Inhalt

VGH München, Urteil v. 19.02.2024 – 10 B 22.1741
Titel:

Anforderungen an die Wiederholungsgefahr bei der Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Straftäters

Normenketten:
EMRK Art. 8
GG Art. 6
AufenthG § 11, § 53 Abs. 1–4, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1
StGB § 78 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4
Leitsätze:
1. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr vgl. zB VGH München BeckRS 2021, 12488). (Rn. 61) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses iSd § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. (Rn. 70) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hinsichtlich des Bleibeinteresses sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind. Ergänzend hierzu sind die vom EuGH zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen. (Rn. 75) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung (mosambikanischer Staatsangehöriger), Gewaltstraftat, Gefahrenprognose (gescheiterte Alkohol-/Drogen-Therapie), faktischer Inländer, Ausweisung, mosambikanischer Staatsangehöriger, Gefahrenprognose, gescheiterte Alkohol-/Drogen-Therapie, Wiederholungsgefahr, generalpräventives Ausweisungsinteresse, Folgen der Ausweisung für Familienangehörige
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 24.02.2022 – M 10 K 20.2954
Fundstelle:
BeckRS 2024, 12131

Tenor

I.    Die Berufung wird zurückgewiesen.
II.    Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III.    Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV.    Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung.
2
Der Kläger ist ein 1999 in B. geborener mosambikanischer Staatsangehöriger. Sein Vater war in den 1980er Jahren in die Deutsche Demokratische Republik ausgewandert und später nach München umgezogen; er ist 2016 verstorben. Seine Mutter ist im Jahr 1998 zum Familiennachzug nach Deutschland gekommen, sie ist nach einem Schlaganfall 2010 auf Medikamente angewiesen, jedoch als Altenpflegerin berufstätig.
3
Der Kläger erhielt am 29. November 2015 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (jetzt Niederlassungserlaubnis).
4
2015 erreichte er den qualifizierenden Mittelschulabschluss und begann danach eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Im Dezember 2018 schloss er die TheorieAbschlussprüfung mit ungenügenden Leistungen ab, die für Januar 2019 vorgesehene praktische Prüfung konnte er aufgrund seiner Inhaftierung nicht mehr ablegen.
5
Im Jahr 2015 begann er Cannabis zu konsumieren, 2018 auch diverse andere Drogen sowie Kokain. Mit 14 Jahren begann er Alkohol zu trinken. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet er an einem schädlichen Gebrauch von Cannabis (ICD-10: F12.1), einem schädlichen Gebrauch multipler illegaler Substanzen (ICD-10: F19.1) und einer Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F10.2).
6
Ab 2016 trat er wegen Betäubungsmittel-, Diebstahls-, Leistungserschleichungs- und Sachbeschädigungsdelikten in Erscheinung; es wurden Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz getroffen bzw. von der Verfolgung abgesehen.
7
Durch (rechtskräftiges) Urteil des Landgerichts München I vom 2. Dezember 2019 wurde er der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung in vier tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gemeinschaftlichem versuchtem Totschlag schuldig gesprochen und zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten verurteilt; ferner wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
8
Der Kläger hatte sich mit mehreren Mittätern am 4. Januar 2019 an einer Schlägerei mit anderen Jugendlichen beteiligt, wobei der Angriff von der Gruppe um den Kläger ausging. Das (stark alkoholisierte) Opfer wurde unter anderem mit Faustschlägen sowie mit Fußtritten gegen Kopf und Oberkörper traktiert. Der Kläger habe – wie das Landgericht ausführt – gehandelt, „um den Geschädigten zu demütigen und um seine Überlegenheit zu zeigen“. Weitere Beteiligte, die dem Opfer zu Hilfe kommen wollten, wurden ebenfalls vom Kläger wie von den Mittätern geschlagen. Bei dem (Haupt-)Opfer bestand potentielle Lebensgefahr.
9
Das Gericht stellte beim Kläger und bei zwei Mitangeklagten schädliche Neigungen im Sinn von § 105 Abs. 1 i.V.m. § 17 Abs. 2 Nr. 1 JGG fest, weshalb eine Jugendstrafe zu verhängen sei.
10
Gegenüber dem Kläger und zwei Mitangeklagten wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Gestützt auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen sei die Kammer der Überzeugung, dass die Angeklagten unter einem Hang im Sinn des § 64 StGB litten, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, welcher für die verfahrensgegenständliche Tat ursächlich geworden sei und darüber hinaus im Falle unveränderten Suchtverhaltens auch für die Zukunft weitere erhebliche Straftaten besorgen lasse.
11
Der Kläger befand sich seit dem 4. Januar 2019 in Untersuchungs-, sodann in Strafhaft. Am 5. Mai 2020 erfolgte die Unterbringung im Bezirksklinikum ....
12
Zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen angehört, trug der Kläger mit Schreiben vom 9. Februar 2020 vor, in Mosambik habe er zwar Verwandte, da er aber nur zweimal als Kleinkind dort gewesen und hier in Deutschland deutschsprachig aufgewachsen sei und keinerlei Sprachkenntnisse des Heimatlandes habe, habe er nie in Kontakt zu ihnen gestanden. Er habe noch einen zehn Jahre älteren Halbbruder, der in B. lebe und zu dem er ein sehr gutes Verhältnis habe. Er lebe bei seiner Mutter; seit September 2015 habe er eine Freundin. Zu seiner Straffälligkeit sei es gekommen, weil er die Anerkennung, die ihm gefehlt habe, bei seinen Freunden gesucht habe. Seine Eltern hätten ihm nie das Gefühl gegeben, etwas richtig gemacht zu haben oder dass sie stolz auf ihn seien. Seine Mutter habe 2010 einen Schlaganfall erlitten und bleibende Schäden davongetragen; hinzu sei noch der Tod seines Vaters 2016 gekommen, den er miterlebt habe. Nach seiner Entlassung wolle er die Ausbildung abschließen, um sich seinen Traum zu erfüllen, die Meisterprüfung abzulegen und sich als Anlagenmechaniker selbständig zu machen. Er identifiziere sich selbst als Deutscher, da er hier aufgewachsen sei und weiterhin die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebe.
