Titel:
Maßgeblicher Zeitpunkt für das Erfordernis des "Geduldetseins" iSd § 104c AufenthG
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, § 104c Abs. 1
AsylG § 42 S. 1
Leitsätze:
1. Ist der verwaltungsgerichtliche Beschluss, gegen den unter Berücksichtigung des § 80 AsylG aF die Beschwerde statthaft gewesen ist, vor dem Inkrafttreten der Änderung des § 80 AsylG am 27.2.2024 zugestellt worden und läuft die zweiwöchige Frist für die Einlegung der Beschwerde nach § 147 Abs. 1 VwGO erst nach diesem Zeitpunkt ab, bleibt die Beschwerde statthaft; mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes wäre es nicht zu vereinbaren, wenn in diese gegebene verfahrensrechtliche Lage zulasten einer ein Rechtsmittel möglicherweise anstrebenden Privatperson eingegriffen würde. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Rechtlich unmöglich iSv § 60a Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG ist die Abschiebung, wenn sich im Verhältnis zum Ausländer für die BRD aus einfachem Gesetzesrecht oder aus Unions-, Verfassungs- bzw. Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Erfordernis des "Geduldetseins" iSd § 104c AufenthG ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder gerichtlichen Entscheidung in der Tatsacheninstanz. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zeitlicher Anwendungsbereich des Beschwerdeausschlusses, Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen eines geduldeten Ausländers, Schwangerschaft der Lebensgefährtin als Duldungsgrund, Verfahrensduldung, Erteilungsvoraussetzungen, Schwangerschaft der Lebensgefährtin, Duldungsgrund, maßgeblicher Zeitpunkt für das Erfordernis des "Geduldetseins", Beschwerdeausschluss, zeitlicher Anwendungsbereich des Beschwerdeausschlusses
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 21.02.2024 – AN 11 E 24.67
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12176
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.250,00 Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung wird abgelehnt.
Gründe
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Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft. Zwar können nach § 80 AsylG in der seit 27. Februar 2024 geltenden Fassung des Art. 2 Nr. 14 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54 vom 26.2.2024) Rechtsstreitigkeiten nach dem Asylgesetz und über Maßnahmen zum Vollzug der Abschiebungsandrohung (§ 34 AsylG) oder der Abschiebungsanordnung (§ 34a AsylG) nach dem Aufenthaltsgesetz vorbehaltlich des § 133 Abs. 1 VwGO nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Ist jedoch der verwaltungsgerichtliche Beschluss, gegen den unter Berücksichtigung des § 80 AsylG a.F. die Beschwerde statthaft gewesen ist, vor dem Inkrafttreten der Änderung des § 80 AsylG am 27. Februar 2024 zugestellt worden und läuft die zweiwöchige Frist für die Einlegung der Beschwerde nach § 147 Abs. 1 VwGO erst nach diesem Zeitpunkt ab, bleibt die Beschwerde statthaft. Mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes wäre es nicht zu vereinbaren, wenn in diese gegebene verfahrensrechtliche Lage zu Lasten einer ein Rechtsmittel möglicherweise anstrebenden Privatperson eingegriffen würde (VGH BW, B.v. 27.2.2024 – 11 S 276/24 – juris Rn. 12).
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2. Die Beschwerde bleibt in der Sache aber ohne Erfolg.
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Die Prüfung der für die Begründetheit der Beschwerde streitenden Gründe ist im Grundsatz auf das in der Beschwerdebegründung Dargelegte beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Danach ergibt sich nicht, dass dem Antragsgegner entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen den Antragsteller bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu untersagen wären.
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2.1 Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange diese aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtlich unmöglich i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG ist die Abschiebung, wenn sich im Verhältnis zum Ausländer für die Bundesrepublik Deutschland aus einfachem Gesetzesrecht oder aus Unions-, Verfassungs- bzw. Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 60a Rn. 24; Röder in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, 13. Ed. 15.10.2022, AufenthG § 60a Rn. 32). Wegen der Bindung der Ausländerbehörde nach § 42 Satz 1 AsylG an die Entscheidung des Bundesamtes oder des Verwaltungsgerichts über das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG im Bescheid vom 20. Juli 2017 kommen insoweit nur inlands- und nicht zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 9.3.2023 – 19 CE 23.183 – juris Rn. 16).
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Diese Voraussetzungen liegen entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht vor.
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2.1.1 Offenbleiben kann, ob der Antragsteller einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens hinsichtlich der beantragten und mit bestandskräftigem Bescheid des Antragsgegners vom 20. Juli 2023 versagten Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG hat. Denn auch im Falle eines entsprechenden Wiederaufgreifens nach Art. 51 Abs. 1 BayVwVfG stünde dem Antragsteller kein Anspruch auf eine Verfahrensduldung i.V.m. § 104c Abs. 1 AufenthG zu.
