Inhalt

VGH München, Beschluss v. 12.04.2024 – 10 CE 24.442
Titel:

Folgen der vorübergehenden Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl

Normenketten:
GG Art. 6
VwGO § 123 Abs. 1, Abs. 3, § 146
AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 60a Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Im Falle der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung durch Abschiebung einer ausländischen Person kann sich ein vorläufig über § 123 Abs. 1 VwGO sicherungsfähiger Folgenbeseitigungsanspruch auf Rückgängigmachung der Abschiebung ergeben, wenn durch den hoheitlichen Eingriff ein noch andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist, dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist, und der ein subjektives Recht der betroffenen Person verletzt, weil diese über ein Aufenthaltsrecht oder zumindest einen Duldungsgrund verfügt (vgl. VGH München BeckRS 2023, 240; noch zweifelnd VGH München BeckRS 2016, 42585). (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. zB BVerfG BeckRS 2021, 40836 mwN). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde, Rückholung nach erfolgter Abschiebung, Vater-Kind-Beziehung, Anordnungsanspruch (nicht glaubhaft gemacht), Anordnungsanspruch, Aufenthaltsbeendigung, Kindeswohl, vorübergehende Trennung, Elternverantwortung, familiäre Beziehung, Folgenbeseitigungsanspruch
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 16.02.2024 – M 24 E 24.752
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12138

