Inhalt

VGH München, Beschluss v. 18.04.2024 – 10 ZB 22.1340
Titel:

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag wegen Feststellung des Nichterlöschens der Niederlassungserlaubnis und des assoziationsrechtliches Aufenthaltsrechts

Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5
ARB 1/80 Art. 7 S. 1
Daueraufenthalts-RL Art. 9 Abs. 1c
Freizügigkeits-RL Art. 16 Abs. 3
AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 5, Nr. 7
Leitsätze:
1. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Ausreise muss der Lebensunterhalt prognostisch grundsätzlich dauerhaft durch eigenes Erwerbseinkommen gesichert sein, wobei freiwillige Leistungen Dritter nur ausnahmsweise ausreichend sind und strenge Anforderungen an den Nachweis der Leistungsfähigkeit des Dritten zu stellen sind. (Rn. 19 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Tatsachengericht verletzt seine Aufklärungspflicht grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Kläger in der mündlichen Verhandlung zu beantragen unterlassen hat, es sei denn, eine Beweiserhebung hätte sich auch ohne Beweisantrag aufgedrängt. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erlöschen der Niederlassungserlaubnis, Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund, Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe, Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Türkei, Bedeutung von Art. 9 der RL 2003/119/EG für die Feststellung des nicht unerheblichen Zeitraums, Berufungszulassungsantrag, Ausländerrecht, Türkei, ernstliche Zweifel, rechtsgrundsätzliche Bedeutung, Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltsrecht, Erlöschen, Lebensmittelpunkt, Verlagerung, Ausreise, erheblicher Zeitraum, 12-Monats-Frist, Integrationszusammenhang, Wohnsitzabmeldung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 01.04.2022 – Au 1 K 21.2094
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12144

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin, eine türkische Staatsangehörige, ihre in erster Instanz erfolglose Klage auf Feststellung, dass ihre Niederlassungserlaubnis und ihr Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht erloschen sind, weiter.
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Der zulässige Antrag ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.) noch ein Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (3.) ergeben.
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1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn die Klägerin im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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a) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen, sodass ihre Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erloschen sei, zieht das Zulassungsvorbringen nicht ernstlich in Zweifel.
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Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen der Gesamtbetrachtung, ob die Klägerin das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat und damit das Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 weggefallen ist, maßgeblich darauf abgestellt, ob sie ihren Lebensmittelpunkt aus Deutschland wegverlagert hat. Dabei hat es der Zwölfmonatsfrist des Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 2003/109/EG eine gewichtige Indizwirkung in zeitlicher Hinsicht zugemessen und zugleich die Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft als nicht berechtigten Grund erachtet. In Anwendung dieser Maßstäbe hat es entschieden, dass das Aufenthaltsrecht der Klägerin aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 spätestens mit deren Ausreise am 2. November 2018 mit dem Ziel, mit dem Ehemann und ihrem Kind in der Türkei zu leben, erloschen sei. Die Klägerin habe während des vorangegangenen zehntägigen Aufenthalts vom 24. Oktober 2018 bis zum 2. November 2018 den Integrationszusammenhang zum Bundesgebiet nach außen deutlich sichtbar zerrissen, indem sie ihren Wohnsitz abgemeldet und die Auszahlung ihrer Rentenversicherungsbeiträge vorbereitet habe. Die Zahlungen für die erworbenen Rentenanwartschaften habe sie für ihr familiäres Leben in der Türkei verwenden wollen. Soweit die Absicht der Rückkehr nach Deutschland bestanden habe, habe diese sich allenfalls durch die regelmäßigen Besuchsaufenthalte und mehrere Vorsprachen bei der Beklagten nach außen manifestiert. Das Verwaltungsgericht hat für die Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Türkei – unter anderem – die vorangegangene Gründung einer Familie in der Türkei, die fehlenden Bemühungen um eine Verlängerung der Wiedereinreisefrist, die Abmeldung in die Türkei, die beantragte Auszahlung der Rentenanwartschaften und die fehlende Schaffung von Grundlagen für ein Familienleben in Deutschland verwertet (vgl. UA S. 13 f.).