13
Im Führungsbericht der JVA ... vom 13. Februar 2020 ist dargestellt, dass der Kläger sich seit dem 7. Januar 2019 dort befinde. Er sei vom 4. April 2019 bis zum 22. Februar 2020 in der Arbeitstherapie beschäftigt gewesen und seit dem 3. Februar 2020 bei einem Unternehmerbetrieb zur Arbeit eingeteilt, wo er bislang eine gute Leistung zeige. Von den Bediensteten werde er als höflich, freundlich, respektvoll und ordentlich beschrieben; er sei hilfsbereit und fleißig, komme gut mit seinen Mitgefangenen aus und übe auch durchaus einen positiven Einfluss auf diese aus. Er habe disziplinarisch zweimal geahndet werden müssen, da er versucht habe, die richterliche Briefkontrolle zu umgehen. Kontakt zu der im Hause tätigen externen Mitarbeiterin der Alkoholberatung habe er aufgenommen. Seit Mai 2019 nehme er an einem Anti-Gewalt-Training teil.
14
Mit Bescheid vom 10. Juni 2020 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1 des Bescheids) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, das unter der Bedingung, dass Straf- und Drogenfreiheit und Alkoholabstinenz nachgewiesen werden, auf sechs Jahre befristet wurde; werde diese Bedingung nicht erfüllt, betrage die Dauer acht Jahre (Nr. 2). Nach erfülltem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht werde er aus der Unterbringung bzw. Haft nach Mosambik abgeschoben. Sollte er aus der Unterbringung bzw. Haft entlassen werden, bevor die Abschiebung habe durchgeführt werden können, sei er verpflichtet, das Bundesgebiet bis spätestens vier Wochen nach Haftentlassung zu verlassen. Sollte er nicht fristgerecht ausreisen, werde er nach Mosambik abgeschoben. Die Abschiebung könne auch in einen anderen Staat erfolgen, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 3).
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Rechtsgrundlage der Ausweisung sei § 53 Abs. 1 AufenthG. Die Straffälligkeit, insbesondere die mit dem Urteil vom 2. Dezember 2019 abgeurteilten Straftaten, gefährdeten die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
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Angesichts des Übermaßes an Gewalt sehe die Ausländerbehörde eine sehr hohe Wiederholungsgefahr. Der Kläger habe eine massive Geringschätzung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit anderer gezeigt. Seine Gewaltbereitschaft, die er dabei an den Tag gelegt habe, indem er auf eine am Boden liegende wehrlose Person eingetreten und Dritte, die helfen wollten, durch Faustschläge am Helfen gehindert habe, sei massiv. Er habe sogar in Kauf genommen, dass der Geschädigte versterben könnte. Er habe zudem ohne jeglichen – auch nur im Ansatz nachvollziehbaren oder verständlichen – Anlass gehandelt. Der Geschädigte und dessen Freund hätten sich bereits vom Kläger und seinen Freunden entfernt gehabt, und trotzdem habe er diesen nachgesetzt, um sein „Ziel“ zu erreichen. Das Prahlen in der Disko über die Tat und das versuchte Schmuggeln eines Kassibers in der Haftanstalt, in dem er sich gegenüber seinem Kumpel abfällig über den Geschädigten geäußert habe, spreche für eine enorm hohe kriminelle Energie und Empathielosigkeit. Ob sich die in diesem Verhalten zum Ausdruck kommende Persönlichkeit des Klägers ändere, bedürfe einiger Aufarbeitung. Die Ausländerbehörde gehe auch aufgrund der Suchterkrankung des Klägers und seines kriminellen Umfeldes davon aus, dass er sehr bald wieder in alte Verhaltensmuster zurückfalle. Er kehre nach seiner Entlassung in das gleiche soziale Umfeld zurück, in dem er zuvor Straftaten begangen und Suchtmittel konsumiert habe. Auch wenn er inzwischen eine Therapie begonnen habe, könne jedenfalls bis zu deren erfolgreichem Abschluss nicht ausgeschlossen werden, dass er erneut Drogen und Alkohol konsumieren und Straftaten begehen werde. Vom Bestehen einer Wiederholungsgefahr werde somit zumindest so lange auszugehen sein, bis er sich erfolgreich einer Therapie unterzogen und anschließend einen gewissen Zeitraum abstinent und straffrei in Freiheit gelebt habe. Die Gewaltbereitschaft, Persönlichkeit und Suchtmittelabhängigkeit des Klägers sprächen für eine Gefahr weiterer schwerer Straftaten.
17
Das Ausweisungsinteresse wiege nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer, zudem seien § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. a und b AufenthG einschlägig. Das Bleibeinteresse wiege nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer. In der Abwägung überwiege das öffentliche Interesse an der Ausweisung; diese entspreche auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
18
Die Ausweisung entspreche den Anforderungen von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK. Hier sei zu sehen, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sei. Er sei damit faktischer Inländer, da er die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend im Bundesgebiet verbracht habe. Seine Integration in der Bundesrepublik Deutschland stütze sich jedoch hauptsächlich auf seinen langen Aufenthalt. Er besitze zwar einen Schulabschluss, habe jedoch seine Berufsausbildung nicht abschließen können. Ob er diese nach seiner Entlassung abschließen könne, sei offen; jedenfalls seien seine beruflichen Möglichkeiten im Heimatland nicht schlechter einzuschätzen als in Deutschland. Er selbst gebe an, noch Verwandte in Mosambik zu haben. Auch wenn zu diesen kein guter Kontakt bestehe, habe er doch die Möglichkeit für einen ersten Anlaufpunkt. Als erwachsener junger Mann sei es ihm auch zuzumuten, sich eine Wohnung und Arbeit zu suchen und für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Selbst unter Würdigung des langjährigen Aufenthalts sowie seiner hier bestehenden familiären und sozialen Bindungen und demgegenüber einer womöglich ungesicherten Situation im Heimatland träfen ihn die Folgen der Ausweisung zwar schwer, aber nicht unverhältnismäßig. Des Weiteren sei auch zu sehen, dass er nach seiner Haftentlassung im Bundesgebiet keinen positiven Empfangsraum habe, in den er zurückkehren könne. Vielmehr komme er in das gleiche vermeintlich stabile Umfeld zurück, in dem er zuletzt massiv Straftaten begangen und Alkohol und Drogen konsumiert habe. Auch seine Familie habe ihn nicht positiv beeinflussen können. Es sei ihm daher zuzumuten, sich zumindest zeitweise in Mosambik zurechtzufinden.
