Titel:
Erstmalige Androhung eines Zwangsgelds wegen Anforderung von Masernschutznachweisen
Normenketten:
IfSG § 20 Abs. 12 S. 1, Abs. 12 S. 7
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
VwZVG Art. 19 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1
Leitsatz:
Bei dem Erlass von Zwangsmitteln zur Durchsetzung der Beibringung von Masernschutznachweisen hat die Behörde ihr Ermessen auszuüben und dabei die Spannungslage zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht und dem Allgemeingut des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu berücksichtigen und im Einzelfall unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu bewerten. Die erstmalige Androhung eines Zwangsgelds dürfte insofern regelmäßig zu keiner unzulässigen Impfpflicht führen, wenn die Behörde diese Vorgaben im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung hinreichend berücksichtigt. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einrichtungsbezogene Nachweispflicht der Masernimpfung, Schulpflicht, Isolierte erste Zwangsgeldandrohung, Ermessen, Masernimpfung, einrichtungsbezogene Impfpflicht, Zwangsgeldandrohung, Impfnachweise
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 22.02.2024 – M 26a S 24.529
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12189
Tenor
I. Unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 22. Februar 2024 wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen die Antragsteller.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 100,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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1. Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Der Antrag auf Anordnung der kraft Gesetzes (vgl. Art. 21a Satz 1 VwZVG) ausgeschlossenen aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Ziff. 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 31. Januar 2024 nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber nicht begründet. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts wird deswegen geändert und der Antrag abgelehnt.
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Der Senat hat bereits in seiner zwischen den Beteiligten ergangenen Entscheidung vom 21. September 2023 (Az.: 20 CS 23.1432 – juris) Folgendes ausgeführt:
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„Nach Änderung des § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG mit dem Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 vom 16. September 2022 (BGBl. I S. 1454-1472) ist die sofortige Vollziehbarkeit der Anordnung zur Beibringung eines Nachweises aus § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG durch Bundesgesetz vorgeschrieben (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO). Da die gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nur im Hinblick auf Verwaltungsakte in Betracht kommt (vgl. etwa Schoch in Schoch/Schneider, VerwR, Stand August 2022, § 80 VwGO Rn. 37), dürfte es sich bei der Anordnung zur Beibringung eines Nachweises im Sinne des § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG (jedenfalls) seit der o.g. Gesetzesänderung aus systematischen Gründen um einen selbständig angreifbaren Verwaltungsakt nach Art. 35 Satz 1 BayVwVfG handeln (anders dagegen noch BayVGH, B.v. 29.12.2021 – 20 CE 21.2778 – BeckRS 2021, 43061 zur vorherigen Rechtslage). […]
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Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass es sich im vorliegenden Fall um einen eingeforderten Masernimpfnachweis eines schulpflichtigen Kindes handelt, welches der Nachweispflicht regelmäßig nicht ausweichen kann (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 u.a. – juris Rn. 145). Nachdem der Gesetzgeber mit der Einführung der Nachweispflicht bei Masern ausdrücklich keine Impfpflicht begründen wollte (vgl. BT-Drs. 19/13452 S. 27), ist diese Intention im Rahmen der Durchsetzung der Nachweispflicht zu berücksichtigen. Die Anwendung von Verwaltungszwang in Form von Zwangsgeld darf daher bei schulpflichtigen Kindern nicht zu einer faktischen Impfpflicht führen […].
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Ob die zuständige Behörde das Vollstreckungsverfahren einleitet und welche Maßnahmen sie ergreift, steht in ihrem pflichtgemäßem Ermessen (vgl. Art. 19 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 VwZVG), das einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt (§ 114 Satz 1 VwGO). Das behördliche Ermessen erstreckt sich dabei sowohl auf die Frage, ob überhaupt Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet werden (Entschließungsermessen), als auch auf die Frage, gegen wen und auf welche Art und Weise (Ausübungsermessen). Auch der Bundesgesetzgeber hat ausdrücklich angenommen, dass die behördliche Zwangsvollstreckung einer Anforderung nach § 20 Abs. 12 IfSG der behördlichen Ermessensausübung im Einzelfall bedarf (vgl. BT-Drs. 19/13452 S. 30).“
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Insoweit hat der Senat die Androhung eines Zwangsgeldes zur Durchsetzung der Nachweispflicht grundsätzlich für zulässig erachtet, weil auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 21. Juli 2022 davon ausging, dass der Gesetzgeber unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraums annehmen durfte, ohne entsprechenden Druck auf die Willensbildung der Eltern die erforderliche Impfquote nicht gleichermaßen erreichen zu können (BVerfG, B.v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 u.a. – juris Rn. 123). Gleichzeitig betonte aber das Bundesverfassungsgericht auch, dass das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert ist, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an (vgl. auch § 28 Abs. 1 Satz 3 IfSG). Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum (BVerfG, B.v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 u.a. – juris Rn. 145).
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Bei dem Erlass von Zwangsmitteln hat die Behörde jedoch ihr Ermessen auszuüben und diese vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigte Spannungslage zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht und dem Allgemeingut des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu berücksichtigen und im Einzelfall unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu bewerten. In diesem Zusammenhang dürfte die erstmalige Androhung eines Zwangsgeldes regelmäßig zu keiner unzulässigen Impfpflicht führen, wenn die Behörde diese Vorgaben im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung hinreichend berücksichtigt.
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Bei der erstmaligen Androhung des ersten Zwangsgeldes durch die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 3. Mai 2023 hatte diese bereits kein Ermessen ausgeübt, was zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch den Senat führte (B. v. 21.9.2023 – 20 CS 23.1432 – juris). Auch die erste Wiederholung einer ersten Zwangsgeldandrohung durch Bescheid vom 26. Oktober 2023 war rechtsfehlerhaft, da die Fristsetzung unangemessen kurz bemessen war (vgl. BayVGH, B. v. 22.1.2024 – 20 CS 23.2238 – juris). Bei der nunmehr streitgegenständlichen (zweiten) Wiederholung einer ersten Zwangsgeldandrohung durch Bescheid vom 31. Januar 2024 sind Ermessensfehler aber weder ersichtlich noch vorgetragen. Soweit sich die Antragsteller zur Begründung ihres Antrags auf den Beschluss des Senats vom 15. Januar 2024 (Az.: 20 CS 23.1910, 20 CE 23.1935 – juris) berufen, so ist diese Entscheidung zu einer wiederholten, im konkreten Fall zweiten Androhung eines Zwangsgeldes und dem weiteren Verfahren nach § 20 Abs. 12 IfSG getroffen worden, welche für den vorliegenden Fall der erstmaligen Androhung eines Zwangsgeldes entgegen der Auffassung der Antragsteller und des Verwaltungsgerichts jedoch nichts weiter hergibt.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und Abs. 3, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG unter Berücksichtigung der Ziff. 1.1.3, 1.5 und 1.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Dabei ist im Ergebnis ein Viertel des angedrohten Zwangsgelds (= 100,00 EUR) anzusetzen.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.