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Dem hält das Zulassungsvorbringen entgegen, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt, insbesondere die Besonderheiten des Einzelfalles unzutreffend ermittelt. Es komme nicht darauf an, ob der Lebensmittelpunkt wegverlagert, sondern darauf, ob der Integrationszusammenhang zerrissen werde. Die Klägerin habe immer deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland sehe. Sie habe bei der Ausreise im Dezember 2017 bei der Beklagten vorgesprochen und einen Bescheid über das Nichterlöschen ihrer Niederlassungserlaubnis bei längerem Aufenthalt in der Türkei beantragt. Sie habe mitgeteilt, dass sie schwanger sei und nach der Eheschließung mittelfristig die eheliche Lebensgemeinschaft in Deutschland führen wolle. Ihr Ehemann habe deshalb bereits einen Deutschkurs besucht. Sie habe sogar die Wiedereinreisefrist mit der Einreise am 24. Oktober 2018 eingehalten. Sie sei nach der Ausreise am 2. November 2018 in die Türkei mehrmals wieder in die Bundesrepublik eingereist und habe in Deutschland auch gearbeitet. Sie habe sogar einen festen Arbeitsvertrag angeboten bekommen. Die Klägerin sei mit ihrer Ausreise am 21. Juni 2020 lediglich der Aufforderung der Beklagten nachgekommen. Sie habe jedoch mit ihrer Klageerhebung klargemacht, dass sie an ihrem assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrecht festhalten wolle. Die Durchführung eines Visumverfahrens könne von ihr nicht verlangt werden.
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Diese Einwände begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
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Das Verwaltungsgericht hat entgegen dem Vorbringen im Zulassungsverfahren alle die Klägerin betreffenden Aspekte, wie die Vorsprachen bei der Beklagten unter anderem im Dezember 2017, die Schwangerschaft der Klägerin, die in der Türkei geschlossene Ehe und auch die Wiedereinreise in die Bundesrepublik innerhalb der von der Beklagten gesetzten Frist, im Rahmen einer Gesamtbetrachtung gesehen und fehlerfrei bewertet. Es hat dabei auch ausdrücklich darauf abgestellt, dass sie den Integrationszusammenhang durch Wegzug aus dem Bundesgebiet zerrissen hat.
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Dies gilt insbesondere auch für den Einwand der Klägerseite in tatsächlicher Hinsicht, dass die Klägerin die Auszahlung der Rentenanwartschaften nur deswegen beantragt habe, weil die junge Familie in der Türkei einen erhöhten Finanzbedarf gehabt habe und man davon ausgegangen sei, dass die Eheleute nach ihrer Rückkehr in das Bundesgebiet durch Arbeit die entsprechenden Einzahlungen wettmachen würden. Mit der Stellung eines Antrags auf Erstattung der geleisteten Rentenversicherungsbeiträge bei der Deutschen Rentenversicherung gibt die betroffene ausländische Person den erworbenen Anwartschaftsanspruch auf eine spätere Rente auf. Mit der Stellung eines solchen Antrags dokumentiert sie, dass sie sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhalten will und dort auch keine Rente benötigt (vgl. BayVGH, B.v. 17.1.2013 – 10 ZB 12.2741 – juris Rn.11). Im Übrigen ist das Vorbringen unsubstantiiert. Was in diesem Zusammenhang „wettmachen“ bedeuten soll und worauf sich die behauptete Annahme der Klägerin gründet, bleibt im Dunkeln.
