Frage der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids beschränkt.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich für das Berufungszulassungsverfahren aus § 47 Abs. 3 und Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG.
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Mit diesem Beschluss wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).