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Der Antragsteller, der sich erstinstanzlich gegen seine bevorstehende Abschiebung gewandt hatte, begehrt nach Vollzug der Abschiebung am 16. Februar 2024 und einer Antragsänderung im Beschwerdeverfahren die Verpflichtung des Antragsgegners im Wege der einstweiligen Anordnung, ihn wieder in das Bundesgebiet zurückzuholen.
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Dieser Beschwerdeantrag ist unbegründet. Die von dem Antragsteller in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Gründe, die der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern. Der Antragsteller hat den für seine begehrte Rückholung in das Bundesgebiet erforderlichen Anordnungsanspruch nicht den Anforderungen des § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO entsprechend glaubhaft gemacht.
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1. Als Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Rückholung des Antragstellers in das Bundesgebiet kommt der gewohnheitsrechtlich anerkannte und aus dem Grundsatz der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitende Folgenbeseitigungsanspruch in Betracht. Der Folgenbeseitigungsanspruch knüpft nicht an die Rechtswidrigkeit des Eingriffsakts an, sondern an die Rechtswidrigkeit des dadurch geschaffenen Zustands (vgl. BVerwG, U.v. 23.5.1989 – 7 C 2.87 – juris Rn. 80). Im Falle der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung durch Abschiebung einer ausländischen Person kann sich ein vorläufig über § 123 Abs. 1 VwGO sicherungsfähiger Folgenbeseitigungsanspruch auf Rückgängigmachung der Abschiebung ergeben, wenn durch den hoheitlichen Eingriff ein noch andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist, dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist, und der ein subjektives Recht der betroffenen Person verletzt, weil diese über ein Aufenthaltsrecht oder zumindest einen Duldungsgrund verfügt (vgl. BayVGH, B.v. 5.1.2023 – 10 CE 22.2618 – juris Rn. 24 m.w.N.; noch zweifelnd: BayVGH, B.v. 28.1.2016 – 10 CE 15.2653 – juris Rn. 18).
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Verpflichtung zur Rückholung in das Bundesgebiet im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO bereits eine Vorwegnahme der Hauptsache bedeutet. Das Eilrechtsschutzverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO dient jedoch grundsätzlich lediglich der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Einem Antragsteller soll nicht bereits das gewährt werden, was er gegebenenfalls in einem Hauptsacheverfahren erreichen kann. Daraus folgt, dass die Anforderungen für die Glaubhaftmachung im Sinne von § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO hoch sind. Einem Eilantrag auf Rückholung in das Bundesgebiet im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO kann nur stattgegeben werden, wenn − neben der besonderen Eilbedürftigkeit − eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Hauptsache glaubhaft gemacht wird. Auch mit Blick auf eine lediglich ausnahmsweise zulässige Antragsänderung im Beschwerdeverfahren ergibt sich kein anderer Prüfungsmaßstab (vgl. BayVGH, B.v. 5.1.2023 – 10 CE 22.2618 – juris Rn. 25 m.w.N.).
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2. Gemessen daran genügt das Beschwerdevorbringen den Anforderungen an die Glaubhaftmachung des erforderlichen Anordnungsanspruchs nicht. Eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge für sein deutsches Kind (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) oder auch nur einen Anspruch auf eine Duldung aus familiären Gründen (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) hätte, besteht nicht.
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a) Der Antragsteller hat nicht die Personensorge für seine in Deutschland lebende Tochter inne. Dass er diese in absehbarer Zeit erhalten könnte, ist derzeit nicht ersichtlich. Er hat zwar vor dem zuständigen Familiengericht die Anordnung eines gemeinsamen Sorgerechts beantragt. Der entsprechende Verfahrenskostenantrag wurde vom Familiengericht jedoch nach Mitteilung des Antragsgegners mit Beschluss vom 16. Januar 2024 abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung in Ermangelung einer tragfähigen Beziehung des Antragstellers zu seiner Tochter keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Insofern scheidet ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG derzeit und in absehbarer Zeit aus.
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b) Der Antragsteller hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass er aufgrund der Beziehung zu seiner Tochter im Bundesgebiet einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG hätte.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. z.B. BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 41 ff. m.w.N).
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Gemessen daran ist vom Antragsteller nicht – schon gar nicht im Sinne einer ganz überwiegenden Wahrscheinlichkeit – glaubhaft gemacht, dass zwischen ihm und seiner Tochter eine in diesem Sinne schützenswerte familiäre Beziehung bestünde, die ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründen würde.
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Die aktenkundigen Feststellungen des Antragsgegners sprechen gegen die Annahme, dass zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter eine Beziehung besteht, deren Abbruch das Kindeswohl gefährden könnte. Die gilt allem voran für die bisherigen Einlassungen der Mutter des Kindes. Ihren Angaben nach hat der Antragsteller erstmals nach seiner Wiedereinreise in das Bundesgebiet im Mai 2022 Kontakt zu ihr und der im September 2020 geborenen Tochter aufgenommen. In der Folge hätten ab September 2022 Umgänge zunächst zweimal wöchentlich, von Januar 2023 bis Mai 2023 jedoch nur einmal monatlich stattgefunden. Dabei habe die gemeinsame Tochter bislang noch kein belastbares Vertrauensverhältnis zum Antragsteller aufbauen können, weshalb sie bei den Umgängen immer zugegen gewesen sei. Auch frage die Tochter im Falle der Abwesenheit des Antragstellers nicht nach diesem. Unterhalt habe der Antragsteller, wenn überhaupt, nur sporadisch geleistet.
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Gestützt werden die Angaben des Mutter des Kindes durch die vom Antragsgegner wiedergegebenen Erwägungen des Familiengerichts in seinem Beschluss vom 16. Januar 2024, wo ausgeführt wird, dass es der Tochter bei den vereinbarten Umgängen schwerfalle, sich von der Mutter zu lösen. Daher komme es immer wieder zu Konflikten zwischen den Eltern, da der Antragsteller die Kindsmutter für dieses Verhalten der Tochter verantwortlich mache. Eine kindgerechte Kommunikation falle dem Antragsteller teilweise schwer, die Tochter weine zeitweise und habe bereits einmal den Umgang mit ihm vehement verweigert. Gegenüber dem Jugendamt habe der Antragsteller zudem geäußert, die Personensorge hauptsächlich deshalb ausüben zu wollen, damit er in Deutschland bleiben könne.
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Auch das Jugendamt hat gegenüber der Ausländerbehörde am 16. Februar 2024 telefonisch mitgeteilt, es bestehe keine enge Bindung. Der Antragsteller versuche primär, durch Geschenke die Aufmerksamkeit seiner Tochter zu erlangen. Insgesamt habe man den Eindruck, es gehe ihm vor allem um aufenthaltsrechtliche Vorteile.
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Alledem tritt der Antragsteller mit der Beschwerde nicht substantiiert entgegen. Der Antragsteller selbst trägt lediglich vor, dass er vor seiner Abschiebung wöchentlich zweimal Umgang mit seiner Tochter gehabt und dabei mit ihr „gespielt und gekuschelt“ habe und dass es von diesen Treffen eine Vielzahl von Videos gebe, ohne dass deren Inhalt mitgeteilt würde. Dass er darüber hinaus elterliche Verantwortung übernommen oder ein weitergehendes Interesse an seiner Tochter, ihrer Entwicklung oder ihren Lebensumständen gezeigt hätte, legt er nicht dar. Vielmehr fällt auf, dass der Antragsteller selbst nur selektiv vorträgt. Vom für ihn nachteiligen Verfahrenskostenhilfebeschluss des Familiengerichts vom 16. Januar 2024 hat der Antragsteller nichts berichtet. Auch eine Stellungnahme des Jugendamtes vom 26. Januar 2024 an das Familiengericht hat er (beim Verwaltungsgericht) erkennbar nur in Auszügen (Seite 1 und Teile von Seite 3) vorgelegt. Angesichts der zahlreichen gegen eine im dargestellten Sinne schützenswerte Vater-Kind-Beziehung sprechenden Umstände reicht dies zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes nicht aus.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
15
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nrn. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG. Da der Antragsteller im Beschwerdeverfahren (erstmals) eine Entscheidung begehrt, welche die Entscheidung in der Hauptsache im Wesentlichen vorwegnimmt (s.o.), ist der für den Abschiebungsschutz anzusetzende Wert in Höhe von 2.500 Euro gemäß Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht gemäß Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs zu mindern.