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2.1.2 Außerhalb der Fälle einer gesetzlich vorgesehenen Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG kann zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG die Aussetzung einer Abschiebung geboten sein, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann. Je besser insoweit die Erfolgsaussichten sind, desto eher werden die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG oder zumindest nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG erfüllt sein (vgl. BayVGH, B.v. 9.3.2023 – 19 CE 23.183 – juris Rn. 19 m.w.N.; Hailbronner in ders., Ausländerrecht, Stand: März 2024, § 81 AufenthG Rn. 19).
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2.1.3 Gemessen daran steht dem Antragsteller, wie das Verwaltungsgericht – jedenfalls im Ergebnis – zu Recht entschieden hat, keine Verfahrensduldung zu, weil (bereits) die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 104c Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Das Beschwerdevorbringen führt zu keinem anderen Ergebnis:
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2.1.3.1 Der Antragsteller erfüllt nicht die Voraussetzung des „geduldeten Ausländers“ gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
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Maßgeblicher Zeitpunkt für das Erfordernis des „Geduldetseins“ im Sinne des § 104c AufenthG ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder gerichtlichen Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRspr des Senats, zuletzt B.v. 2.5.2024 – 19 CE 24.303 – Rn. 9 n.v.; B.v. 15.3.2024 – 19 CS 24.170 – Rn. 8 n.v.; OVG SH, B.v. 14.3.2023 – 4 MB 6/23 – juris Rn. 11; OVG LSA, B.v. 24.4.2023 – 2 M 16/23 – juris Rn. 38).
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Soweit der Antragsteller dem gegenüber für das Vorliegen der Voraussetzung „geduldeter Ausländer“ i.S.d. § 104c AufenthG auf den Zeitpunkt der Antragstellung abstellen will (ebenso: Dietz in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2024, § 104c Rn. 9, 11; Kluth in Kluth/Heusch, AuslR, Stand 1.10.2023, § 104c Rn. 7; Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts, S. 3; IMS Anwendungs- und Vollzugshinweise, F4-2081-3-88-218, aktualisierte Fassung vom 27.1.2023, S. 9), vermag der Senat dieser Auffassung nicht zu folgen. Der Gesetzeswortlaut enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber für das Tatbestandsmerkmal „geduldeter Ausländer“ vom allgemein maßgeblichen Zeitpunkt hätte abweichen wollen (vgl. zu § 25b AufenthG: BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 23). Auch den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 20/3717 S. 44 ff.) ist – soweit ersichtlich – kein Anhaltspunkt zu entnehmen, der auf eine konzeptionell ebenfalls in Betracht kommende Vorverlagerung des Duldungserfordernisses auf den Zeitpunkt der Antragstellung hindeutet. Ebenso wie bei § 25b AufenthG erfordern Normzweck und -struktur jedenfalls nicht zwingend, dass die Duldung bzw. der Duldungsgrund schon bei Antragstellung vorliegen muss, mit der Folge, dass ein nachträgliches „Hineinwachsen“ in den persönlichen Anwendungsbereich der Norm nicht möglich wäre (vgl. zu § 25b AufenthG: BVerwG, U.v. 18.12.2019 a.a.O.; ebenso zu § 104c Abs. 1 AufenthG: OVG SH, B.v. 14.3.2023 – 4 MB 6/23 – juris Rn. 11; Röder in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.1.2024, AufenthG § 104c Rn. 19), vorausgesetzt, dass zum gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG maßgeblichen Stichtag (31.10.2022) die Voraussetzung eines fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthaltes, der von einem aufenthaltsregelnden Verwaltungsakt gedeckt war, vorlag. Der Gesetzeszweck des § 104c Abs. 1 AufenthG, der darin besteht, den begünstigten Ausländern die Gelegenheit zur Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a oder § 25b AufenthG zu geben (vgl. BVerwG, B.v. 29.8.2023 – 1 B 16.23 – juris Rn. 4), spricht weder dafür noch dagegen, den maßgeblichen Zeitpunkt für das Vorhandensein eines „geduldeten Ausländers“ auf die Antragstellung vorzuverlagern, weil infolge der Änderung der §§ 25a und 25b AufenthG vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I, S. 2847) neben geduldeten Ausländern auch solche mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG in den Genuss dieser Bleiberechtsregelungen kommen können.
