Inhalt

VGH München, Urteil v. 07.05.2024 – 11 B 23.1992
Titel:

Verbot des Radfahrens auf einer öffentlichen Straße

Normenketten:
StVO § 45 Abs. 9 S. 3
BayGO Art. 29, Art. 37 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
VwGO § 60 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Annahme der Behörde für das Vorliegen einer besonderen Gefahrenlage nach § 45 Abs. 9 S. 3 StVO ist gerichtlich voll überprüfbar. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Sofern sich eine qualifizierte Gefahrenlage weder aus dem Gefälle des betroffenen Streckenabschnitts noch aus dessen Ausbauzustand, der von der Behörde angenommenen Unübersichtlichkeit, der Verkehrsbelastung oder den Unfallzahlen und auch nicht aus der Gesamtschau dieser Umstände ergibt, ist ein Verbot für den Radverkehr (Verkehrszeichen 254) rechtswidrig. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verbot für den Radverkehr in eine Fahrtrichtung auf einer Gemeindeverbindungsstraße qualifizierte Gefahrenlage (Gefälle, Ausbauzustand, Unübersichtlichkeit, Verkehrsbelastung, Unfallzahlen), Organzuständigkeit des Gemeinderats, Versäumung der Berufungsbegründungfrist, Wiedereinsetzung aufgrund einer plötzlichen Erkrankung des Prozessbevollmächtigten, Radfahren, besondere Gefahrenlage, Gefälle, Unfallzahlen, Verkehrszeichen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, unverschuldete Fristversäumung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 18.01.2023 – M 23 K 20.1787
Fundstellen:
BayVBl 2024, 629
ZfS 2024, 534
NZV 2024, 496
NJW 2024, 3083
DÖV 2024, 890
BeckRS 2024, 12011
LSK 2024, 12011

Tenor

I. Dem Kläger wird für die Frist zur Berufungsbegründung Wiederein- setzung in den vorigen Stand gewährt.
II. Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 18. Januar 2023 (M 23 K 20.1787) wird das von der Beklagten angeordnete Verbot für den Radverkehr in der Mühlstraße aufgehoben.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
IV. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen das Verbot des Radfahrens auf einer öffentlichen Straße.
2
Die M. straße im Gemeindegebiet der Beklagten hat eine Gesamtlänge von ca. 2,35 km und ist die direkte Verbindung zwischen den Ortsteilen St. und Mü.. Sie ist durchgehend asphaltiert und verläuft ab der S. straße 2072 (T. Straße) im Ortsteil St. bis zu einem Wanderparkplatz auf einer Länge von ca. 1,35 km weitgehend flach und ab dort auf einer verbleibenden Länge von ca. 1 km mit einem Höhenunterschied von ca. 70 m abwärts zum Isarkanal (Ortsteil Mü.), wo sich eine Gaststätte mit sog. Floßrutsche befindet. Ca. 400 m davor und noch im Bereich des Gefälles mündet von rechts aus nördlicher Richtung kommend der als F.weg ausgeschilderte I.weg ein, der sich ab dem Ende der M. straße Richtung Süden auf der K. straße fortsetzt, die nach ca. 2,6 km in die S. straße 2071 einmündet. Gewidmet ist die M. straße laut Eintragungsverfügung vom 22. August 1961 vom Ortsteil St. aus auf einer Länge von ca. 630 m als O. straße und ab dort bis zum Isarkanal als Gemeindeverbindungsstraße mit der Widmungsbeschränkung ‚gesperrt für Kfz, ausgenommen Anlieger‘.
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Derzeit sind auf der M. straße im Bereich des Wanderparkplatzes in Richtung Isarkanal folgende Verkehrszeichen angebracht: ‚Verbot für Kraftfahrzeuge‘ (Vz. 260) mit den Zusatzzeichen ‚Land- und forstwirtschaftlicher Verkehr frei‘, ‚Anlieger frei‘ sowie ‚Seitenstreifen nicht befahrbar‘. Auf der Fahrbahn ist als Piktogramm das Verkehrszeichen ‚Verbot für Radverkehr‘ (Vz. 254) aufgebracht. Dahinter befinden sich am rechten Fahrbahnrand folgende Verkehrszeichen: ‚18% Gefälle‘ (Vz. 108), ‚Verbot für Radverkehr‘ (Vz. 254) mit Zusatzzeichen ‚600 m Länge‘ sowie ‚zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km/h‘ (Vz. 274). Rechts daneben ist ein Hinweisplakat aufgestellt mit einem stürzenden Radfahrer als Piktogramm und dem Text: „UNFALLGEFAHR! Abfahrt für Radlfahrer verboten! Gemeinde St.-Dingharting“. Am linken Fahrbahnrand befindet sich als Umleitungsbeschilderung ein Richtzeichen für Radfahrer mit einem Rechtspfeil (Vz. 422). Bei der Einmündung des Isarradwegs in die M. straße befinden sich folgende Verkehrszeichen am rechten Fahrbahnrand: ‚zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km/h‘ (Vz. 274) und ‚Verbot für Radverkehr‘ (Vz. 254) mit Zusatzzeichen ‚Ende‘. Bergauf in Richtung St. ist das Radfahren auf der M. straße zulässig.