19
Auch Art. 6 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Eine Kernfamilie habe der Kläger nicht. Als volljähriger Mann sei er nicht mehr auf die Fürsorge und den Beistand seiner hier lebenden Mutter angewiesen. Es sei ihm auch vom Ausland aus möglich, mit seinen Angehörigen telefonisch oder brieflich Kontakt zu halten.
20
Die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots beruhe auf Art. 11 Abs. 1 AufenthG. Die Länge der Frist sei gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen bestimmt worden.
21
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 4. Juli 2020 ließ der Kläger Klage erheben mit dem Ziel, den Bescheid vom 10. Juni 2020 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
22
Vorgelegt wurden Berichte des Bezirksklinikums ... vom 1. September 2020, 2. Februar 2021, 14. September 2021 und vom 17. Januar 2022. Dort befand sich der Kläger seit 5. Mai 2020 in stationärer Behandlung gemäß § 64 StGB. Aus ihnen ergibt sich insbesondere, dass der bisherige Therapieverlauf eine konkrete Aussicht auf einen erfolgreichen Abschluss der Therapie biete. Am 13. April 2021 sei es jedoch zu einem einmaligen Konsum synthetischer Cannabinoide während eines alleinigen Ausgangs des Klägers gekommen. Im Übrigen seien durchgeführte Drogenscreenings jedoch negativ verlaufen. Ab 5. Juli 2021 habe der Kläger im Rahmen einer Sondergenehmigung unter der Woche Wohnsitz bei seiner Mutter nehmen dürfen, um in seinem früheren Ausbildungsbetrieb zunächst zur Probe zu arbeiten und dann die Ausbildung fortzuführen. Hierbei habe sich der Kläger zuverlässig und absprachefähig gezeigt. Des Weiteren hat die Klagepartei einen Berufsausbildungsvertrag mit dem früheren Ausbildungsbetrieb des Klägers vom 18. August 2021 über die Fortführung der Ausbildung ab 1. September 2021 übermittelt. Aus der ebenso übersandten Stellungnahme des Ausbildungsbetriebs vom 8. September 2021 geht hervor, dass der Kläger zunächst ein zweimonatiges Baustellenpraktikum gemacht habe, wobei er zuverlässig, pflichtbewusst und freundlich gewesen sei. Aufgrund dessen könne er nun seine Ausbildung im Betrieb fortsetzen.
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In der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 24. Februar 2022 hat der Vertreter der Beklagten den angefochtenen Bescheid dahingehend geändert, dass in Nr. 2 die Dauer der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von sechs und acht Jahren auf drei und fünf Jahre reduziert worden ist und in Nr. 3 der Beginn der vierwöchigen Ausreisefrist an die Haftentlassung sowie die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht geknüpft worden ist.
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Mit Urteil vom 24. Februar 2022 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es müsse mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass der Kläger erneut Straftaten begehen werde und er damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle. Bei den vom Kläger (zuletzt) begangenen Straftaten handele es sich um Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Nach den Feststellungen des Strafgerichts bestehe die Gefahr der Begehung weiterer rauschbedingter Aggressionsdelikte sowie weiterer Delikte der Beschaffungskriminalität. Da der Schutz vor derartigen Delikten eine wichtige Aufgabe des Staates sei und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, seien an die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadenseintritts im konkreten Fall geringere Anforderungen zu stellen.
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Zwar spreche vorliegend gegen eine Wiederholungsgefahr, dass der Kläger seine Taten im Strafverfahren gestanden und sich entschuldigt habe. Zudem sei im Strafurteil wegen Reifeverzögerungen auf den Kläger Jugendstrafrecht angewandt worden. Der Kläger gebe insoweit an, dass durch Haft und Therapie bei ihm ein innerer Reifeprozess eingetreten sei. Nach den vorgelegten Berichten des Bezirksklinikums sei die Therapie insgesamt betrachtet bisher auch positiv verlaufen; der Kläger sei therapiemotiviert und krankheitseinsichtig. Hinzu komme, dass der Kläger wohl mit Unterstützung der Klinik eine berufliche Perspektive entwickelt habe, was ein nicht unerheblicher stabilisierender Faktor im Leben sein könne. Schließlich laufe das Probewohnen bei seiner Mutter, das zwischenzeitlich so ausgeweitet worden sei, dass der Kläger lediglich freitags zu einem Drogenscreening und zur Abgabe einer Blutprobe in die Klinik müsse, nach den Berichten der Klinik sehr gut.
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Aber trotz dieser positiven Ansätze im Leben des Klägers sei nach Auffassung des Gerichts eine Wiederholungsgefahr nicht ausgeräumt. Der Kläger habe bei Begehung der Straftaten massiv Gewalt gegen eine andere Person angewandt, was eine erhebliche kriminelle Energie, Empathielosigkeit sowie Missachtung anderer Personen offenbare. Obwohl sich die Opfer entfernen wollten, seien der Kläger und seine Mittäter diesen nachgesetzt, um sie erneut körperlich zu misshandeln. Dabei seien die Tritte gegen den Kopf und den Oberkörper einer wehrlosen Person, die bereits am Boden gelegen habe, besonders gravierend. Erhebliches Gewicht habe auch der Umstand, dass die Täter ohne nachvollziehbaren Anlass gehandelt hätten. Nach dem Strafurteil sei das Motiv der Täter gewesen, die Opfer zu erniedrigen, was ein angelegtes Verhaltensmuster der Täter sei und eine innere Einstellung gegenüber Schwächeren zeige. Erschwerend hinzu komme, dass der Kläger trotz seiner Jugend bereits mehrfach vorgeahndet gewesen sei, während der Haft zwei Disziplinarmaßnahmen gegen ihn hätten verfügt werden müssen und er während der Therapie im Hinblick auf den Suchtmittelkonsum einmal rückfällig geworden sei.