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Die Argumentation des Antragstellers, dass bei Maßgeblichkeit des Zeitpunktes der Erteilung anstatt der Antragstellung dem Ausländer von diesem nicht steuerbare oder beeinflussbare Verzögerungen aus der Sphäre der Behörde – etwa die von dem Antragsteller vorgetragene (angebliche) Überlastung der Ausländerbehörden – zum Nachteil gereichten bzw. das weitere Argument des Antragstellers, dass die Behörde es bei Abstellen auf den Erteilungszeitpunkt in der Hand hätte, durch bloße Untätigkeit die Vernichtung des Anspruchs herbeizuführen, greift nicht durch. Soweit der (im Antragszeitpunkt gegebene) Rechtsanspruch auf eine Duldung wegen Vorliegens eines materiellen Duldungsgrundes im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz oder der gerichtlichen Entscheidung fortbesteht, ist die Tatbestandsvoraussetzung des „geduldeten Ausländers“ gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllt und ein eventueller Wegfall der Duldung (durch Erlöschen und Nichtverlängern bzw. durch Widerruf) vermag schon deshalb das Entstehen des Anspruchs auf Aufenthaltserlaubniserteilung nach § 104c Abs. 1 AufenthG nicht zu hindern. Im gegenteiligen Falle, dass eine im Zeitpunkt der Antragstellung vorhandene Duldung vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG wegen (ersatzlosen) Wegfalls des materiellen Duldungsgrundes nicht verlängert oder widerrufen wird, erfordert es der Gesetzeszweck, geduldeten Ausländern die Gelegenheit zur Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a oder § 25b AufenthG zu geben (vgl. BVerwG, B.v. 29.8.2023 – 1 B 16.23 – juris Rn. 4), nicht (mehr), den betroffenen Ausländer in den Genuss der Regelung des § 104c Abs. 1 AufenthG kommen zu lassen. Vielmehr dürfte in solchen Fällen das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Die Erwägung in der Gesetzesbegründung, Ausländern, deren Abschiebung infolge tatsächlicher oder rechtlicher Hindernisse nicht möglich ist und denen deshalb die Möglichkeit einer Aufenthaltslegalisierung anstelle einer Praxis von „Kettenduldungen“ geboten werden soll, wodurch auch die Ausländerbehörden von den erforderlichen Duldungsverlängerungen entlastet werden sollen (vgl. zum Ganzen BT-Drs. 20/3717, S. 16), trifft auf den Kreis der im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr geduldeten Ausländer (ohne materielle Duldungsgründe) nicht zu. Da das Abschiebungshindernis, welches (zu einem früheren Zeitpunkt) die Duldung gerechtfertigt oder zumindest zu einem materiellen Duldungsgrund geführt hat, entfallen ist, besteht keine Rechtfertigung für eine Duldungsverlängerung, vielmehr ist die Ausreisepflicht gemäß §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG zu vollziehen.
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Aus denselben Gründen scheidet nach der Auffassung des Senats (entgegen der mit Verweis auf die nachfolgend genannte Kommentierung von Röder in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, vertretenen Auffassung des Antragstellers) auch die Annahme eines „aufenthaltsrechtlichen Besitzstandes“ aufgrund des einmaligen Vorliegens aller Erteilungsvoraussetzungen zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Antragstellung auf Aufenthaltserlaubniserteilung nach § 104c AufenthG und Entscheidung über den Antrag (vgl. Röder in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.1.2024, AufenthG § 104c Rn. 19, 93 ff. mit Verweis auf Wittmann in GK-AufenthG, § 25a Rn. 134 ff. und § 25b Rn. 306 ff.; VGH BW, U.v. 23.9.2021 – 11 S 1966/19 – juris Rn. 34 ff.) aus. Dem Gesetz kann kein Anhaltspunkt dafür entnommen werden, dass bereits die Antragstellung auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ein schutzwürdiges Vertrauen des Ausländers in den Fortbestand der (einmal erfüllten) tatbestandlichen Erteilungsvoraussetzungen begründen können soll. Derartiges folgt auch nicht aus der Stichtagsregelung des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG (31.10.2022) für das Vorliegen eines fünfjährigen ununterbrochenen, von einem aufenthaltsregelnden Verwaltungsakt (der dort genannten Arten) gedeckten Aufenthalts, weil die Aufenthaltserlaubniserteilung an weitere Voraussetzungen, insbesondere die Voraussetzung des „geduldeten Ausländers“ geknüpft ist.