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Ebenso wenig verfängt der Einwand der Klägerseite, in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sei anerkannt, dass die Eheschließung mit einem türkischen Staatsbürger – die hier am 30. Dezember 2015 in der Türkei stattgefunden hat – einen berechtigten Grund für den Verbleib eines gewissen Zeitraums im Ausland darstellen könne, um die Rückkehr nach Deutschland vorzubereiten, da es an den in der zitierten Rechtsprechung erforderlichen Voraussetzungen von objektiven Anhaltspunkten hierfür (BayVGH, U.v. 13.5.2014 – 10 BV 12.2382 – juris Rn. 36: „objektive Umstände“ und „Wohnort nicht abgemeldet“ sowie Rn. 37: „lange Aufenthalte im Bundesgebiet“) erkennbar mangelt. Dies gilt insbesondere auch für die nach der Ausreise am 2. November 2018 erfolgten Aufenthalte der Klägerin im Bundesgebiet, auf die sich die Klägerseite beruft, namentlich die Aufenthalte vom 28. Mai 2019 bis zum 25. August 2019 und vom 23. November 2019 bis zum 30. November 2019 sowie vom 19. Februar 2020 bis zum 21. Juni 2020. Dazu, zu welchen Zwecken diese Aufenthalte dienten, enthält das Zulassungsvorbringen nichts. Bei einem einmal eingetretenen Erlöschen des Aufenthaltstitels infolge einer auf Dauer angelegten Ausreise bleibt es im Übrigen auch, wenn der Ausländer nach der nicht nur vorübergehenden Ausreise später seine Absicht ändert und wieder in das Bundesgebiet zurückkehrt (vgl. BayVGH, B.v. 4.1.2016 – 10 ZB 13.2431 – juris Rn. 6; B.v. 18.2.2015 – 10 ZB 14.345 – juris Rn. 10).
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An all dem ändert auch der Umstand nichts, dass die Klägerin, wie die Klägerseite vorträgt, im Zeitraum von März bis Juni 2020 im Bundesgebiet für ein Unternehmen für Personaldienstleistungen gearbeitet habe, wo sie bei einem Unternehmen eingesetzt worden sei, das ihr einen festen Arbeitsvertrag angeboten habe. Das Argument der Klägerseite, dass die Klägerin endgültig nach Deutschland zurückgekehrt sei, sobald es das Alter der am 7. Juni 2018 geborenen Tochter erlaubt habe, diese nämlich achtzehn Monate alt gewesen sei, und die Klägerin dann angefangen habe, zu arbeiten, um die Voraussetzungen des Familiennachzugs zu schaffen, kann der Senat nicht nachvollziehen. Dass und inwieweit das Alter der Tochter einer früheren Rückkehr in das Bundesgebiet – zumal in der Familie – entgegengestanden haben soll, wird weder erläutert noch ist es anderweitig ersichtlich. Der Vortrag verdeutlicht vielmehr, dass es im maßgeblichen Zeitpunkt an objektiven Anhaltspunkten für die Vorbereitung einer Rückkehr nach Deutschland fehlt.
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Mit dem Zulassungsvorbringen, die Klägerin habe bei der Beklagten ihren Willen geäußert, nach Deutschland zurückkehren zu wollen, und entsprechende Anträge bei der Behörde und auch ein Klageverfahren angestrengt und die Durchführung eines Visumverfahrens habe von ihr nicht erwarten werden könne, wird die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe Deutschland für ein Eheleben in der Türkei und damit aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund verlassen, nicht ernstlich in Zweifel gezogen.
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Zu keinem anderen Ergebnis führt der Einwand in rechtlicher Hinsicht, dass die Normen der RL 2003/109/EG für das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht der „Bezugsrahmen“ seien. Nach neuester Rechtsprechung (gemeint wohl BVerwG, U.v. 22.5.2012 – 1 C 6/11 – juris Rn. 29) biete sich Art. 8 Abs. 2 Satz 2 der RL 2003/109/EG als unionsrechtlicher „Bezugsrahmen“ für die Gültigkeitsdauer und Dokumentation des (deklaratorischen) assoziationsrechtlichen Aufenthaltstitels an. Somit sei die Richtlinie „Bezugsrahmen“ hinsichtlich des gesamten Schicksals des assoziationsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts. Demnach sei Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) der RL 2003/109/EG in seiner Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, U.v. 20.1.2022 – C-432/20 – juris Rn. 47) auf das Erlöschen der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entsprechend anwendbar, sodass jede physische Anwesenheit eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Gebiet der Europäischen Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ausreiche, um zu verhindern, dass dieser Aufenthaltsberechtigte seine Stellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliere, auch wenn eine solche Anwesenheit eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreite. Die Klägerin habe sich bis Juni 2020 zu keinem Zeitpunkt zwölf aufeinanderfolgende Monate im Ausland aufgehalten, ohne hierfür eine Erlaubnis von der Beklagten erhalten zu haben.