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Ferner bedeute der Umstand, dass der Kläger nunmehr – wie vor seiner Inhaftierung auch – wieder bei seiner Mutter wohne, die Rückkehr in den gleichen sozialen Empfangsraum, der ihn auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung von Straftaten abgehalten habe. Schließlich sei nach den Feststellungen des Strafurteils der Hang des Klägers, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, für die Straftaten ursächlich gewesen. Würden jedoch aufgrund von Betäubungsmittel- und Alkoholabhängigkeit Straftaten begangen, könne von einem Wegfall der konkreten Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht habe. Hier habe der Kläger seine Therapie noch nicht abgeschlossen, wenn auch eine Entlassung in Bälde anstehe.
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Zur Abwägung der – jeweils besonders schwer wiegenden (§ 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) – Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird ausgeführt, es sei vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Güter- und Interessenabwägung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorrang gegeben habe.
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Im Ausgangspunkt der Abwägung sei einzustellen, dass der Kläger ein sogenannter faktischer Inländer ist, dessen private und familiäre Bindungen im Bundesgebiet durch Art. 8 EMRK geschützt seien. Dies habe die Beklagte im Grundsatz auch berücksichtigt, wenn auch die Integration des Klägers – anders als die Beklagte meine – nicht lediglich auf seinem langjährigen Aufenthalt gründe. Denn der Kläger sei im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Er habe hier die Schule besucht und nach seinem (erfolgreichen) Schulabschluss eine Ausbildung begonnen, die er zwar aufgrund der Inhaftierung habe abbrechen müssen, nun aber fortsetze. In Deutschland lebten seine Mutter und sein Halbbruder; auch sein sonstiges soziales Umfeld befinde sich hier.
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Jedoch bestehe auch für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Im vorliegenden Fall führe die Ausweisung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nicht zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 8 EMRK. Der Kläger sei nicht vollständig von seinem Heimatland entfremdet; ihn verbinde mit Mosambik mehr als nur noch das Band seiner Staatsangehörigkeit. Da die Eltern des Klägers in Mosambik geboren worden seien, der Vater in den achtziger Jahren in die ehemalige DDR und die Mutter erst ein Jahr vor der Geburt des Klägers nach Deutschland gekommen seien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger von seinen Eltern eine gewisse kulturelle und sprachliche Bindung zu Mosambik vermittelt worden sei. Die Eltern hätten mit ihm daheim Portugiesisch gesprochen, so dass er es verstehe und jedenfalls in Grundzügen spreche. Zudem dürften ihm Gebräuche und Gepflogenheiten des Landes nicht gänzlich unbekannt sein. Der Kläger habe auch noch Verwandte dort und Mosambik vier- bis fünfmal für jeweils drei bis vier Wochen besucht.
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Diese Position des Klägers als faktischer Inländer, der nicht vollständig von seinem „Heimatland“ entwurzelt sei, werde im Rahmen der Abwägung trotz der positiven Ansätze im Leben des Klägers (jedenfalls derzeit) von den schwerwiegenderen öffentlichen Interessen übertroffen. Auf Seiten der öffentlichen Interessen sei zu berücksichtigen, dass der Kläger massiv straffällig geworden sei. Es bestehe trotz der aktuell positiven Entwicklung des Klägers auch eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Hinzu komme, dass der Kläger keine eigene Kernfamilie in Deutschland habe; er sei ledig und kinderlos. Die Beziehung zu seiner langjährigen festen Freundin sei zwischenzeitlich beendet. Die Bindungen zu seiner Mutter und seinem Halbbruder seien zwar, wie die Beklagte zutreffend erkannt habe, grundsätzlich in der Abwägung zu berücksichtigen, fielen aber nicht erheblich ins Gewicht, da der Kläger als erwachsener Mann jedenfalls nicht auf deren Unterstützung angewiesen sei. Umgekehrt sei auch nicht ersichtlich, dass ein Familienangehöriger der Unterstützung durch den Kläger bedürfte. Insbesondere sei nicht vorgetragen, dass die Mutter aufgrund des Schlaganfalls oder ihrer sonstigen Erkrankungen pflegebedürftig wäre. Sie habe in der mündlichen Verhandlung, in der sie als Zuhörerin anwesend gewesen sei, auch nicht diesen Eindruck erweckt.
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Schließlich sprächen auch generalpräventive Gründe für die Ausweisung des Klägers. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung begegne keinen Bedenken.
33
Im Zulassungsverfahren legte die Klägerseite die „Gutachterliche Stellungnahme gemäß § 67e StGB zum Antrag auf Aussetzung der Unterbringung gemäß § 64 StGB zur Bewährung“ des Bezirksklinikums ... vom 21. April 2022 vor. Dieses stellte eine günstige Legalprognose und befürwortete aus forensisch-psychiatrischer Sicht eine bedingte Entlassung aus der Maßregel unter bestimmten Auflagen.
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Mit Beschluss vom 2. Mai 2022 setzte das Amtsgericht Deggendorf die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe jeweils aus dem Urteil vom 2. Dezember 2019 zur Bewährung aus. Die Dauer der Bewährung sowie der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht wurde auf jeweils drei Jahre festgesetzt. Es wurden Weisungen für die Führungsaufsicht und für die Bewährung erteilt, unter anderem die strafbewehrte Weisung (Nr. 8 Buchst. d): „Er hat sich jeglichen Konsums von Alkohol und illegaler Drogen nach dem Betäubungsmittelgesetz, synthetischer Cannabinoide, von Substanzen nach dem Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz sowie verschreibungspflichtiger Medikamente ohne ärztlich Verordnung zu enthalten. (§ 68b Abs. 1 Ziffer 10 StGB)“. Aufgrund der Stellungnahme des Bezirksklinikums und der Äußerung der Staatsanwaltschaft sei nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände jetzt zu erwarten, dass der Verurteilte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.
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Mit Beschluss vom 4. August 2022 (10 ZB 22.740) hat der Senat die Berufung des Klägers wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zugelassen.
