Titel:
Erfolgreicher Berufungszulassungsantrag eines in Italien anerkannten Flüchtlings im Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland
Normenketten:
RL 2011/95/EU Art. 20
AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 1, § 51 Abs. 7, § 60 Abs. 1 S. 2, Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2
AsylG § 73c
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
Leitsätze:
1. Es spricht viel dafür, dass die Klägerin, der durch die italienischen Behörden die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 AufenthG bei unionsrechtskonformer Auslegung der Norm hat. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar besteht (wohl) grundsätzlich kein Anspruch auf eine neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder eine hieran anknüpfende Erteilung eines Aufenthaltstitels in Deutschland. Ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling kann aber auch ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen und verbleibt nicht dauerhaft auf dem Status eines nur geduldeten Ausländers unter Ausschluss der einem anerkannten Flüchtling zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechte. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zulassung der Berufung, Ernstliche Zweifel, Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, Übergang der Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises auf die Bundesrepublik, Deutschland (Verantwortungsübergang), ernstliche Zweifel
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 13.11.2023 – RO 9 K 23.541
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 10.12.2024 – 19 B 24.666
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12185
Tenor
I. Die Berufung wird zugelassen, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
II. Der Streitwert wird vorläufig auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die am ... 1989 geborene Klägerin, äthiopische Staatsangehörige, begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG.
2
Sie reiste am 23. November 2019 erstmalig in das Bundesgebiet ein. Da ihr in Italien internationaler Schutz gewährt (und ihr durch Italien ein bis zum 4. Oktober 2022 gültiger Flüchtlingsausweis ausgestellt) worden war, wurde ihr am 4. Dezember 2019 im Bundesgebiet gestellter Asylantrag mit Bescheid des Bundesamtes vom 5. Februar 2020 als unzulässig abgelehnt und u.a. die Abschiebung nach Italien angeordnet. Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 28. Juni 2022 (RO 16 K 20.30196) abgewiesen und der hiergegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. August 2022 abgelehnt (24 ZB 22.30849).
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Mit Schreiben vom 22. September 2022 bat die ZAB ... das Bundespolizeipräsidium um Amtshilfe bei der Rückführung der Klägerin nach Italien. Ohne eine Rücknahmeanfrage bei den italienischen Behörden gestellt zu haben, gab das Bundespolizeipräsidium den Vorgang mit Schreiben vom 30. Mai 2023 an die ZAB ... zurück.
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Nachdem die Klägerin am 20. September 2022 zur Erfüllung ihrer Passpflicht aufgefordert und mit Schreiben vom 31. Oktober 2022 zu einer beabsichtigten Erteilung einer Duldung nach § 60b AufenthG angehört worden war, wurde ihr auf ihren Antrag vom 1. Dezember 2022 auf „Verlängerung einer Duldung, § 60a AufenthG“ unter dem 7. Dezember 2022 eine Duldung nach § 60b AufenthG erteilt.
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Mit Bescheid vom 1. März 2023 lehnte die Beklagte die unter dem 2. Februar 2023 gestellten Anträge der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG und auf Ausstellung eines entsprechenden Flüchtlingsreisedokuments ab.