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Nach den von der Beklagten vorgelegten Akten besteht das Verbot seit dem Jahr 1993. Aufgrund eines Beschlusses des Gemeinderats vom 23. Juni 1993 ordnete der damalige erste Bürgermeister der Beklagten am 14. Juli 1993 für die „Zufahrt zum Mü.“ unter anderem die Aufstellung des Verkehrszeichens 254 (Verbot für Radfahrer) an. Der Anordnung ist eine Skizze beigefügt, nach der das Verkehrszeichen auf Höhe des sogenannten Wanderparkplatzes aufgestellt werden soll.
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Aufgrund mehrerer Zuschriften von Radfahrenden wurde das Verbot nach vorheriger Beratung im Bauausschuss am 26. Juni 2019 erneut im Gemeinderat der Beklagten behandelt und von diesem beschlossen, den Vorschlag zur Aufhebung des Fahrverbots für Radfahrer abzulehnen, das Verbot mit einer vorgelagerten Beschilderung am Beginn der M. straße anzukündigen, die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Bereich verschiedener Abschnitte auf 30 bzw. 20 km/h zu begrenzen und die Aufnahme der Strecke in die kommunale Verkehrsüberwachung zu prüfen. Mit Verfügung vom 11. Juli 2019 ordnete die Beklagte die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf 30 bzw. 20 km/h und die entsprechende Beschilderung an. Die Straße beinhalte einen Abschnitt mit einem Gefälle von 18%, weise deutliche Kurven auf und sei an manchen Streckenstellen weniger als 4 m breit. Wegen der Ausflugsziele ‚Gasthaus zur M.‘ und der Floßrutsche sei das Verkehrsaufkommen durch motorisierte Fahrzeuge und Fußgänger hoch. Am 12. Juli 2019 ordnete der erste Bürgermeister der Beklagten die Bekanntmachung der Anordnung an. Mit Anordnung vom 31. Oktober 2019 erhöhte die Beklagte die zulässige Höchstgeschwindigkeit nach Beschlussfassung im Gemeinderat vom 23. Oktober 2019 auf insgesamt 30 km/h.
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Mit Schreiben vom 24. April 2020 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage gegen das Radfahrverbot. Er sei Radfahrer und von dem Verbot zum ersten Mal im Mai 2019 betroffen worden. Das Verbot werde praktisch von allen Radfahrern ignoriert, da keine geeignete und hinreichend beschilderte Umfahrung existiere. Das zunächst starke Gefälle nehme im Verlauf der gesperrten Strecke deutlich ab. Der von der Beklagten erwähnte tödliche Unfall im Jahr 2014 habe sich im unteren Abschnitt der Straße ereignet, in dem kein Radfahrverbot gelte. Der gestürzte Radfahrer habe beide Hände vom Lenker genommen, um sich während der Fahrt eine Jacke anzuziehen.
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Nach Durchführung eines Augenscheins hat das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 18. Januar 2023 abgewiesen. Die Klage sei zulässig. Der Kläger sei als Radfahrer klagebefugt und habe angegeben, im Mai 2019 zum ersten Mal auf das Verkehrszeichen getroffen zu sein. Die Klage sei jedoch unbegründet. Das Verkehrsverbot sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte habe 2019 eine erneute, die ursprüngliche Anordnung aus dem Jahr 1993 bestätigende Anordnung im Wege eines Zweitbescheids getroffen, bei der sie auch das Radfahrverbot inhaltlich überprüft und aufrechterhalten habe. Die Anordnung sei keine laufende Angelegenheit der Gemeinde und daher nicht deren Bürgermeister, sondern der Gemeinderat zuständig. Die Tatbestandsvoraussetzungen für das Radfahrverbot seien erfüllt. Es bestehe eine Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko für Unfälle erheblich übersteige. Am Beginn des Radfahrverbots führe die Straße in einer scharfen Linkskurve nach Süden. Die Sicht sei hier eingeschränkt. In diesem Bereich weise die Straße mit 18% das größte Gefälle auf. Radfahrer würden aufgrund des starken Gefälles zu Beginn der Strecke ein hohes Tempo aufnehmen und die Strecke in diesem Tempo abfahren, wobei für zahlreiche andere Verkehrsteilnehmer gerade im Sommer, namentlich Fußgänger, keine Ausweichmöglichkeit bestehe. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit für Radfahrer, im weiteren flacheren und besser einsehbaren Verlauf der Strecke wieder aufzusteigen, sei es sachgerecht, das Radfahrverbot erst an der Einmündung des Isarradwegs aufzuheben. Das erhöhte Unfallrisiko werde auch durch die von der Beklagten und der Polizei berichteten teils schweren Unfälle belegt. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung allein sei nicht geeignet, schwere Fahrradunfälle zu vermeiden. Auch die Streckenlänge des nur bergab angeordneten Radfahrverbots sei angemessen. Radfahrern sei zuzumuten, das Fahrrad in diesem Bereich zu schieben. Die Beklagte habe ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt.
