Titel:
Erfolgloser Nachbarantrag auf Berufungszulassung wegen Genehmigung für Errichtung von zwei Wohngebäuden und einem Wohn- und Geschäftshaus
Normenketten:
VwGO 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4
BauGB § 34 Abs. 2
BauNVO § 3 Abs. 2 Nr. 1, § 4 Abs. 2 Nr. 1, § 15 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Einem Nachbarn kann auch in einem faktischen Baugebiet ein Abwehranspruch gegen erhebliche Verletzungen des Gebietscharakters zustehen, es sei denn, die genehmigten Gebäude sind in dem jeweiligen Baugebiet allgemein zulässig und stehen nicht in Widerspruch zur Gebietsart. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. nach dem Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ soll ein Vorhaben, das im konkreten Baugebiet hinsichtlich der Nutzungsart an sich entweder allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, gleichwohl als gebietsunverträglich vom Nachbarn im (auch faktischen) Plangebiet abgewehrt werden können, wenn es der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspricht. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Gebietserhaltungsanspruch, Gebietsprägungserhaltungsanspruch, Rücksichtnahmegebot, Berufungszulassungsverfahren, Baurecht, unbeplanter Innenbereich, Wohngebäude, Geschäftshaus, faktisches Baugebiet, allgemeinen Wohngebiet, Eigenart der näheren Umgebung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 25.07.2023 – M 1 K 18.5956
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12154
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 12.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Kläger wendet sich gegen die der Beigeladenen erteilten Genehmigungen für die Errichtung von zwei Wohngebäuden und einem Wohn- und Geschäftshaus auf den Grundstücken FlNr. … und …, Gemarkung B. … Er ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. …, das nordwestlich der Vorhabengrundstücke – getrennt durch eine Zufahrtsstraße – liegt und auf dem er ein Kurhotel betreibt.
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Mit Beschluss vom 24. April 2019 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab (1 SN 18.5957). Das dagegen gerichtete Rechtsmittelverfahren wurde nach Rücknahme der Beschwerde mit Beschluss vom 17. Juni 2019 eingestellt (1 CS 19.1144).
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Der Kläger werde nicht in seinem Gebietserhaltungsanspruch verletzt. Die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem allgemeinen Wohngebiet, in dem Wohnnutzung sowie Geschäfts- und Büroeinheiten zulässig seien. Eine Verletzung des Gebietsprägungserhaltungsanspruchs komme jedenfalls nicht in Betracht, weil er sich nur auf die Art der baulichen Nutzung beziehen könne. Die Vorhaben fielen nicht völlig aus dem vorhandenen Rahmen, sodass auch nicht ausnahmsweise ein Fall des Umschlagens von Quantität in Qualität vorliege. Angesichts eines Abstands des nächstliegenden Vorhabengebäudes zum Gebäude des Klägers von ca. 30 m sowie der südöstlich vom Grundstück des Klägers versetzten Lage der Vorhabengebäude liege ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht vor.
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Für das Vorbringen der Beteiligten wird auf ihre Schriftsätze verwiesen; im Übrigen wird Bezug auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der sinngemäß geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor bzw. ist nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist hier nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger durch die Baugenehmigungen nicht in seinen nachbarschützenden Rechten verletzt wird.