6
Auf die hiergegen erhobene Klage wurde mit dem angegriffenen Urteil vom 13. November 2023 der Bescheid vom 1. März 2023 aufgehoben, soweit der Antrag der Klägerin auf Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge abgelehnt wurde, und der Beklagte verpflichtet, der Klägerin einen Reiseausweis zu erteilen. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Genfer Flüchtlingskonvention. Nachdem der der Klägerin durch Italien als Erststaat ausgestellte Flüchtlingsausweis bis zum 4. Oktober 2022 gültig gewesen sei, sei die Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge mit Ablauf des 4. April 2023 auf Deutschland übergangen. Es bestehe allerdings kein Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG. Da der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft in Italien und nicht durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuerkannt worden sei, seien die Voraussetzungen der Norm nicht erfüllt. Eine planwidrige Regelungslücke liege nicht vor. Es sei nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber eine über den eindeutigen Wortlaut hinausgehende Regelung habe schaffen und aufenthaltsrechtlich einen in einem anderen Staat anerkannten Flüchtling nach Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik einem durch das Bundesamt anerkannten Flüchtling habe gleichstellen wollen. Eine dieser Auslegung entgegenstehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei nicht ersichtlich. Vielmehr sei die Frage, ob die Flüchtlingsanerkennung in einem Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat daran hindere, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, vom Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt worden (vgl. BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21). Eine Entscheidung des EuGH sei noch nicht ergangen. Die bestehende Rechtslage eröffne dem Bundesamt die Möglichkeit dieser ergebnisoffenen Prüfung. Dies habe zur Folge, dass auch im Aufenthaltsrecht danach differenziert werden könne, von welchem Staat die Flüchtlingsanerkennung vorgenommen worden sei. Gegen eine Bindung an die Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat mit den entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Folgerungen sprächen auch die Schlussanträge des Generalanwalts vom 19. Oktober 2023 in dem Vorabentscheidungsverfahren C-352/22, in dem der Europäische Gerichtshof darüber zu befinden habe, ob die Entscheidung, mit der ein Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe, nach dem Unionsrecht im Rahmen eines in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten Auslieferungsverfahrens eine Bindungswirkung dahingehend entfalte, dass die für die Durchführung dieses Verfahrens zuständige Behörde die Auslieferung ablehnen müsste, solange diese Entscheidung Bestand habe.
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Die Klägerin beantragt, die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils vom 13. November 2023 (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wegen besonderer tatsächlicher oder rechtliche Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), soweit darin die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG abgewiesen worden ist. Zur Begründung lässt die Klägerin im Wesentlichen vortragen, der Gesetzgeber habe in § 51 Abs. 7 AufenthG und in § 73a AsylG [nunmehr § 73c AsylG] Regelungen getroffen, die nur notwendig und erforderlich seien, wenn der Gesetzgeber selbst auch davon ausgehe, dass die in einem anderen Staat erfolgte Flüchtlingsanerkennung auch Wirkung in Deutschland zeige bzw. eine in Deutschland erfolgte Flüchtlingsanerkennung auch Wirkung in einem anderen Europäischen Land habe. § 51 Abs. 7 AufenthG regle für den umgekehrten Fall eines Verantwortungsüberganges von Deutschland auf einen anderen Konventionsstaat, dass nach Verantwortungsübergang auf einen anderen Staat kein Anspruch auf erneute Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland mehr bestehe. Da nicht anzunehmen sei, dass der Gesetzgeber den Flüchtling ohne Rechte lassen wolle, sei der Gesetzgeber auch hier offenbar davon ausgegangen, dass der Flüchtling in dem Zweitstaat nach dem Verantwortungsübergang die vollen Rechte als Flüchtling erlange, die ihm nach der Genfer Flüchtlingskonvention und – im Falle der Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union – nach der Qualifikationsrichtlinie zuständen. Darüber hinaus wäre es auch inkonsistent, einerseits in § 73a AsylG [nunmehr § 73c AsylG] die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft nach Übergang der Verantwortung dem dann zuständigen Staat zu übertragen, andererseits die Verleihung der aus dem Status fließenden Rechte jedoch dem anerkennenden Staat zu belassen. Ohne Asylverfahren könne ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling nur dann in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen, wenn er auch genauso wie ein in Deutschland anerkannter Flüchtling nach §§ 25 Abs. 2, 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis für mindestens drei Jahre erhalte, die verlängerbar sei, wie es in Art. 24 der Qualifikationsrichtlinie vorgesehen sei. Nur durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (ohne Wohnsitzauflage) sei zudem gewährleistet, dass der Flüchtling weitere ihm zustehende Rechte wie das Recht auf Freizügigkeit, das ihm nach Art. 33 der Qualifikationsrichtlinie unter den gleichen Bedingungen zustehe wie anderen Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhielten, genießen könne. Der Betroffene dürfe durch seine Übernahme nicht benachteiligt werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG führe nicht zu einer Gleichstellung mit in Deutschland anerkannten Flüchtlingen, da z.B. der Familiennachzug in diesem Fall erschwert sei und damit auch Art. 6 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge nicht Genüge getan werde. Auch werde eine solche Aufenthaltserlaubnis nicht von Gesetzes wegen für drei Jahre erteilt, sondern lediglich mindestens für ein Jahr. Gleiches gelte auch für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, bei der ein Familiennachzug nach § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG sogar ausgeschlossen sei.