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Auf Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 7. November 2023, den Bevollmächtigten des Klägers und der Beklagten jeweils am 9. November 2023 zugestellt, wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen.
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Mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2023 beantragte der Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Berufungsbegründung. Sein Prozessbevollmächtigter führt aus, er habe die Frist zur Einreichung des bereits vorformulierten Schriftsatzes am Montag, 11. Dezember 2023 nicht einhalten können, weil er an diesem Tag nachmittags nach einem Gerichtstermin in seinen Kanzleiräumen einen Kreislaufzusammenbruch erlitten habe. Er sei Einzelanwalt und habe aufgrund der sehr kurzfristigen Abläufe am Vortag die mit einem anderen Einzelanwalt grundsätzlich vereinbarte Vertretung nicht mehr in Anspruch nehmen können. Zur Begründung der Berufung wird ausgeführt, das Radfahrverbot sei formell rechtswidrig, da es 1993 durch den ersten Bürgermeister und nicht durch den zuständigen Gemeinderat angeordnet worden sei. Dieser habe auch 2019 keinen Zweitbescheid erlassen. Das Verbot sei auch materiell rechtswidrig. Es sei darauf gerichtet, den Radverkehr als primäre Verkehrsart auf der Straße dauerhaft und zeitlich unbefristet auszuschließen. Hierfür fehle es trotz der dokumentierten Unfälle an einer qualifizierten Gefahrenlage. Abfahrten wohne immer eine gewisse abstrakte Gefährlichkeit inne, die jedoch zum Risiko der Verkehrsteilnahme gehöre. Ein Unfall im Januar 2022 sei auf eine gebrochene Sattelstütze zurückzuführen und habe keinen Bezug zu den örtlichen Gegebenheiten. Andere Unfälle hätten sich außerhalb des gesperrten Abschnitts ereignet; der genaue Hergang weiterer Unfälle lasse sich nicht rekonstruieren. Das Verbot sei auch unverhältnismäßig.
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Der Kläger beantragt,
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unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 18. Januar 2023 das von der Beklagten angeordnete Verbot für den Radverkehr in der M.ühl straße aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei abzulehnen, weil der Klägerbevollmächtigte nicht durch Vorlage eines ärztlichen Attests glaubhaft gemacht habe, die Frist zur Einlegung der Berufungsbegründung aufgrund einer Erkrankung unverschuldet nicht eingehalten zu haben. Es fehle auch an der Darlegung einer geeigneten Notfallvorsorge. Die Berufung sei auch unbegründet. Das Verbot für den Radverkehr sei formell und materiell rechtmäßig. Die Anordnung sei 1993 vom Gemeinderat als zuständigem Organ der Beklagten erlassen worden. Auch 2019 habe sich der Gemeinderat mit dem Verbot nochmals inhaltlich ausführlich auseinandergesetzt und nach eingehender Prüfung entschieden, die Aufhebung abzulehnen. Das Verbot diene der Abwendung von Gefahren sowohl für die Radfahrer selbst als auch für Dritte, die durch Radfahrer gefährdet würden. Es hätten sich auf der Strecke teilweise sehr schwere Unfälle ereignet, davon sogar einer mit Todesfolge. Dabei würden der Beklagten nicht alle Unfälle bekannt. Diese habe auch ihr Ermessen sachgerecht ausgeübt.
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Zur örtlichen Situation im Bereich des Radfahrverbots hat der Senat Beweis erhoben durch Einnahme eines Augenscheins. Auf die hierzu gefertigte Niederschrift mit Fotodokumentation wird Bezug genommen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zulässige Berufung ist begründet. Auf dem fraglichen Streckenabschnitt besteht keine qualifizierte Gefahrenlage, die die von der Beklagten angeordnete Maßnahme rechtfertigen würde. Das Verbot für den Radverkehr ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
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1. Klage und Berufung sind zulässig.