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Ein Ausländer ist im Sinne von § 25b Abs. 1 Satz 1 bzw. § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG „geduldet“, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung gleich welcher Art erteilt worden ist oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris LS 2 und Rn. 24; BayVGH, B.v. 6.3.2023 – 19 CE 22.2647 – juris Rn. 24). Ein Rechtsanspruch auf Duldung ist jedenfalls dann ohne weiteres ausreichend, wenn die Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Da die Behörde bei Vorliegen dieser Voraussetzungen verpflichtet ist, dem Ausländer eine Duldung von Amts wegen zu erteilen (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 24), kann es diesem nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie dieser Pflicht im Einzelfall trotz Vorliegens der Voraussetzungen nicht nachkommt und den Aufenthalt lediglich faktisch duldet (vgl. Lehner in Hailbronner, AuslR, Stand Januar 2024, § 25b AufenthG Rn. 16). Umgekehrt bedarf es im Falle einer ausdrücklich erteilten Duldung nicht zusätzlich eines materiellen Duldungsanspruchs, weil eine Duldung als Verwaltungsakt Bindungs- und Tatbestandswirkung entfaltet und damit auch im Falle ihrer Rechtswidrigkeit zu beachten ist, solange sie weder nichtig noch zurückgenommen oder nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG widerrufen worden ist (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 24; vgl. Art. 43 Abs. 2 und 3 BayVwVfG).
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Gemessen daran erfüllt der Antragsteller die Erteilungsvoraussetzung des „geduldeten Ausländers“ nicht, weil er im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr im Besitz einer Duldung ist und in diesem Zeitpunkt auch kein materieller Duldungsgrund vorliegt. Ein entsprechender Duldungsgrund ergibt sich insbesondere nicht aus der vorgetragenen Schwangerschaft der Lebensgefährtin und rituellen Ehefrau des Antragstellers. Die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze zur Beachtung der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen wertentscheidenden Grundsatznorm bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen (vgl. insbesondere BVerfG, B.v. 31.8.1999 – 2 BvR 1523/99 – juris Rn. 7; B.v. 25.10.1995 – 2 BvR 901/95 – juris Rn. 10; B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 31) können bereits vor der Geburt eines Kindes aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen zugunsten eines Ausländers entfalten, der die Legalisierung seines Aufenthaltes im Bundesgebiet begehrt. Sie bedürfen jedoch – da die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den Eltern und dem Kind erst bevorsteht – einer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden modifizierten Anwendung. Insoweit ist in der Rechtsprechung hinsichtlich der Vaterschaft eines ungeborenen Kindes und dessen aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen entschieden, dass – anstelle des Bestehens einer bereits gelebten familiären Gemeinschaft – regelmäßig zu fordern ist, dass der ausländische Vater gegenüber den zuständigen Behörden seine Vaterschaft gemäß §§ 1592 Nr. 2, 1594 Abs. 4 BGB (mit Zustimmung der Mutter) anerkannt hat und beide bereits in Verhältnissen leben, welche die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten lassen (BayVGH, B.v. 17.10.2023 – 19 CE 23.1578 – juris Rn. 12 m.w.N.). Der Schutz des Art. 6 Abs. 4 GG erfasst Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Neben dem verbindlichen Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, der vor allem die Gewährung einer „Schonzeit“ vor und nach der Geburt fordert, ist die Verfassungsnorm Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die für den gesamten Bereich des öffentlichen und privaten Rechts verbindlich ist. Die Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG für den ausländischen Vater eines noch nicht geborenen Kindes kommt daher auch dann in Betracht, wenn eine Gefahrenlage für das ungeborene Kind oder die Mutter (Risikoschwangerschaft) besteht und die Unterstützung der Schwangeren durch den Abzuschiebenden glaubhaft gemacht wird (BayVGH, B.v. 28.1.2021 – 10 CE 21.313 – juris Rn. 7, für ein ungeborenes deutsches Kind); denn die Wahrscheinlichkeit, dass die werdende Mutter unter diesen Umständen durch eine abschiebungsbedingte Trennung Belastungen ausgesetzt ist, die die Leibesfrucht gefährden, ist ungleich höher als bei vorübergehender Trennung während einer normal verlaufenden Schwangerschaft (vgl. OVG LSA, B.v. 10.12.2014 – 2 M 127/14 – juris Rn. 6 m.w.N; OVG Berlin-Bbg, B.v. 30.3.2009 – OVG 12 S 28.09 – juris Rn. 5; OVG Hamburg, B.v. 10.12.2009 – 3 Bs 209/09 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 28.11.2011 – 10 CE 11.2746 – juris Rn. 4; B.v. 17.10.2023 – 19 CE 23.1578 – juris Rn. 12). Erforderlich ist dabei aber, dass eine enge und durch Fürsorge geprägte persönliche Beziehung des Ausländers zur werdenden Mutter besteht, was in der Regel ein tatsächliches Zusammenleben mit ihr in häuslicher Gemeinschaft voraussetzt. Zudem muss glaubhaft die Bereitschaft bekundet werden, in Zukunft in einer tatsächlich gelebten familiären Verbundenheit elterliche Verantwortung zu übernehmen (OVG LSA, B.v. 17.1.2019 – 2 M 153/18 – juris Rn. 18, 24; BayVGH, B.v. 17.10.2023 – 19 CE 23.1578 – juris Rn. 12).