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, auf die das Verwaltungsgericht zu Recht Bezug nimmt, ist insoweit geklärt, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) der RL 2003/109/EG zwar einen „Bezugsrahmen“ mit Indizwirkung bildet, aber eben gerade nicht „entsprechend“ anzuwenden ist, um den nicht unerheblichen Zeitraum exakt zu definieren. Da die Vorschrift nicht nach den Gründen für den Aufenthalt außerhalb des Gebiets der Europäischen Union differenziere, erscheint sie nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts als abschließende Regelung zur Konkretisierung des Erlöschensgrundes ungeeignet. Dennoch liege es mit Blick auf die Ausführungen des Gerichtshofs in der Ziebell-Entscheidung (EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08 – juris) nahe, bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen die jeweiligen Maßstäbe der Daueraufenthaltsrichtlinie als unionsrechtlichen Bezugsrahmen für den hier maßgeblichen Verlustgrund assoziationsrechtlicher Rechte als Orientierung fruchtbar zu machen. Der Zwölfmonatsfrist des Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) der RL 2003/109/EG sei demnach eine gewichtige Indizwirkung dafür zu entnehmen, ab wann ein Assoziationsberechtigter, wenn keine berechtigten Gründe vorliegen, seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben und dadurch seine assoziationsrechtliche Stellung verloren habe (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19.14 – juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 8.7.2022 -10 ZB 22.1379 – juris Rn. 13 ff.). Daraus folgt jedoch nicht, dass ein erheblicher Zeitraum, der zum Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts führt, immer nur dann vorliegt, wenn sich der betreffende Ausländer länger als zwölf aufeinanderfolgende Monate im Ausland aufgehalten hat (BayVGH, B.v. 8.7.2022 -10 ZB 22.1379 – juris Rn. 14; B.v. 17.1.2017 – 10 ZB 15.1706 – juris Rn. 13). Ausschlaggebend ist daher eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls.
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Eine solche Gesamtbetrachtung hat das Verwaltungsgericht zutreffend vorgenommen hat. Es ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin Deutschland ohne berechtigten Grund für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlassen hat, als sie im November 2018 mit ihrem Kind das Bundesgebiet verlassen hat, um in der Türkei bei ihrem Ehemann zu leben. Das Zulassungsverbringen zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit dieser tatrichterlichen Würdigung auf (s.o.).
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Unsubstantiiert ist das Zulassungsvorbringen, bei der Beantwortung der Frage, ob der Integrationszusammenhang unterbrochen worden sei, sei auf Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, abzustellen, woraus im Umkehrschluss folge, dass das Daueraufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erst bei einer Abwesenheit von mehr als zwölf aufeinanderfolgenden Monaten erlösche, was bei der Klägerin nicht der Fall sei. Das Bundesverwaltungsgericht hat in der vorgenannten Entscheidung die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu dem Abkommen EWG-Türkei in Abgrenzung zu der Unionsbürgerrichtlinie nachgezeichnet, wonach das Assoziationsabkommen nur wirtschaftliche Zwecke verfolge, während die Unionsbürgerrichtlinie darüber hinaus die Unionsbürgerschaft als grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten mit ihrem unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren Freizügigkeitsrecht ausforme. Da die Rechtsstellung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen der Stellung eines Unionsbürgers nicht gleichwertig sei, liege es auf der Hand, dass die – nicht nach Gründen für die Abwesenheit differenzierende – rechtsvernichtende Zweijahresfrist des Art. 16 Abs. 4 der RL 2004/38/EG jedenfalls nicht als Mindestzeitraum für den Verlust assoziationsrechtlicher Aufenthaltsrechte türkischer Staatsbürger herangezogen werden könne (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19.14 – juris Rn. 20 m.w.n.; zur grundsätzlichen fehlenden Vergleichbarkeit BayVGH, U.v. 3.9.2012 – 10 BV 10.1237 – juris Rn. 51). Aus welchen Gründen stattdessen allerdings die – nach Gründen für die Abwesenheit differenzierende – Zwölfmonatsfrist des Art. 16 Abs. 3 der RL 2004/38/EG entsprechend Anwendung finden soll, legt die Zulassungsschrift nicht dar.