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a) Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Berufungsbegründung zu gewähren.
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aa) Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 7. November 2023 zugelassen und den Kläger als Berufungsführer darüber belehrt, dass die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen ist (§ 124 Abs. 6 Satz 1 VwGO). Auf die Möglichkeit einer Fristverlängerung (§ 124 Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 VwGO) hat der Senat ebenfalls hingewiesen. Da der Beschluss dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 9. November 2023 zugestellt wurde, lief die Frist für die Berufungsbegründung am Montag, den 11. Dezember 2023 ab (§ 58 Abs. 1, § 57 Abs. 1, Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1, Abs. 2 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB). Innerhalb dieser Frist ist weder eine Berufungsbegründung noch ein Antrag auf Fristverlängerung eingegangen. Die am Folgetag (12.12.2023) eingereichte Berufungsbegründung war daher um einen Tag verspätet.
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bb) Dem mit der Berufungsbegründung gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist stattzugeben.
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(1) War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 60 Abs. 1 VwGO). Ein Verschulden des anwaltlichen Vertreters ist als eigenes Verschulden des durch diesen vertretenen Beteiligten anzusehen (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO). Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist – wie hier geschehen – bei Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO) und die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachzuholen (§ 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
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Unverschuldet ist die Fristversäumung eines Anwalts, wenn er unmittelbar vor Fristablauf plötzlich und unvorhergesehen erkrankt und aus diesem Grund einen Schriftsatz nicht mehr rechtzeitig fertigstellen und einreichen kann (Stackmann in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 233 Rn. 104 m.w.N.). Dies setzt neben der Glaubhaftmachung der (Spontan-)Erkrankung als solche auch die Glaubhaftmachung voraus, dass er für solche Fälle ausreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen hat, aber im konkreten Fall weder einen Vertreter einschalten noch Fristverlängerung beantragen konnte (BGH, B.v. 7.8.2013 – XII ZB 533/10 – NJW 2013, 3183 = juris Rn. 10; Stackmann a.a.O. Rn. 100). Es muss eine Erkrankung von einiger Schwere vorliegen, die über eine bloße Unpässlichkeit hinausgeht (Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 60 Rn. 76), was grundsätzlich durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft zu machen ist (BayVGH, B.v. 3.5.2022 – 24 CS 22.884 – juris Rn. 7; B.v. 18.7.2011 – 22 ZB 11.1250 – NJW 2011, 3177 Rn. 7; Bier/Steinbeiß-Winkelmann in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand März 2023, § 60 VwGO Rn. 63). Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung dürfen allerdings nicht überspannt werden (vgl. Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, § 60 Rn. 121 m.w.N.). Trägt der Bevollmächtigte glaubhaft vor, dass nachmittags plötzlich aufgetretene gesundheitliche Beschwerden, durch die er an der Fristwahrung gehindert war, am Folgetag abgeklungen waren und er deshalb auch keinen Arzt mehr aufgesucht hat, kann dies im Einzelfall zur Glaubhaftmachung genügen.
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(2) Der Klägerbevollmächtigte hat eine unverschuldete Fristversäumung hinreichend glaubhaft gemacht. Er hat den Schriftsatz zur Berufungsbegründung am 12. Dezember 2023 mit dem entsprechenden Vorbringen zu den Wiedereinsetzungsgründen eingereicht und dies aufgrund der von der Beklagten hierzu erhobenen Einwendungen mit Schriftsatz vom 15. Februar 2024 sowohl hinsichtlich des Krankheitsverlaufs als auch hinsichtlich der für solche Fälle grundsätzlich vorgesehenen Notfallvorsorge nochmals vertieft. Sowohl schriftlich als auch ergänzend in der mündlichen Verhandlung hat er vorgetragen, am 11. Dezember 2023 nachmittags nach einem Gerichtstermin plötzlich erkrankt zu sein. Er sei Einzelanwalt und die Kanzlei an diesem Tag nicht besetzt gewesen. Er habe, möglicherweise aufgrund einer Dehydration, unter Übelkeit, Schwindel, Erbrechen und Kreislaufproblemen gelitten und sich hingelegt. Er sei nicht mehr in der Lage gewesen, den bereits vorbereiteten und mit dem Kläger abgestimmten Schriftsatz zur Begründung der Berufung fertigzustellen und abzusetzen oder einen Fristverlängerungsantrag zu stellen. Auch den Partneranwalt, mit dem er eine gegenseitige Notfallvertretung vereinbart habe, habe er aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung nicht mehr konsultieren können. Als er am nächsten Tag wieder aufgewacht sei, sei es ihm besser gegangen. Nachdem er keine Beschwerden mehr verspürt habe, habe er auch keinen Arzt aufgesucht.