36
In der Berufungsbegründung vom 18. August 2022 wurde (erneut) dargelegt, dass vom Kläger keine Wiederholungsgefahr mehr ausgehe, und hierzu insbesondere auf die Berichte und Stellungnahmen des Bezirksklinikums ... und auf den Bewährungsbeschluss verwiesen.
37
Mit Schreiben vom 18. August 2023 übersandte die Bevollmächtigte des Klägers – nach Aufforderung des Gerichts – einen Bericht der Bewährungshilfe vom 14. August 2023. Hierin heißt es, der Kläger werde seit Mai 2022 betreut; die Kontakte fänden in der Regel einmal im Monat statt. Er wohne bei seiner Mutter und absolviere seine Ausbildung weiter. Er habe die Weisung, Nachsorgetermine bei der Forensischen Ambulanz des ...-Klinikums ... wahrzunehmen. Im Bewährungsverlauf sei es dem Kläger „nicht immer“ gelungen, auf den Konsum von Suchtmitteln zu verzichten. Um die Rückfälle zu besprechen, hätten am 12. Mai 2023 und am 25. Juni 2023 Helferkonferenzen stattgefunden. Ziel sei es gewesen, Strategien zum besseren Umgang mit Krisensituationen zu erarbeiten; zudem seien verschiedene Maßnahmen vereinbart worden, um erneute Rückfälle zu vermeiden und den Probanden zu stabilisieren. Am 7. Juni 2023 habe der Leiter der Führungsaufsichtsstelle Strafantrag wegen Weisungsverstoßes nach § 145a StGB gestellt; es habe sodann ein Anhörungstermin beim Amtsgericht München am 5. Juli 2023 stattgefunden, ein weiterer Anhörungstermin werde am 18. August 2023 stattfinden. Der Betreuungsverlauf könne als „durchwachsen“ angesehen werden. Negativ seien vor allem die Suchtmittelrückfälle zu bewerten. Gleichzeitig falle es dem Kläger schwer, seine Termine pünktlich einzuhalten. Positiv hervorzuheben sei, dass er weitestgehend zuverlässig den Kontakt zu Bewährungshilfe und Forensischer Ambulanz halte. Als protektive Faktoren seien seine Ausbildung, das damit verbundene Einkommen sowie die nach seinen Angaben gute Beziehung zu seiner Mutter und seinem Halbbruder anzusehen. Eigenen Angaben nach sei er im sozialen Bereich integriert und habe Kontakt zu Freunden, die keine Drogen konsumieren.
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Mit Schriftsatz vom 17. August 2023 trug die Beklagte vor, die im erstinstanzlichen Urteil angenommene Wiederholungsgefahr sei keineswegs entfallen. Der Kläger sei drogenrückfällig, verstoße gegen eine strafbewehrte Weisung der Führungsaufsicht und halte sich ohne einen gültigen Nationalpass im Bundesgebiet auf. Das Landgericht werde in Kürze über einen eventuellen Bewährungswiderruf bzw. eine Krisenintervention (befristeter erneuter Maßregelvollzug) verhandeln. Ferner sei der Kläger von der Staatsanwaltschaft wegen des Verstoßes gegen eine Weisung angeklagt. Auch wenn das Ergebnis beider Verfahren noch ausstehe, sei der wesentliche Kern des Sachverhalts hinreichend aktenkundig und werde auch vom Kläger eingeräumt.
39
Bereits zum Erstgespräch mit der Bewährungshelferin sei der Kläger nicht erschienen. Beim zweiten Gespräch habe er mitgeteilt, mit Cannabis rückfällig geworden zu sein. Innerhalb von ca. 14 Tagen nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug am 13. Mai 2022 sei am 3. Juni 2022 eine Urinprobe THCpositiv gewesen. Am 9. August 2023 habe die Forensische Ambulanz die Testergebnisse übersandt. In mindestens 32 Fällen (zwischen 29.5.2022 und 1.8.2023) seien die Testergebnisse positiv gewesen (THC, Alkohol, Kokain u.a.). Lediglich im Zeitraum von Mitte Juli 2022 bis Mitte März 2023 scheine der Kläger auf Drogen und Alkohol verzichtet zu haben.
40
Laut dem Protokoll des Anhörungstermins beim Amtsgericht am 5. Juli 2023 habe der Kläger die Angaben der Forensischen Nachsorgeambulanz zu den Drogenrückfällen bestätigt. Er habe angegeben, noch kurz vor dem Termin Kokain und Alkohol konsumiert zu haben. Sein großes Problem sei der Alkohol.
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Auch nach einer zweijährigen Therapie, einer mehr als einjährigen ambulanten Nachsorge und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens sowie einer Bewährungs- und Führungsaufsicht scheine der Kläger nicht in der Lage zu sein, auf Drogen zu verzichten. Grundsätzlich sei verständlich, dass die Sorge, in sein Heimatland zurückkehren zu müssen, auch eine seelische Belastung darstellen könne. Insbesondere sei aber zu sehen, dass er mit enormem Aufwand therapiert worden sei, seine Ausbildungsfirma ihn nach der Inhaftierung erneut eingestellt habe und die Berufung zugelassen worden sei. Gleichwohl scheine der Kläger nicht in der Lage zu sein, sein Verhalten zu ändern. Die Sachlage scheine sich zunehmend zu verschärfen; der Kläger sei zunächst mit Cannabis rückfällig geworden, in den letzten Monaten aber auch mit Kokain, zuletzt sei Alkohol hinzugekommen. Die Prognose in der Bewährungsentscheidung des Amtsgerichts Deggendorf sei damit offenkundig überholt. Mittlerweile sei der Kläger weder minderjährig noch heranwachsend, sondern 23 Jahre alt.
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Mit Schreiben vom 2. Januar 2024 wurden die Beteiligten vom Gericht unter Hinweis auf § 87b Abs. 2 VwGO zu weiterem Sachvortrag aufgefordert.
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Mit Schriftsatz vom 24. Januar 2024 teilte die Beklagte mit, die Sachlage habe sich seit der letzten Stellungnahme nochmals verändert; die Entwicklung scheine zu eskalieren. Das ...-Klinikum stelle inzwischen eine erhebliche Wiederholungsgefahr fest und habe die Erledigung des Maßregelvollzugs vorgeschlagen. Hierzu solle am 2. Februar 2024 eine weitere Anhörung vor dem Amtsgericht München stattfinden. Mehrere Alkohol- bzw. Drogentests seien positiv ausgefallen.