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b) Soweit das Zulassungsvorbringen darauf abstellt, dass die Niederlassungserlaubnis nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erloschen sei, weil die Klägerin innerhalb der von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist sei, kann dies dahingestellt bleiben. Denn im Rahmen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist entscheidend, ob das Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis richtig ist (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 12 ff.) und die Niederlassungserlaubnis ist jedenfalls nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen, da die Klägerin aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausgereist ist. Zusätzliche Ausführungen dazu erfolgten auch nach Hinweis des Senats von der Klägerseite nicht. Insofern kann vollumfänglich auf die Ausführungen (unter 1. a) zu § 7 ARB 1/80 Bezug genommen werden.
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Ob wegen der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 die Erlöschensvorschrift des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG überhaupt anwendbar ist, kann ebenfalls offenbleiben. Ausführungen zur Frage der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel auf den Erlöschenstatbestand nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG finden sich im Zulassungsvorbringen nicht (zu dessen Anwendbarkeit im Zusammenhang mit Art. 13 ARB 1/80 vgl. BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 6/08 – BVerwGE 134, 27 – juris Rn. 21).
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Des Weiteren ist das Verwaltungsgericht jedenfalls im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin den Privilegierungstatbestand des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht für sich in Anspruch nehmen kann. Die Prognoseentscheidung der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Unter Berücksichtigung der materiellen Beweislast ist sie zu Recht davon ausgegangen, dass der Lebensunterhalt der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Ausreise prognostisch nicht gesichert war.
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Im Zeitpunkt der Ausreise am 2. November 2018 ist die Klägerin keiner versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgegangen. Ihr letztes Beschäftigungsverhältnis hat am 14. Juni 2017 geendet. Einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung kann sie nicht vorweisen. In den Jahren 2012 bis Mai 2015 hat sie zwar bei einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet. Die Erwerbsbiografie ist jedoch von langen Phasen der Arbeitslosigkeit geprägt. So hat sie von Juni 2015 bis zu ihrer Ausreise im November 2018 lediglich für ca. drei Monate im Zeitraum Februar bis Juni 2017 gearbeitet. Von Juni bis November 2015 hat sie Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen müssen. Dies spricht dafür, dass im Falle eines voraussichtlichen Anspruchs auf öffentliche Mittel – sofern sie nicht ausdrücklich nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer Betracht zu bleiben haben – der Lebensunterhalt nicht als gesichert angesehen werden kann, da dann auch eine Inanspruchnahme dieser Mittel zu erwarten oder jedenfalls nicht auszuschließen ist. Ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden, ist nach dem gesetzgeberischen Regelungsmodell unerheblich (BVerwG, U.v. 26.8.2008 – 1 C 32/07 – juris Rn. 21).