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Wenn die Indisposition – wie hier vorgetragen – erst am Nachmittag des letzten Tags vor Fristablauf unerwartet aufgetreten ist, die Beschwerden aber so gravierend waren, dass der Bevollmächtigte zur Fristwahrung, zur Stellung eines Fristverlängerungsantrags oder zur Konsultierung des für solche Notfälle vorgesehenen Vertreters nicht mehr imstande war, die Beschwerden jedoch am Folgetag abgeklungen waren, ist eine Glaubhaftmachung bei ansonsten stimmigem Vorbringen auch ohne Vorlage eines ärztlichen Attests möglich. Der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Mai 2022 (Az. 24 CS 22.884 – juris), auf die die Beklagte hingewiesen hat, lag eine bereits ca. drei Wochen vor Fristablauf aufgetretene Covid-Erkrankung zugrunde. Damit ist die vorliegende Fallgestaltung, bei der vorgebracht wird, die Beschwerden seien wenige Stunden vor Fristablauf unerwartet aufgetreten und am Folgetag vollständig abgeklungen, nicht vergleichbar. Kreislaufstörungen können durchaus plötzlich und mit gravierenden Beeinträchtigungen auftreten und rasch, insbesondere nach ausreichender Flüssigkeitszufuhr und erholsamem Schlaf, wieder abklingen. Der Klägerbevollmächtigte hat auch die weiteren Voraussetzungen für eine unverschuldete Fristversäumnis, insbesondere die mit der von ihm benannten Partnerkanzlei getroffene Notfallvereinbarung (vgl. BGH, B.v. 16.4.2019 – VI ZB 44/18 – NJW-RR 2019, 1207 Rn. 11), hinreichend glaubhaft gemacht.
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b) Darüber hinaus bestehen hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung oder der Klage keine weiteren Zweifel.
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Der Kläger ist als Radfahrer, der die betroffene Strecke befahren will, daran aber durch das Verbot gehindert wird, in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen und daher klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO). Verkehrsverbote und -gebote durch Verkehrszeichen sind belastende Verwaltungsakte in der Form einer Allgemeinverfügung im Sinne des Art. 35 Satz 2 BayVwVfG mit Geltung für alle betroffenen Verkehrsteilnehmer. Sie werden gemäß Art. 43 BayVwVfG gegenüber demjenigen, für den sie bestimmt sind oder der von ihnen betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie ihm durch Aufstellen des Verkehrszeichens bekannt gegeben werden (BVerwG, U.v. 6.4.2016 – 3 C 10.15 – BVerwGE 154, 365 Rn. 16). Statthafte Klageart gegen ein Verkehrszeichen, das ein Ge- oder Verbot ausdrückt, ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 2 VwGO), die gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO mangels Rechtsbehelfsbelehrunginnerhalb eines Jahres erhoben werden kann, nachdem sich der betroffene Verkehrsteilnehmer erstmals der Regelung gegenübersieht (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.2010 – 3 C 37.09 – BVerwGE 138, 21/24 = juris Rn. 14 ff.; BayVGH, U.v. 3.7.2015 – 11 B 14.2809 – BayVBl 2015, 784 Rn. 17; Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Auflage 2020, Rn. 1124). Der Kläger hat die Klage, wovon auch das Verwaltungsgericht ausgegangen ist, innerhalb eines Jahres seit vorgetragener erstmaliger Wahrnehmung des Verkehrszeichens und damit innerhalb der Jahresfrist eingereicht. Hiergegen hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung keine Einwendungen mehr erhoben. Wann der Kläger das Verkehrszeichen erstmals wahrgenommen hat, lässt sich nicht nachprüfen. Auch der Senat geht mangels gegenteiliger Anhaltspunkte von zutreffendem Vorbringen aus.
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2. Die Berufung ist begründet.
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Der Senat teilt zwar nicht die vom Kläger zunächst erhobenen, zuletzt aber nicht mehr aufrechterhaltenen Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit der von der Beklagten getroffenen Anordnung (a). Allerdings erweist sie sich insbesondere aufgrund der im Berufungsverfahren gewonnen Erkenntnisse als materiell rechtswidrig, weil eine qualifizierte Gefahrenlage nicht erkennbar ist (b). Der Kläger wird hierdurch in seinen Rechten verletzt und hat Anspruch auf Aufhebung des Verbots (c).