8
Der Beklagte tritt dem klägerischen Vorbringen entgegen.
9
Die Berufung ist wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zuzulassen (daher kann dahinstehen, ob auch die zudem geltend gemachten Zulassungsgründe vorliegen).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen dann, wenn die Klägerin im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist vorliegend der Fall.
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Es ist ernstlich zweifelhaft, ob die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG, richtig ist.
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Da der Klägerin nicht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern die italienischen Behörden die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt haben, erfüllt die Klägerin zwar die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG nicht. Zudem sind auch die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der Anspruchsnorm nicht gegeben, da es an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt. Der Gesetzgeber hat die Fälle von sich im Bundesgebiet aufhaltenden und außerhalb des Bundesgebiets als Flüchtling i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention anerkannten Ausländer erkannt und dahingehend geregelt, dass diese gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 AufenthG nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden dürfen.
13
Es spricht aber viel dafür, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG bei unionsrechtskonformer Auslegung der Norm hat (zur unionsrechtlichen Auslegung des § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG BVerwG, B.v. 2.8.2017 – 1 C 2.17 – juris Rn. 25; VG Schleswig-Holstein, U.v. 3.6.2020 – 11 A 45/19 – juris Rn. 30; zur erweiternden Auslegung VG Gießen, U.v. 19.8.2021 – 6 K 5451/18.GI.A – juris Rn. 27; zur analogen Auslegung VG Wiesbaden, U.v. 15.10.2021 – 4 K 810/21.WI – juris Rn. 29; zur unmittelbaren Anwendung VG Hannover, U.v. 1.3.2022 – 5 A 1392/21 – juris Rn. 26).
14
Wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, müssen ihm die Rechte und Vorteile gewährt werden, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 20 ff. RL 2011/95/EU ergeben. Die Genfer Flüchtlingskonvention will den Flüchtlingen zu einer neuen Heimat verhelfen und verleiht eine Rechtsstellung, die der Vorbereitung ihrer Eingliederung und Einbürgerung in den aufnehmenden Staatsverband dient. Dem entspricht ihre Ausgestaltung als ein im Wesentlichen nationaler, nicht hingegen in allen Konventionsstaaten wirksamer internationaler Flüchtlingsstatus (BVerwG, U.v. 29.4.1971 – 1 C 42.67 – juris Rn. 15; U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32). Eine völkerrechtliche Bindung eines Vertragsstaats an die Anerkennungsentscheidung eines anderen Konventionsstaates sieht die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vor (BVerfG, B.v. 14.11.1979 – 1 BvR 654/79 – juris Rn. 22). Eine solche Bindungswirkung ergibt sich auch nicht aus dem Unionsrecht (BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32; Dörig, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Ed. 2016, Art. 1 RL 2011/95/EU Rn. 2). Die Bundesrepublik Deutschland hat aber von der nach Völker- und Unionsrecht fortbestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch eine nationale Regelung den Anerkennungsentscheidungen anderer Staaten in begrenztem Umfang Rechtswirkungen auch im eigenen Land beizumessen (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG; BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32).