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Die Bauvorhaben verletzen den Kläger nicht in einem bestehenden Gebietserhaltungsanspruch. Zwar kann einem Nachbarn auch in einem faktischen Baugebiet gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. §§ 2 ff. BauNVO ein Abwehranspruch gegen erhebliche Verletzungen des Gebietscharakters zustehen (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151). Jedoch ist ein solcher Anspruch für die genehmigten Wohngebäude bereits deshalb ausgeschlossen, weil diese sowohl in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet als auch in einem reinen Wohngebiet allgemein zulässig sind (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO bzw. § 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO) und nicht in Widerspruch zur Gebietsart stehen. Soweit die Beurteilung der Gebietsart für die in den Nachtragsbaugenehmigungen neben den Wohngebäuden genehmigten Geschäfts- und Büroeinheiten relevant ist, zeigt die Zulassungsbegründung keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung auf. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Eigenart der näheren Umgebung einem allgemeinen Wohngebiet (§ 4 BauNVO) entspricht. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei dem Kurhotel um einen auch in einem reinen Wohngebiet ausnahmsweise zulässigen Beherbergungsbetrieb nach § 3 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO handelt. Denn in dem vom Verwaltungsgericht in den Blick genommenen Geviert, das durch die D.straße, die R.straße, die U.straße und die B. Straße begrenzt wird, befinden sich nach dem im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Auszug aus Google Maps und Auflistung der Nutzungen neben der Wohnbebauung und dem Kurhotel noch weitere Betriebe (Cafe, Antik-Laden, Ferienwohnung, Arztpraxis), die in einem reinen Wohngebiet gar nicht oder nur ausnahmsweise zulässig wären. Eine ausnahmsweise Zulassung von Läden und nicht störenden Handwerksbetrieben kommt in einem reinen Wohngebiet nur in Betracht, wenn sie der Deckung des täglichen Bedarfs für die Bewohner des Gebiets dienen. Dies ist bei dem Cafe, bei dem es sich nach dem unwidersprochenen Vortrag des Beklagten unter Hinweis auf den Internetauftritt um eine Konditorei handelt, und dem Antik-Laden nicht der Fall, da ihr jeweiliges Einzugsgebiet sich ersichtlich nicht auf die Bewohner des Gebiets beschränkt. Die vorhandene Arztpraxis sowie die Ferienwohnung sind im reinen Wohngebiet nur ausnahmsweise zulässig. Die Zulassungsbegründung verhält sich dazu nicht.
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Auch soweit die Zulassungsbegründung einen aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO abgeleiteten Verstoß gegen den Gebietsprägungserhaltungsanspruch geltend macht, werden keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung aufgezeigt. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind die in den §§ 2 bis 14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Hieraus wird unter Bezug auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Mai 2002 (4 B 86.01 – NVwZ 2002, 1384) teilweise ein „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ abgeleitet. Danach soll ein Vorhaben, das im konkreten Baugebiet hinsichtlich der Nutzungsart an sich entweder allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, gleichwohl als gebietsunverträglich vom Nachbarn im (auch faktischen) Plangebiet abgewehrt werden können, wenn es der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspricht (vgl. zum Streitstand: BayVGH, B.v. 12.7.2022 – 15 CS 22.1437 – juris Rn. 17). Das Verwaltungsgericht hat für das von ihm als maßgeblich angesehene Geviert festgestellt, dass die genehmigten Baukörper sich in Bezug auf ihre Maße im Rahmen des durch die Umgebung vorgegebenen Umfangs halten bzw. davon nicht erheblich abweichen und ein Umschlagen von Quantität in Qualität auch nicht deshalb zu besorgen ist, soweit erstmals Geschäfts- und Büroeinheiten geplant sind. Die Zulassungsbegründung legt bereits nicht hinreichend substantiiert dar, dass die Nachverdichtung auf den Grundstücken der Beigeladenen den prägenden Charakter des Baugebiets konterkariert und bei typisierender Betrachtung im Ergebnis ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets angenommen werden müsste. Zu den (strengen) Voraussetzungen oder Fallgruppen unter denen ein solcher Ausnahmefall angenommen werden könnte (vgl. BVerwG, U.v. 16.3.1995 – 4 C 3.94 – NVwZ 1995, 899) verhält sich die Zulassungsbegründung nicht. Auf das – nicht drittschützende – Maß der baulichen Nutzung wie die Grundflächenzahl und die Geschossflächenzahl kommt es hierbei ebenso wenig an wie auf ein etwaiges Vertrauen darauf, dass keine dichtere Bebauung in der „kleinteiligen Villenbebauung“ im Geviert zugelassen wird oder in der Vergangenheit Versuche fehlgeschlagen sind, einen Bebauungsplan für das Geviert aufzustellen.
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Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot wird nicht ansatzweise dargelegt, insbesondere fehlt eine Auseinandersetzung mit der ausführlichen Begründung des Verwaltungsgerichts.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).