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Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, insbesondere fehlt es im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats – soweit ersichtlich – an einer Vaterschaftsanerkennung (der mit dem Beschwerdeschriftsatz vom 27.2.2024 angekündigte Nachweis der <angeblich in Kürze bevorstehenden> Vaterschaftsanerkennung wurde nicht erbracht). Die mit der Beschwerdebegründung vorgelegten eidesstattlichen Erklärungen des Antragstellers und seiner Lebensgefährtin, worin diese bestätigen, dass der Antragsteller nach ihrem Wissen der Vater des ungeborenen Kindes sei und die Anerkennung der Vaterschaft sowie die Übernahme der elterlichen Sorge beabsichtige, dies mangels Ausweisdokuments bzw. Duldungsbescheinigung derzeit jedoch nicht in die Wege leiten könne, genügt insoweit mangels mit der Vaterschaftsanerkennung (und Übernahme der elterlichen Sorge) vergleichbarer Form und Rechtswirkungen (vgl. §§ 1592 Nr. 2, 1594 ff. BGB bzw. §§ 1626a ff. BGB) nicht. Unabhängig davon kann der ärztlichen Bescheinigung vom 13. Februar 2024 (vorgelegt mit dem Beschwerdeschriftsatz vom 27.2.2024) keine Gefahrenlage für die werdende Mutter bzw. das ungeborene Kind infolge einer Risikoschwangerschaft entnommen werden. Überdies ist der Aufenthaltsstatus der Lebensgefährtin bzw. rituellen Ehefrau des Antragstellers nicht bekannt, weshalb sich Überlegungen zur Frage der Zumutbarkeit einer Trennung zum Zwecke der Nachholung eines Visumverfahrens bzw. zur Zumutbarkeit des familiären Zusammenlebens im Herkunftsland des Antragstellers bzw. der Lebensgefährtin oder in einem Drittstaat erübrigen.
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2.1.3.2 Somit muss nicht entschieden werden, ob die kurzfristige (weniger als 24 Stunden dauernde) Ausreise des Antragstellers nach Österreich zum Erlöschen seiner zu diesem Zeitpunkt bestehenden Duldung führte.
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2.2 Des Weiteren sind auch keine Gründe für die Erteilung einer Ermessensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Abgesehen davon, dass das Begehren des Antragstellers in der Hauptsache erkennbar auf einen dauerhaften und nicht nur vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet abzielt – welcher von einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG nicht gedeckt ist –, hat der Antragsteller auch keine dringenden persönlichen oder humanitären Gründe glaubhaft gemacht (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 60a Rn. 42; Röder in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.1.2024, AufenthG § 60a Rn. 91; anderer Ansicht <Unterstützung der schwangeren Lebensgefährtin kann einen humanitären Grund für Ermessensduldung darstellen>: VGH BW, B.v. 13.9.2007 – 11 S 1964/07 – juris; Kluth/Breidenbach in Kluth/Heusch, AuslR, Stand 1.1.2024, AufenthG § 60a Rn. 24; vgl. aber auch Hailbronner, AuslR, Stand November 2023, AufenthG § 60a Rn. 149 <Durchsetzung der Ausreisepflicht darf durch Ermessensduldung nicht gefährdet werden>). Es ist – wie ausgeführt – nicht glaubhaft gemacht, dass die geltend gemachte Unterstützung seiner Lebensgefährtin und rituellen Ehefrau während der Schwangerschaft seine (ununterbrochene) Anwesenheit im Bundesgebiet erfordert. Des Weiteren kann das geltend gemachte Angewiesensein der im Irak lebenden Angehörigen des Antragstellers auf dessen Transferleistungen (wenngleich menschlich nachvollziehbar) nicht zur Anerkennung eines dringenden persönlichen oder humanitären Duldungsgrundes führen, da insoweit keine aus den Grundrechten abgeleitete staatliche Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland bzw. keine entsprechenden unions- bzw. völkerrechtlichen Verpflichtungen ersichtlich sind.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 63 Abs. 2 Satz 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 8.3 des Streitwertkatalogs 2013.
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5. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung ist abzulehnen, da die Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO, §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).