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In der Nacht vom 3. auf den 4. November 2023 habe der Kläger in erheblichem Umfang Alkohol konsumiert und sodann unter Alkoholeinfluss (1,58 Promille) und ohne eine Fahrerlaubnis zu besitzen ein Kraftfahrzeug geführt. Am 14. Dezember 2023 sei Anklage erhoben worden. Am 31. Dezember 2023 habe er in einem Zug unter erheblichem Alkoholeinfluss (1,5 Promille) Mitreisende beleidigt und bedroht.
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Damit habe sich der Kläger nicht nur nicht für ausreichende Zeit „in Freiheit bewährt“, vielmehr zeige sich seit etwa einem halben Jahr eine eskalierende Entwicklung. Die Entwicklung der letzten Monate sei gekennzeichnet durch anfänglichen THC-Konsum, später Kokain- und schließlich Alkoholkonsum. Während es zunächst nur um Konsum gegangen sei, zeige der Kläger nun auch ein Verhalten, das erhebliche Risiken für Dritte beinhalte, wie Autofahren unter erheblichem Alkoholeinfluss und massive Bedrohung aus nichtigem Grund.
46
Eine vorgelegte „Stellungnahme zum Verlauf“ des ...-Klinikum Region ..., Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, vom 21. November 2023, in deren Forensischer Nachsorgeambulanz der Kläger seit seiner Entlassung aus dem Bezirksklinikum ... betreut worden war, kommt nach eingehender Begründung zu dem Ergebnis: Derzeit sei von einer erhöhten Gefahr für die Begehung neuer Straftaten auszugehen. Der Kläger konsumiere erneut Alkohol; er gehe erneut in Clubs und es sei bereits zu zwei neuen Straftaten (Alkohol am Steuer und Fahren ohne Fahrerlaubnis) gekommen. Hinsichtlich der Aussicht auf Erfolg der aktuellen Maßregel sei es als prognostisch besonders ungünstig zu bewerten, dass er die aktuellen Alkoholrückfälle nicht offen angesprochen und erst nach der Konfrontation mit den Befunden eingeräumt habe. Die zwei richterlichen Anhörungen in der Vergangenheit hätten nur vorübergehend einen Erfolg gezeigt. Die regelmäßigen und intensiven Kontrollen sowie Gespräche in der Ambulanz hätten ihn nicht davon abgehalten, Alkohol und Drogen zu konsumieren. Die vorgeschlagenen ambulanten Maßnahmen seien von ihm nicht in Anspruch genommen worden. Nach aktueller Einschätzung liege die Ursache hierfür primär in der mangelnden Abstinenzmotivation sowie dem fehlenden Problembewusstsein des Patienten. Die Maßnahmen der forensischen Ambulanz seien ausgeschöpft, eine langfristige Verhaltensänderung hin zu einem rückfall- und straffreien Leben habe nicht erreicht werden können, da der Patient nicht in ausreichendem Maß auf die Interventionen angesprochen habe. Aus forensisch-therapeutischer Sicht werde daher eine Erledigung der Maßregel gem. § 67d Abs. 5 StGB empfohlen.
47
Die Klägerseite hat sich nicht mehr geäußert.
48
In der mündlichen Verhandlung des Senats am 19. Februar 2024 wurde die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten eingehend erörtert und der Kläger persönlich angehört.
49
Die Klägerseite beantragte,
50
das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 24. Februar 2022 und den Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 2020 in der Fassung der Änderung vom 24. Februar 2022 aufzuheben.
51
Die Beklagte beantragte,
52
die Berufung zurückzuweisen.
53
Der beteiligte Vertreter des öffentlichen Interesses stellte keinen eigenen Antrag.
54
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen und der Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

55
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der angefochtene Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 10. Juni 2020 in der Fassung der Änderung vom 24. Februar 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
56
Gegenstand der Klage sind die gegen den Kläger mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Ausweisung, der Erlass eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie die Androhung der Abschiebung.
57
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der der Entscheidung des Senats (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11).
58
Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an seiner Ausreise mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
59
Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergibt sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen.
60
a) Anlass der Ausweisung ist das Urteil des Landgerichts München I vom 2. Dezember 2019, mit dem der Kläger wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in vier tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gemeinschaftlichem versuchtem Totschlag zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten verurteilt und außerdem seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde. Damit hat der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG verwirklicht. Die mit der Verwirklichung des genannten Ausweisungsinteresses indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG besteht auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats fort, weil eine Wiederholungsgefahr besteht und vom Kläger somit nach wie vor eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
61
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.4.2021 – 10 B 19.1716 – juris Rn. 64; U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 28; U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
62
Nach diesem Maßstab geht vom Kläger nach der Überzeugung des Senats aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens (§ 108 Abs. 1 VwGO) auch in Zukunft eine Wiederholungsgefahr aus.
63
Nach den Feststellungen in dem genannten Strafurteil waren beim Kläger schädliche Neigungen zu erkennen. Es bestehe eine erhebliche Abhängigkeit von Alkohol und Marihuana. Die Taten zeigten Symptomcharakter für vorliegende Erziehungsdefizite und die daraus resultierende Gefahr der Begehung weiterer ähnlicher Taten. Gegenüber dem Kläger wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet, weil die Kammer, gestützt auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen, der Überzeugung war, dass er unter einem Hang im Sinn des § 64 StGB leide, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, welcher für die verfahrensgegenständliche Tat ursächlich geworden sei und darüber hinaus im Falle unveränderten Suchtverhaltens auch für die Zukunft weitere erhebliche Straftaten besorgen lasse.
64
Der Maßregelvollzug verlief zwar nach den vorgelegten Berichten des Bezirksklinikums ... zunächst durchaus positiv, wenngleich ein einmaliger Konsum von Cannabinoiden zu verzeichnen war. Dem Kläger gelang es auch beruflich wieder Fuß zu fassen und seine Berufsausbildung wieder aufzunehmen. Mit Beschluss vom 2. Mai 2022 setzte das Strafvollstreckungsgericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe jeweils aus dem Urteil vom 2. Dezember 2019 zu Bewährung aus.