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a) Gegen die formelle Rechtmäßigkeit des Verbots für den Radverkehr bestehen keine begründeten Bedenken.
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aa) Das Verbot wurde nach Aktenlage erstmals 1993 erlassen. Dem lag ein Beschluss des Gemeinderats der Beklagten vom 23. Juni 1993 zugrunde, wonach unter anderem für die Beschilderung der Zufahrt zum Mü. „die Aufstellung des Zeichens 254 (Verbot für Radfahrer) angeordnet“ wurde. Hierzu enthalten die Akten die vom damaligen ersten Bürgermeister unterzeichnete Anordnung vom 14. Juli 1993 mit einer Skizze, wonach das Verkehrszeichen am Wanderparkplatz aufzustellen sei. Dies ist nach wie vor der Standort des Verkehrszeichens.
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Am 26. Juni 2019 befasste sich der Gemeinderat der Beklagten erneut mit „Vorschlägen … zur Erhöhung der Verkehrssicherheit der M. straße“ und lehnte unter anderem die Aufhebung des Fahrverbots für Radfahrer mehrheitlich ab, nachdem sich zuvor bereits der Bauausschuss am 5. Juni 2019 gegen die Aufhebung ausgesprochen hatte.
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Der Gemeinderat der Beklagten war und ist zuständiges Organ für die Entscheidung über das Verbot bzw. dessen Aufrechterhaltung. Nach Art. 29 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung – GO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. August 1998 (GVBl S. 796), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juli 2023 (GVBl S. 385, 586), wird die Gemeinde durch den Gemeinderat verwaltet, soweit nicht die erste Bürgermeisterin oder der erste Bürgermeister selbständig entscheidet. In eigener Zuständigkeit erledigt die erste Bürgermeisterin oder der erste Bürgermeister unter anderem laufende Angelegenheiten, die für die Gemeinde keine grundsätzliche Bedeutung haben und keine erheblichen Verpflichtungen erwarten lassen (Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO). Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen laufenden Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit des ersten Bürgermeisters fallen, und bedeutsamen Angelegenheiten, über die der Gemeinderat zu entscheiden hat, ist vor allem die Größe der Gemeinde (vgl. BayVGH, U.v. 22.7.2009 – 12 BV 09.508 – BayVBl 2010, 174 = juris Rn. 18).
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Davon ausgehend kann hier eine Organzuständigkeit des Gemeinderats angenommen werden. Von der Möglichkeit, gemäß Art. 37 Abs. 1 Satz 2 GO für die laufenden Angelegenheiten Richtlinien aufzustellen, hat der Gemeinderat der Beklagten keinen Gebrauch gemacht. Erstinstanzlich hat deren erster Bürgermeister in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, die verkehrsrechtlichen Anordnungen seien Sache des Gemeinderats. Für die streitgegenständliche Anordnung ist dies jedenfalls zutreffend. Bei der Beklagten handelt es sich um eine Gemeinde mit ca. 3.300 Einwohnern. In die M. straße mündet der als F.weg ausgewiesene und touristisch beworbene I.weg (Abschnitt München – Wolfratshausen) ein und verläuft ab dort auf einer Länge von ca. 400 m bergab Richtung Isarkanal. Oberhalb davon wird die M. straße trotz des Verbots von zahlreichen Radfahrern, auch von außerhalb der Gemeinde kommend, befahren. Das Verbot ist daher von überregionaler Bedeutung und zumindest seit 2019, wie den Akten der Beklagten zu entnehmen ist, sehr umstritten. Damit handelt es sich für die Beklagte bei der Entscheidung über das Verbot nicht um eine laufende Angelegenheit, sodass hierüber – wie geschehen – der Gemeinderat zu entscheiden und der erste Bürgermeister dessen Beschlüsse gemäß Art. 36 Satz 1 GO zu vollziehen hatte (vgl. auch BayVGH, U.v. 21.2.2011 – 11 B 09.3032 – juris Rn. 32).
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bb) Das von der Beklagten angeordnete und durch Verkehrszeichen konkretisierte Verbot für den Radverkehr war im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. BVerwG, B.v. 3.1.2018 – 3 B 58.16 – juris Rn. 27; U.v. 23.9.2010 – 3 C 37.09 – BVerwGE 138, 21 Rn. 21) hinreichend bestimmt i.S.v. Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG.