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Zwar besteht (wohl) grundsätzlich kein Anspruch auf eine neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 AufenthG) oder eine hieran anknüpfende Erteilung eines Aufenthaltstitels in Deutschland (BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29). Ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling kann aber auch ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen und verbleibt nicht dauerhaft auf dem Status eines nur geduldeten Ausländers unter Ausschluss der einem anerkannten Flüchtling zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechte. Da auf einen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling Art. 2 des – von Deutschland ratifizierten (BGBl. 1994 II 2645) – Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 Anwendung findet, ist dies spätestens dann der Fall, wenn die Verantwortung für einen Flüchtling nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Bundesgebiet auf Deutschland übergeht (BVerwG, B.v. 2.8.2017 – 1 C 2.17 – juris Rn. 24). Mit dem Übergang der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises geht nämlich auch die Verantwortung für den Flüchtling selbst von dem Staat, der diesem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, auf den Staat, in dem sich der Flüchtling rechtmäßig niedergelassen hat, dergestalt über, dass die statusrechtliche Zuerkennungsentscheidung jenes Staates auch in diesem Staat Geltung beansprucht (BT-Drs. 13/4948 S. 11; BVerwG, U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32).
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Unter „in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte“ (BVerwG, B.v. 2.8.2017 – 1 C 2.17 – juris Rn. 24) kann nur der automatische Zugang zu allen einem anerkannten Flüchtling in Art. 20 ff. RL 2011/95/EU gewährten Rechten, folglich auch die Ausstellung eines Aufenthaltstitels i.S.d. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2011/95/EU, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, verstanden werden.
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Da ein Verantwortungsübergang (vgl. Legaldefinition des § 73c Abs. 1 Satz 1 AsylG) vorliegend stattgefunden hat (der Beklagte hat die diesbezügliche Auffassung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich eines Verantwortungsübergangs nach Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge nicht mit einem Rechtsmittel angegriffen), kann dahinstehen, ob ein Flüchtling auch schon vorher, d.h. vor einem Verantwortungsübergang, in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen kann oder die derzeitige Rechtslage (insbesondere § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) nicht zu beanstanden ist.
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Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, der EuGH habe in seinem Beschluss vom 13. November 2019 (C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 42) die deutsche Rechtslage nicht beanstandet, wonach im Normalfall (keine ernsthafte Gefahr, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Erststaat ausgesetzt zu werden), ein erneutes Asylverfahren unzulässig sei und ohne erneutes Asylverfahren die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung der damit verbundenen Rechte nicht vorgesehen sei, kann dieser nicht gefolgt werden. Eine Aussage für den Fall des Verantwortungsübergangs lässt sich dem Beschluss nicht entnehmen.
19
Soweit der Beklagte zudem der Auffassung ist, das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner (späteren) Entscheidung vom 30. März 2021 (Az. 1 C 41.20 – juris Rn.32) ausdrücklich bestätigt, dass auch nach dem Übergang der Verantwortung für den Flüchtling nach dem Europäischen Übereinkommen nur ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung gem. § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG bestehe, kann der Senat dies der zitierten Textstelle nicht entnehmen. Das Bundesverwaltungsgericht stellt darin vielmehr lediglich fest, dass nach Übergang der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises gem. § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe, und führt (wie bereits oben dargelegt) aus, dass mit dem Übergang der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises auch die Verantwortung für den Flüchtling selbst von dem Staat, der diesem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, auf den Staat, in dem sich der Flüchtling rechtmäßig niedergelassen hat, dergestalt übergeht, dass die statusrechtliche Zuerkennungsentscheidung jenes Staates auch in diesem Staat Geltung beansprucht.