65
Jedoch hat der Kläger die in ihn gesetzte Erwartung des Strafvollstreckungsgerichts, er werde „außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen“, nicht erfüllt. Schon der Bericht der Bewährungshilfe vom 14. August 2023 bezeichnet den bisherigen Betreuungsverlauf als „durchwachsen“; dem Kläger sei es „nicht immer“ gelungen, auf den Konsum von Suchtmitteln zu verzichten. Schon hier ist die Rede von „Suchtmittelrückfällen“ und einer gewissen Unzuverlässigkeit des Klägers, vereinbarte Termine einzuhalten.
66
In der Nacht zum 4. November 2023 fiel der Kläger als Führer des Kraftfahrahrzeugs seiner Mutter durch unsichere Fahrweise auf. Bei der Kontrolle gab er sofort zu, keine Fahrerlaubnis zu besitzen und am Abend Alkohol getrunken zu haben. Eine Blutprobe ergab 1,58 Promille. Die Staatsanwaltschaft München I hat mit Anklageschrift vom 14. Dezember 2023 Anklage wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis erhoben. Ebenso wurde der Kläger am 31. Dezember 2023 nach einem Vorfall im ICE von Hannover nach Berlin, bei dem er erheblich alkoholisiert war, wegen Beleidigung sowie Bedrohung von zwei Mitreisenden angezeigt.
67
Schließlich ergibt sich aus der „Stellungnahme zum Verlauf“ des kbo-...-Klinikum Region ..., Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, vom 21. November 2023 letztlich das Scheitern der Therapie; die Klinik empfiehlt die „Erledigung der Maßregel gem. § 67d Abs. 5 StGB“. In dem ausführlichen Bericht wird eingehend beschrieben, dass der Kläger – wie sich aus Laborwerten wie auch aus seinen eigenen Angaben ergibt – in den letzten Monaten wieder erheblich Alkohol, Kokain und THC konsumiert habe und schließlich auch zu weiteren Therapiemaßnahmen nicht mehr bereit gewesen sei. In der „Gefährlichkeitsprognose“ kommt der Bericht des Klinikums zu einem hohem Rückfallrisiko; es sei von einer „erhöhten Gefahr für die Begehung neuer Straftaten“ auszugehen. Die Ursache liege primär in der mangelnden Abstinenzmotivation und dem fehlenden Problembewusstsein des Klägers. Die Maßnahmen der forensischen Ambulanz seien ausgeschöpft, eine langfristige Verhaltensänderung hin zu einem rückfall- und straffreien Leben habe nicht erreicht werden können.
68
Aus alldem ergibt sich das Scheitern einer zunächst nicht aussichtslos erscheinenden Alkohol- und Drogentherapie und ebenso die fortdauernde Gefahr weiterer, unter Alkohol- und/oder Drogeneinfluss begangener Straftaten, insbesondere von Gewaltdelikten. Bereits bei der Anlasstat handelte es sich um versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzungen, die eine erhebliche Gewaltbereitschaft und hohe Brutalität unter Alkohol- und Drogeneinfluss erkennen lassen. Dementsprechend hat die Klägerseite auch in der mündlichen Verhandlung erklärt, zur Gefahrenprognose nichts mehr vortragen zu wollen.
69
b) Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
70
Eine Ausweisung kann regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 3). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 33 m.w.N.).
71
Gemessen daran besteht im Falle des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Gerade bei den abgeurteilten Gewalttaten können nach allgemeiner Lebenserfahrung aufenthaltsbeendende Maßnahmen eine generalpräventive Wirkung entfalten.
72
Dieses generalpräventive Ausweisungsinteresse ist auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, grundsätzlich eine untere Grenze. Da der hier insbesondere im Raum stehende (versuchte) Totschlag (§ 212 Abs. 1 StGB) im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren (und bis zu 15 Jahren, § 38 Abs. 2 StGB) bedroht ist, verjährt er gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 StGB frühestens nach 20 Jahren. Ob eine derart lang andauernde „Aktualität“ eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses in Fällen wie dem vorliegenden tatsächlich zu bejahen ist, kann dahingestellt bleiben. Im Fall des Klägers ist jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses noch zu bejahen. Denn die mit dem Urteil des Landgerichts München I vom 2. Dezember 2019 geahndete Straftat ereignete sich am 4. Januar 2019 und liegt damit lediglich etwa fünf Jahre zurück.
73
c) Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls überwiegt das öffentliche Ausweisungsinteresse die privaten Bleibeinteressen des Klägers.
74
Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
75
Dabei sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 – InfAuslR 2001, 476). Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. bspw. U.v. 27.10.2005 – Nr. 32231/02 – juris Rn. 57 ff.; U.v. 24.11.2009 – Nr. 182/08 – juris; U.v. 25.3.2010 – Nr. 40601/05 – juris Rn. 54 ff.; U.v. 20.9.2011 – Nr. 25021/08 – juris Rn. 57 ff.) kommt eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat für solche Ausländer in Betracht, die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet. Entscheidend ist, ob sich der Ausländer erfolgreich in dem betreffenden Vertragsstaat persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat und aufgrund seiner Entwicklung und des Hineinwachsens in die hiesigen Lebensverhältnisse die Merkmale eines sog. „faktischen Inländers“ ohne deutsche Staatsangehörigkeit aufweist („Verwurzelung“) und ihm wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug hat, nicht zugemutet werden kann (BayVGH, B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 10). Stellt eine Aufenthaltsbeendigung einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK dar, so sind in einer Güterabwägung unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalls das öffentliche Interesse an einer geordneten Einwanderung und der Rückkehr ausreisepflichtiger Ausländer mit dem Schutz des Rechts auf Privatleben abzuwägen (vgl. EGMR, U.v. 8.11.2016 – Nr. 56971/10 – juris; BVerwG, B.v. 14.12.2010 – 1 B 30.10 – juris Rn. 3; U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 3.2.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 9 ff.).