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Da Verkehrszeichen sofort zu befolgen sind (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO), müssen ihre Regelungen klar und eindeutig sein (BVerwG, U.v. 27.2.2018 – 7 C 30.17 – BVerwGE 161, 201 Rn. 58). Im Zeitpunkt der Entscheidung über die Berufung war das Verbot für den Radverkehr auf dem fraglichen Streckenabschnitt hinsichtlich der Länge und des Endpunkts hinreichend klar erkennbar. Nach dem erstinstanzlichen Ortstermin hat die Beklagte die Länge des Fahrverbots bei dessen Beginn am Wanderparkplatz durch ein entsprechendes Zusatzzeichen ‚600 m‘ und die Aufhebung des Verbots bei der Einmündung des Isarradwegs durch das Zusatzzeichen ‚Ende‘ eindeutig und für jeden Verkehrsteilnehmer klar erkennbar gekennzeichnet. Damit erweisen sich die vom Kläger erstinstanzlich und auch noch mit der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung zu Recht vorgebrachten Bedenken nunmehr aufgrund der nachträglichen Klarstellung durch die Beklagte als unbegründet.
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b) Das Verbot ist jedoch materiell rechtswidrig. Eine das Verbot rechtfertigende besondere Gefahrenlage als Tatbestandsvoraussetzung ist nicht gegeben, zumindest nicht erkennbar (aa). Die Annahmen und Angaben der Beklagten, der die materielle Beweislast für die Verbotsvoraussetzungen zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 21.3.2022 – 11 CS 22.57 – juris Rn. 23; B.v. 14.1.2022 – 11 CS 21.2672 – juris Rn. 14 m.w.N.), erweisen sich zum Teil als unzutreffend und nicht hinreichend belastbar und daher als insgesamt nicht tragfähig. Daher kann dahinstehen, ob die Beklagte ihr Ermessen bei der Anordnung des Verbots, insbesondere hinsichtlich der Abwägung der widerstreitenden Belange, fehlerfrei ausgeübt hat, woran ebenfalls Zweifel bestehen (bb).
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aa) Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) vom 6. März 2013 (BGBl I S. 367), zuletzt geändert durch Verordnung vom 28. August 2023 (BGBl I Nr. 236), können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist (§ 45 Abs. 9 Satz 1 StVO). Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen, abgesehen von den in § 45 Abs. 9 Satz 4 bis 6 StVO vorgesehenen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen, nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt (§ 45 Abs. 9 Satz 3 StVO). Als in Bezug auf Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs speziellere Regelung konkretisiert und verdrängt § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO in seinem Anwendungsbereich die allgemeinen Regelungen in § 39 Abs. 1 und § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2010 – 3 C 42.09 – BVerwGE 138, 159 Rn. 23; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Auflage 2023, § 45 StVO Rn. 49e). Die für solche Maßnahmen erforderliche, auf besondere örtliche Verhältnisse zurückgehende qualifizierte Gefahrenlage kann insbesondere durch die Streckenführung, den Ausbauzustand, witterungsbedingte Einflüsse, die Verkehrsbelastung und die daraus resultierenden Unfallzahlen begründet sein (BVerwG, U.v. 18.10.2010 a.a.O. Rn. 26; B.v. 3.1.2018 – 3 B 58.16 – juris R. 21; VGH BW, B.v. 25.3.2024 – 13 S 730/23 – ZfS 2024, 299 Rn. 6 und 16 m.w.N.; Sauthoff, Öffentliche Straßen, Rn. 1056). Sie kann sich auch aus einer Gesamtschau einzelner, für sich allein noch nicht hinreichend gefahrbegründender Umstände ergeben (BVerwG, U.v. 13.12.1979 – 7 C 46.78 – BVerwGE 59, 221 = juris Rn. 18). Dabei setzt die nach § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO erforderliche qualifizierte Gefahrenlage nicht zwingend voraus, dass ohne die Maßnahme alsbald mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermehrt Schadensfälle zu erwarten wären. Zu beachten ist allerdings, dass aufgrund des Vorbehalts des Straßenrechts und der insoweit maßgeblichen Widmung der Straße mit der Anordnung einer Verkehrsbeschränkung auf der Grundlage des Straßenverkehrsrechts kein Zustand dauerhaft herbeigeführt werden kann, der im Ergebnis auf eine endgültige Entwidmung oder Teileinziehung hinausläuft (BayVGH, B.v. 7.6.2010 – 11 ZB 10.581 – juris Rn. 14-16; B.v. 23.10.2009 – 11 ZB 07.1580 – SVR 2010, 354 = juris Rn. 13; VG Berlin, B.v. 24.10.2022 – VG 11 L 398/22 – juris Rn. 27; Sauthoff, a.a.O. Rn. 22; König in Hentschel/König/Dauer, § 45 StVO Rn. 28c). Auch wenn ein vollständiges Fahrverbot für Fahrzeuge, die nach der für den Streckenabschnitt maßgeblichen Widmung grundsätzlich zugelassen sind, wie hier nur für eine Fahrtrichtung angeordnet ist, kommt es nur als ultima ratio in Betracht.