20
Dass auch der deutsche Gesetzgeber davon ausgeht, dass nach einem Verantwortungsübergang der Flüchtling in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommt, lässt sich sowohl aus der Gesetzesbegründung zu § 73a AsylG a.F. (nunmehr § 73c AsylG) entnehmen, wonach im Falle des Verantwortungsübergangs, die Anerkennungsentscheidung des ausländischen Staates auch in der Bundesrepublik Deutschland „gilt“ (BT-Drs. 13/4948 S. 11 zu § 73a AsylG a.F.; vgl. auch Fränkel in Hofmann, AuslR, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 25 Rn. 17), als auch aus der Norm des § 73c Abs. 2 Satz 1 AsylG, durch den eine weitgehende Gleichbehandlung inländischer und ausländischer Entscheidungen über die Flüchtlingsanerkennung erreicht werden sollte (BT-Drs. 16/5065 S. 220 zu § 73a AsylG a.F.), selbst herleiten. Gem. § 73c Abs. 2 Satz 1 AsylG wird im Falle des Verantwortungsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland dem Ausländer durch das Bundesamt die Rechtsstellung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland entzogen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr vorliegen. Wenn doch die Genfer Flüchtlingskonvention Flüchtlingen einen im Wesentlichen nationalen, nicht hingegen einen in allen Konventionsstaaten wirksamen internationalen Flüchtlingsstatus verleiht und ein Staat an die Zuerkennungsentscheidung eines anderen Staates weder völkerrechtlich noch unionsrechtlich gebunden ist, macht die Regelung in § 73c Abs. 2 Satz 1 AsylG nur dann Sinn, wenn die Anerkennungsentscheidung mit dem Verantwortungsübergang für die Bundesrepublik umfassende Geltung beansprucht.
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Auch aus dem Erläuternden Bericht zum Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, wonach aus Art. 5 des Übereinkommens, auch wenn sich dieser lediglich auf den Übergang der Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises beziehe, „implizit [folgt], dass der Zweitstaat dem Flüchtling nach dem Übergang die Rechte und Vorteile gewähren muss, die sich aus der Genfer Konvention ergeben“ (BT-Drs. 12/6852 S. 21 Rn. 31), ergibt sich dieses Verständnis (vgl. auch VG Düsseldorf, U.v. 26.5.2020 – 22 K 17460/17.A – juris Rn. 158 ff.).
22
Auch § 51 Abs. 7 AufenthG, der den umgekehrten Fall eines Verantwortungsüberganges von Deutschland auf einen anderen Konventionsstaat betrifft und insoweit regelt, dass nach Verantwortungsübergang auf einen anderen Staat kein Anspruch auf erneute Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland mehr besteht, deutet in diese Richtung. Der Gesetzgeber ist insoweit offenbar davon ausgegangen, dass der Flüchtling in dem Zweitstaat nach dem Verantwortungsübergang die vollen Rechte als Flüchtling erlangt, die ihm nach der Genfer Flüchtlingskonvention und – im Falle der Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union – nach der Qualifikationsrichtlinie zustehen (vgl. VG Wiesbaden, Urteil vom 15.10.2021 – 4 K 810/21.WI – juris Rn. 34).
23
Soweit das Verwaltungsgericht ausführt, die Schlussanträge des Generalanwalts .. vom 19. Oktober 2023 in dem Vorabentscheidungsverfahren C-352/22 sprächen gegen eine Bindung an die Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat mit den entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Folgerungen, vermag der Senat aus den Ausführungen des Generalanwalts nichts für hiesigen Fall herzuleiten. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass in dem dem Vorabentscheidungsverfahren zugrundeliegenden Fall ein Verantwortungsübergang stattgefunden hätte. Weder ist dargelegt, dass ein Fall des Art. 2 Abs. 1 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vorliegt, noch sind die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 3 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge erfüllt. Vielmehr ist der dortige Flüchtling im Besitz eines von den italienischen Behörden ausgestellten und bis zum 25. Juni 2030 gültigen Flüchtlingsausweises (OLG Hamm, B.v. 19.5.2022 – III-2 Ausl 180/20 – juris Rn. 1).