Titel:
Nachbarklage gegen Abweichung von Abstandsflächen
Normenkette:
BayBO Art. 63 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Nr. 2
Leitsätze:
1. Auch das Interesse eines Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen, kann zu einer Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung führen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch die Änderung des Art. 63 Abs. 1 S. 2 BayBO zum 1.8.2023 (LT-Drs. 18/28882, S. 15 und S. 34) hat der Gesetzgeber weitere Regelbeispiele eingeführt, in denen eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden soll. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zur Frage, wann ein Vorhaben der Weiternutzung eines bestehenden Gebäudes iSv Art. 63 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BayBO dient. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unterschreitung der gesetzlichen Abstandsflächen, Atypik bei der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen, Regelbeispiele des Art. 63 Absatz 1 Satz 2 BayBO
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 12.02.2024 – RO 2 S 23.2379
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12162
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich gegen einen Bescheid des Antragsgegners, mit dem den Beigeladenen die Baugenehmigung für den Anbau an ein Wohnhaus mit Anhebung des Daches sowie den Neubau von einer Garage und Pool genehmigt wurde. In dem Bescheid wurde auch eine Abweichung von den Abstandsflächen zum Grundstück des Antragstellers zugelassen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Änderung zwar eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung des Hauptgebäudes erfordere, jedoch keine abstandsflächenrechtlich relevanten Änderungen zum Antragsteller hin erfolgten. Ein Bestehen auf die Abstandsflächen würde eine unzumutbare Härte für die Beigeladenen bedeuten. Die abstandsflächenrechtlichen Belange des Antragstellers würden nicht verschlechtert, da sich das Gebäude zu ihm nicht ändere.
2
Das Verwaltungsgericht Regensburg hat mit Beschluss vom 12. Februar 2024 den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (Az. RO 2 K 23.1839) abgelehnt und ausgeführt, dass die Erteilung der Abweichung von den Abstandsflächen rechtsfehlerfrei erfolgt sei. Es liege ein atypischer Fall vor, für den die Wertung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO herangezogen werden könne und für die Doppelgarage lägen die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 7 Nr. 1 BayBO vor. Für den Antragsteller ergäben sich keine neuen Beeinträchtigungen und das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt.
3
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Rechtsschutzziel weiter und beantragt sinngemäß,
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unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses vom 12. Februar 2024 die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 11. September 2023 anzuordnen.
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Unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vortrags ist er der Auffassung, das Vorhaben verstoße insbesondere gegen das Abstandsflächenrecht und das Gebot der Rücksichtnahme. Die Baugenehmigung sei außerdem zu unbestimmt.
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Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen und beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
8
Die Beigeladenen äußerten sich im Beschwerdeverfahren nicht.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben oder abzuändern wäre.
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Zu Recht ist das Verwaltungsgericht im Rahmen der gebotenen, summarischen Prüfung davon ausgegangen, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung nicht gegen Rechte der Beigeladenen verstößt. Insbesondere sei die Erteilung einer Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen des Hauptgebäudes zum Grundstück des Antragstellers rechtsfehlerfrei erfolgt, weil ein atypischer Fall vorliege.
12
Der Antragsteller macht geltend, das Gericht sei zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Erteilung einer Abweichung eine Atypik voraussetze, es habe aber nicht nachvollziehbar einen atypischen Fall bejaht. Namentlich habe es zur Bejahung der atypischen Situation bei bestehendem Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz sinnvoll zu nutzen, eine Entscheidung zitiert, die mit dem Sachverhalt des streitgegenständlichen Baus im Außenbereich nichts zu tun habe. Das Verwaltungsgericht verwechsle die Regelbeispiele der Sollvorschrift zur Einschränkung des Ermessensspielraums mit der Tatbestandsebene. Eine Atypik scheide für das Grundstück der Beigeladenen nach allen gängigen Fallgruppen aus. Die Wertung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO sei nicht erfüllt, da derartige bauliche Veränderungen kaum lediglich eine weitere Nutzung bestehender Gebäude umfassten. Andernfalls würde die Wertung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BayBO, die ausdrücklich auf Ersatzgebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt abstelle, durch eine Heranziehung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO unterlaufen. Mit diesem Vorbringen bleibt die Beschwerde allerdings erfolglos.