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Der Lebensunterhalt muss grundsätzlich dauerhaft durch eigenes Erwerbseinkommen gesichert sein. Freiwillige Leistungen Dritter sind nur ausnahmsweise ausreichend. Es sind deshalb strenge Anforderungen an den Nachweis der Leistungsfähigkeit des Dritten zu stellen. Es muss gewährleistet sein, dass die entsprechenden freiwilligen Leistungen tatsächlich auch über den erforderlichen Zeitraum erbracht werden. Dies kann dadurch geschehen, dass ein selbständiges Schuldversprechen nach § 780 BGB oder eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abgegeben wird (VwV-AufenthG Nr. 2.3.4.2; BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 10 ZB 17.1682 – juris Rn. 11). An einer entsprechenden Verpflichtungserklärung der Mutter fehlt es vorliegend. Auch dauernde und werthaltige familienrechtliche Unterhaltsansprüche gegenüber ihrem Ehemann sind nicht dargelegt. Das einfache Ausgehaltenwerden durch die eigene Familie oder Freunde genügt nicht. Es ist nicht ansatzweise dargelegt, dass eine die Unterhaltspflicht begründende Leistungsfähigkeit der Mutter der Klägerin besteht, bzw. dass die Mutter dauerhaft willens und in der Lage wäre, den Lebensunterhalt der Klägerin einschließlich eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes freiwillig zu bestreiten, auch wenn die Klägerin bei ihr mietfrei wohnen konnte.
22
2. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.
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Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 4; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10). Gemessen daran kommt den von der Klägerin aufgeworfenen Fragen keine grundsätzliche Bedeutung zu.
24
Die vom Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen, „ob die Rechtsstellung aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 bei türkischen Staatsangehörigen nur unter denselben Bedingungen erlöschen kann wie die eines Drittstaatsangehörigen, der im Besitz eines langfristigen Aufenthaltsrechts gemäß der RL 2003/109/EG des Rates vom 25.11.2003 ist, welches in § 9a AufenthG im deutschen Recht umgesetzt wurde“ bzw. „ob die aktuelle Rechtsprechung des EuGH vom 20.01.2022, Rs. C-432/20 auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige, die ein Daueraufenthaltsrecht gem. Art. 7 S. 1 ARB 1/80 erworben haben, entsprechend anzuwenden ist“, sind entgegen der Auffassung der Klägerin im in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (oben unter 1. a) dargelegten Sinne geklärt (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19.14 – juris Rn. 21). Mit dieser Entscheidung setzt sich die Klägerin nicht auseinander. Das Zulassungsvorbringen zeigt insofern nicht auf, dass die Fragen durch die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 20. Januar 2022 (C-432/20), die lediglich die Auslegung von Art. 9 der RL 2003/109/EG im Falle eines Drittstaatsangehörigen betraf und keine Aussagen zur Rechtsstellung nach ARB 1/80 enthielt, oder aus anderen Gründen erneut klärungsbedürftig geworden wären.
25
Hinsichtlich der von der Klägerin weiter als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehenen, tatsächlich aber offensichtlich auf die konkrete Situation der Klägerin zugeschnittenen Frage, „ob die Klageerhebung gegen einen Bescheid der Behörde, in dem festgestellt wird, dass der/die Aufenthaltstitel erloschen sind, einen berechtigten Grund darstellt, das Gerichtsverfahren über diese Frage im Ausland abzuwarten“ werden weder deren grundsätzliche Bedeutung noch deren Entscheidungserheblichkeit dargelegt.
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3. Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegen ebenfalls nicht vor bzw. sind schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
27
Die Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 VwGO, wie sie die Klägerin im Hinblick auf ihre subjektiven Absichten bei der Ausreise aus dem Bundesgebiet erhoben hat, greift schon deswegen nicht durch, weil ein Tatsachengericht seine Aufklärungspflicht grundsätzlich dann nicht verletzt, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Kläger in der mündlichen Verhandlung zu beantragen unterlassen hat (vgl. etwa BVerwG, B.v. 20.12.2012 – 4 B 20.12 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 11.10.2017 – 1 ZB 15.1773 – juris Rn. 3), es sei denn, eine Beweiserhebung hätte sich auch ohne Beweisantrag aufgedrängt. Im vorliegenden Fall wurde ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung kein Beweisantrag gestellt. Das Verwaltungsgericht konnte sich bei der Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts auf die objektiv feststellbaren Tatsachen zum Zeitpunkt der Ausreise stützen. Dass sich dem Verwaltungsgericht angesichts dessen unabhängig von einem Beweisantrag eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen, wird mit dem Zulassungsantrag nicht schlüssig dargelegt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
29
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
30
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).