Titel:
erfolglose Beschwerde gegen Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts
Normenkette:
FreizügG/EU § 5 Abs. 4 S. 1
Leitsatz:
Ermessenserwägungen können auch noch im Zulassungsverfahren nachgeschoben, angereichert und vertieft werden. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlustfeststellung, Drittstaatsangehöriger Ehegatte, Wirtschaftliche Integration, Grad der Aufenthaltsverfestigung, Vertiefen der Ermessenserwägungen im Berufungszulassungsverfahren, wirtschaftliche Integration, Verfestigung des Aufenthalts, nachschieben von Ermessenserwägungen
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 07.09.2022 – AN 5 K 22.1309
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12180
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Antragsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
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Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein 1997 geborener nordmazedonischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2022, mit dem der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt und der Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert und ihm die Abschiebung nach Nordmazedonien angedroht wurde, weiter.
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Der auf die Zulassungsgründe ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Antrag bleibt ohne Erfolg. Keiner der genannten Zulassungsgründe liegt vor.
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1. Der Rechtssache fehlt die behauptete grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Eine Rechts- oder Tatsachenfrage ist dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich ist, höchstrichterlich oder durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts noch nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist. Die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (BayVGH, B.v. 25.3.2024 – 7 ZB 23.1506 – juris Rn. 4).
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Die vom Kläger aufgeworfene Frage,
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„ob bei der Feststellung des Verlusts des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU ein in der mündlichen Verhandlung vorgelegter Arbeitsvertrag als Aspekt im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit des Aufenthalts von der antragsgegnerischen Ausländerbehörde im Rahmen einer erneuten Abwägung berücksichtigt werden muss“,
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genügt diesen Anforderungen nicht. Dies folgt bereits daraus, dass die Antwort auf die benannte Frage von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls (nämlich abhängig von der Relevanz des Arbeitsvertrages für die behördliche Ermessensentscheidung) abhängt und damit einer Grundsatzrüge nicht zugänglich ist.
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2. An der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung im Grundsatz nach der Sach- und Rechtslage, wie sie im Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag besteht (Happ in Eyermann, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 81).
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Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 7. September 2022 zwei Arbeitsverträge vom 24. Februar 2020 (Arbeitsverhältnis als Tellerwäscher in Berlin) und vom 28. Februar 2022 (Tätigkeit als Kfz-Aufbereiter in N.) vorgelegt, woraufhin die Vertreterin des Beklagten ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung erklärt hat, dass auch die Tatsache, dass der Kläger wohl einer unqualifizierten Beschäftigung nachgehe, zu keiner anderen Entscheidung als der Verlustfeststellung führe.
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Hierzu führt der Kläger aus, dies lasse keine inhaltliche Auseinandersetzung mit seiner wirtschaftlichen Integration im Bundesgebiet erkennen. Das kann auf sich beruhen, da die Beklagte jedenfalls in der Antragserwiderung vom 21. Dezember 2022 ihr durch § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU eingeräumtes Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat.
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Die Beklagte hat ausgeführt, dass der Kläger zunächst ab dem 1. März 2020 in Berlin als Tellerwäscher gearbeitet habe und dann arbeitslos gewesen sei. Ab dem 1. März 2022 und damit ca. zweieinhalb Monate vor Erlass des Verlustfeststellungsbescheids vom 11. Mai 2022 habe er eine neue Arbeitstätigkeit als Kfz-Aufbereiter in N. begonnen. Damit habe er während seines kurzen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland seit 1. Februar 2020 bereits die zweite unqualifizierte Tätigkeit begonnen. Der Kläger sei während seines Aufenthalts im Bundesgebiet nicht ununterbrochen erwerbstätig gewesen und seine Teilhabe am Wirtschaftsleben habe sich zudem auf ungelernte Arbeiten beschränkt. Auch in Anbetracht der erneuten Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung im März 2022 könne in der Gesamtschau nicht von einer nachhaltigen wirtschaftlichen Integration des Klägers ausgegangen werden. Eine tiefgreifende soziale oder wirtschaftliche Integration in die hiesige Gesellschaft habe nicht stattgefunden. Auch unter Berücksichtigung der vorgetragenen Arbeitsverhältnisse des Klägers lägen keine Integrationsleistungen vor, die die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland unzumutbar erscheinen ließen. Zu Gunsten des Klägers spreche sein nach Aktenlage mittlerweile fast dreijähriger straffreier Aufenthalt im Bundesgebiet, wobei er seit Erlass des streitgegenständlichen Bescheids vom 11. Mai 2022 jedoch ausreisepflichtig sei. Eine Verfestigung des Aufenthalts des Klägers, aufgrund der eine Aufenthaltsbeendigung als unverhältnismäßig anzusehen wäre, sei nicht eingetreten. Besondere Bindungen des Klägers zur Bundesrepublik Deutschland seien nicht ersichtlich. Keinesfalls sei vom Kläger der Nachweis erbracht worden, dass er die Voraussetzungen erfülle, weiterhin freizügigkeitsberechtigt zu sein.
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Diese Ermessenserwägungen sind nicht zu beanstanden. Bei der Ermessensentscheidung über den Verlust des Freizügigkeitsrechts kommt insbesondere dem Grad der Aufenthaltsverfestigung und der wirtschaftlichen Integration des Ausländers Bedeutung zu (vgl. OVG Saarl, B.v. 7.9.2017 – 2 B 517/17 – juris Rn. 10; Hailbronner in ders. Ausländerrecht, Stand: Jan. 2024, § 5 FreizügG/EU Rn. 54). Davon hat sich die Beklagte maßgeblich leiten lassen. Der Kläger hat sich zu den nachgeschobenen Ermessenserwägungen nicht geäußert.
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Die Ermessenserwägungen konnten auch noch im Zulassungsverfahren angereichert bzw. vertieft werden (vgl. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 124 Rn. 7c; Rudisile in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: März 2023, § 124 VwGO Rn. 26n; Kautz in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 124 VwGO Rn. 92; kritisch: Roth in BeckOK VwGO, Stand: April 2024, § 124 Rn. 30.1; aus der Rechtsprechung: OVG NW, B.v. 29.1.2019 – 8 A 10/17 – juris Rn. 7; OVG Berlin-Bbg, B.v. 6.12.2013 – OVG 10 N 24.11 – juris Rn. 8; vgl. auch BayVGH, B.v. 18.7.2011 – 10 ZB 10.1434 – juris Rn. 13 zur erstmaligen Ermessensbetätigung im Zulassungsverfahren) und somit vom Senat berücksichtigt werden.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).