13
Das VG hat zutreffend – unter Verweis (BA S. 12) auf den Beschluss des 2. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. November 2023 (2 ZB 21.2099) – ausgeführt, dass auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen, zu einer Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung führen könne. Dies gilt unabhängig von der bauplanungsrechtlichen Lage des Bauvorhabens. Die Frage, ob die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen eine Atypik voraussetzt, war weder für die zitierte Entscheidung noch für die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich. Im Übrigen verhält sich die Entscheidung des 2. Senats wegen anderer maßgeblicher Rechtslage nicht zu den Regelbeispielen des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO.
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Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO in dem hier geltenden maßgeblichen Geltungszeitraum (1. Februar 2021 bis 31. Juli 2023) sollte für den Fall, dass ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Wohngebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird, eine Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO erteilt werden. Die Erteilung von Abweichungen in anderen Fällen blieb davon unberührt (vgl. LTDrs. 18/8547, S. 20 Begründung zu Nr. 22 Buchst. a; Dhom/Simon in Busse/Kraus, BayBO, Stand Januar 2023, Art. 63 Rn. 28, 28a). Mit diesem Regelbeispiel hatte der Gesetzgeber erstmals eine atypische Situation konkret festgelegt, in der eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden sollte (vgl. BayVGH, U.v. 23.05.2023 – 1 B 21.2139 – juris Rn. 29).
15
Durch die Änderung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO zum 1. August 2023 (LTDrs. 18/28882, S. 15 und S. 34) wurden weitere Regelbeispiele eingeführt und damit verschiedene atypische Situationen konkret festgelegt. Hierzu führt die Gesetzesbegründung aus, dass – lediglich beispielhaft und nicht abschließend – vier Anwendungsfälle genannt würden, bei denen Abweichungen nach Satz 1 insbesondere zugelassen werden sollen: Vorhaben, die der Weiternutzung bestehender Gebäude dienen (Nr. 1), Abweichungen von den Anforderungen des Art. 6, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Gebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird (Nr. 2), Vorhaben zur Energieeinsparung und Nutzung erneuerbarer Energien (Nr. 3) und Vorhaben zur Erprobung neuer Bau- und Wohnformen (Nr. 4).
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Soweit das Verwaltungsgericht ausführt (BA S. 13), dass jedenfalls die Wertung des Regelbeispiels des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO herangezogen werden könne, ist hiergegen unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbingens nichts zu erinnern.
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Die Wertung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BayBO, die ausdrücklich auf Ersatzgebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt abstellt, wird entgegen der Auffassung des Antragstellers durch eine Heranziehung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO nicht unterlaufen. Der Unterschied zwischen der Regelung in Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 BayBO liegt darin, dass das Regelbeispiel Art. 63 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 BayBO sich auf Abweichungen von den Anforderungen des Art. 6 BayBO bezieht, also nur für die Erteilung von Abweichungen von den Abstandsflächen gelten soll, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch einen Ersatzbau, nämlich ein Gebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt, ersetzt werden soll. Das Regelbeispiel des Art. 63 Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO hingegen ist weiter gefasst. Auf den Einwand des Antragstellers, dass zwar die Doppelgarage für sich genommen keine Abstandsflächen einhalten müsse, deren Anbau allerdings erheblich die Kubatur der Bebauung verändere, weshalb die Wertung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BayBO nicht gegeben sei, kommt es deshalb nicht an.
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Bei der Entscheidung über die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen sind die abstandsflächenrechtlichen Belange der Belichtung, Belüftung sowie eines ausreichenden Sozialabstands in den Blick zu nehmen (vgl. BayVGH, U.v. 23.05.2023 – 1 B 21.2139 – juris Rn. 38). In diesem Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass die Erhöhung des Hauptgebäudes und die Erweiterung nach Westen für das östlich gelegene Grundstück des Antragstellers keine neuen Beeinträchtigungen bringen. Es werden auch keine zusätzlichen Einblicksmöglichkeiten eröffnet. Eine Beeinträchtigung der Schutzgüter des Abstandsflächenrechts lässt sich der Beschwerdebegründung auch nicht entnehmen. Der bloße Verweis auf eine nach Ansicht des Antragstellers entstehende, erhebliche Veränderung der Kubatur sowie darauf, dass das Bestandsgebäude auch ohne den Anbau der Doppelgarage und die Erhöhung des Daches sinnvoll weitergenutzt werden könne, genügt hierfür nicht.
19
Soweit die Beschwerde im Übrigen einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme und die Unbestimmtheit der Baugenehmigung rügt, setzt sie sich mit der Begründung des Verwaltungsgerichts schon nicht substantiiert auseinander und genügt daher dem Darlegungserfordernis nicht.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen, weil sie sich im Beschwerdeverfahren nicht beteiligt und damit auch keinem Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt haben.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.