76
Gemessen daran erweist sich die Ausweisung als verhältnismäßig. Im Rahmen der Gesamtabwägung, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der Grundrechte und Wertentscheidungen insbesondere aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, tritt das Interesse des Klägers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet hinter das öffentliche Interesse an seiner Ausreise zurück.
77
Der Kläger erfüllt – wie bereits dargestellt – ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG. Von ihm geht auch in Zukunft eine konkrete Gefahr aus, dass er weiterhin erhebliche Straftaten insbesondere im Bereich der Gewaltkriminalität begehen und dabei gegebenenfalls erhebliche Gefahren für das Leben und die Gesundheit anderer verursachen wird. Zudem besteht ein entsprechendes, besonders schwerwiegendes generalpräventives Ausweisungsinteresse.
78
Das Bleibeinteresse des Klägers wiegt nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG ebenfalls besonders schwer.
79
Für den Kläger spricht außer dem Besitz einer Niederlassungserlaubnis der Umstand, dass er im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist und das Herkunftsland seiner Eltern, Mosambik, nach seinen Angaben nur als „Urlaubsland wie andere“ kennt. Allerdings ist festzustellen, dass trotz des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet eine Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland lediglich in geringem Maße gelungen ist. Er hat zwar im Jahr 2015 den qualifizierenden Hauptschulabschluss erreicht und danach eine Berufsausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik begonnen. Die Ausbildung hat er jedoch bis heute nicht abgeschlossen. Im Dezember 2019 schloss er die Theorie-Abschlussprüfung mit ungenügenden Leistungen ab, die praktische Prüfung konnte er aufgrund seiner Inhaftierung nicht mehr ablegen. Im Rahmen des Maßregelvollzugs konnte er dann die Berufsausbildung wieder aufnehmen und – offensichtlich dank großer Unterstützung seines Ausbildungsbetriebs – fortsetzen. Im Februar 2024 hat er jedoch schließlich die Abschlussprüfung im praktischen Teil nicht bestanden und versucht, diese in einigen Monaten zu wiederholen. Eine Integration in den Arbeitsmarkt ist somit nicht gelungen.
80
Der Kläger hat bereits als Jugendlicher mit dem Konsum von Alkohol und verschiedenen Drogen, darunter Kokain, begonnen und einen schädlichen Gebrauch entwickelt. Bereits vor den Taten, die mit dem Urteil vom 2. Dezember 2019 geahndet worden sind, ist er wegen Betäubungsmittel-, Diebstahls-, Leistungserschleichungs- und Sachbeschädigungsdelikten in Erscheinung getreten, die teilweise Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz nach sich gezogen haben. Die ihm im Rahmen des Maßregelvollzugs eingeräumte Möglichkeit, durch umfangreiche therapeutische Maßnahmen seine Alkohol- und Drogensucht zu bewältigen, hat er nicht genutzt; die Maßnahmen scheiterten letztlich an seiner mangelnden eigenen Bereitschaft.
81
Hinsichtlich seiner familiären Bindungen macht der Kläger im Wesentlichen die Beziehungen zu seiner Mutter und seinem älteren Bruder geltend, auf die der Kläger aber bei der Lebensführung ebenso wenig angewiesen ist, wie diese auf ihn, zumal der Bruder offenbar in B. lebt. Die Mutter ist trotz eines früheren Schlaganfalls als Altenpflegerin berufstätig. Eine eigene Kernfamilie hat der Kläger nicht.
82
Auf der anderen Seite ist der Senat aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass den Kläger mit dem Land seiner Staatsangehörigkeit, Mosambik, noch mehr verbindet als nur das formale Band der Staatsangehörigkeit. Der Kläger hat angegeben, seine Portugiesischkenntnisse erlaubten es ihm, sich im Alltag mündlich zu verständigen, lediglich bei Schriftstücken, etwa bei behördlichen Schreiben, habe er erhebliche Verständnisprobleme. Damit ist also davon auszugehen, dass er sich in Mosambik jedenfalls im Alltag verständigen kann, und es ist ihm zuzumuten, seine portugiesischen Sprachkenntnisse entsprechend auszubauen. Auch besitzt er durch seine dortigen Verwandten zumindest eine erste Anlaufstelle.
83
Auch der Hinweis, dass der Kläger an einer Suchterkrankung leide, die in Deutschland weiter behandelt werden solle, um ihm die Möglichkeit zu eröffnen, diese Krankheit zu überwinden und seine Berufsausbildung erfolgreich abzuschließen, macht eine Rückkehr nach Mosambik nicht unzumutbar. Dem Kläger wurde zeit- und kostenaufwendig – die Beklagte nennt einen Kostenaufwand für die stationäre Therapie von ca. 190.000 Euro – die Möglichkeit eingeräumt, seine Suchterkrankung zu therapieren und von seiner Sucht loszukommen, er hat sie jedoch nicht genutzt. Ebenso ist nicht absehbar, dass der Kläger nach nunmehr etwa 10 Jahren seine Berufsausbildung noch in absehbarer Zeit abschließen kann.
84
Bei der Gesamtabwägung der genannten für und gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechenden Umstände überwiegt insbesondere aufgrund der besonderen Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten und der weiterhin von ihm ausgehenden Gefahr weiterer Straftaten das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Bleibeinteressen des Klägers.
85
d) In Folge der Rechtmäßigkeit der Ausweisung erweisen sich auch die im angegriffenen Bescheid weiter verfügten Maßnahmen (Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sowie Anordnung bzw. Androhung der Abschiebung nach § 59 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 AufenthG) als rechtmäßig. Insoweit verweist der Senat auf die Gründe des angegriffenen Bescheides und sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 5 VwGO). Insbesondere sind hinsichtlich der Befristungsentscheidung des Beklagten nach § 11 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 5 AufenthG Ermessenfehler nicht ersichtlich. Die Fristdauer von (zuletzt) drei bzw. fünf Jahren hält sich Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des § 11 Abs. 5 AufenthG und ist auch unter Berücksichtigung der Entwicklung des Klägers bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die Schwere der von ihm begangenen Straftaten und das dadurch ausgelöste spezial- und generalpräventive Ausweisungsinteresse nicht unangemessen.
86
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
87
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
88
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.