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Die Annahme der Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO durch die Behörde ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, § 45 StVO Rn. 28d m.w.N.). Hier ist eine qualifizierte Gefahrenlage, die das Verbot rechtfertigen würde, nach dem Ergebnis des Berufungsverfahrens nicht ersichtlich. Sie ergibt sich weder aus dem Gefälle des betroffenen Streckenabschnitts (1) noch aus dessen Ausbauzustand (2), der von der Beklagten angenommenen Unübersichtlichkeit (3), der Verkehrsbelastung (4) oder den Unfallzahlen (5) und auch nicht aus der Gesamtschau dieser Umstände (6).
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(1) Die Beklagte hat auf der Höhe des Wanderparkplatzes über dem Verbotszeichen für den Radverkehr (Vz. 254) das Gefahrenzeichen ‚18% Gefälle‘ (§ 40 StVO i.V.m. Vz. 108) angebracht. Außerhalb geschlossener Ortschaften stehen Gefahrenzeichen im Allgemeinen 150 bis 250 m vor den Gefahrstellen (§ 40 Abs. 2 Satz 1 StVO). Ist die Entfernung erheblich geringer, kann sie auf einem Zusatzzeichen angegeben sein (§ 40 Abs. 2 Satz 2 StVO). Ein Zusatzzeichen kann auch die Länge der Gefahrstrecke angeben (§ 40 Abs. 4 StVO).
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Auch wenn das Gefahrenzeichen ‚Gefälle‘ nicht voraussetzt, dass die angegebene Neigung durchschnittlich oder durchgehend im gesamten Bereich des Gefälles vorhanden ist, wird hier durch die Anbringung direkt über dem Verbotszeichen für den Radverkehr und die darauf Bezug nehmende Längenangabe ‚600 m‘ ein Zusammenhang mit dem hiervon betroffenen Streckenabschnitt hergestellt. Ein Gefälle von 18% liegt jedoch an keiner Stelle des betroffenen Streckenabschnitts auch nur annähernd vor. Vielmehr ergibt sich anhand des Kartenviewers ‚Bayern-Atlas‘ der Bayerischen Vermessungsverwaltung für die Gesamtstrecke von 600 m ein durchschnittliches Gefälle von 7,57% und für daraus gebildete Teilabschnitte ein konstant abnehmendes Gefälle von 14,0% auf den ersten 50 m und 4,1% auf den letzten 100 m. Bestätigt wird dies mit nur geringen Abweichungen durch die Nachmessungen des von der Beklagten beauftragten Ingenieurbüros. Danach beträgt das Gefälle auf den ersten 100 m der Strecke durchschnittlich 13,0% mit einem Spitzenwert von 14,8%. Danach nimmt es kontinuierlich ab (durchschnittlich 9,6% im Bereich von 100 bis 200 m, 8,3% im Bereich von 200 bis 300 m, 5,5% im Bereich von 300 bis 400 m, 4,6% im Bereich von 400 bis 500 m und 4,0% im Bereich von 500 bis 600 m). Insgesamt haben die Nachmessungen der Beklagten eine Höhendifferenz von 44,97 m auf dem betroffenen Streckenabschnitt und ein durchschnittliches Gefälle von 7,5% ergeben.
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Damit liegt das durchschnittliche Gefälle auf dem vom Verbot betroffenen Streckenabschnitt deutlich unter der Angabe der Beklagten auf dem Gefahrenzeichen und erreicht diesen Wert an keinem Punkt. Abgesehen davon, dass allein der Hinweis darauf, Steigungs- oder Gefällstrecken mit einer bestimmten Neigung seien geeignet, Unfälle hervorzurufen, für die Annahme einer qualifizierten Gefahrenlage ohnehin nicht ausreicht (vgl. HessVGH, B.v. 29.10.2007 – 2 UZ 1864/06 – NZV 2008, 423 = juris Rn. 4 m.w.N.), hebt sich das Gefälle der M. straße auch mit einem Spitzenwert von 14,8% und mehr als 10% auf einem Abschnitt von ca. 100 m Länge nicht von anderen abschüssigen Straßen in hügeligen oder gebirgigen Regionen ab, auf denen das Radfahren nicht verboten ist. Überwiegend beträgt das Gefälle im betroffenen Bereich deutlich weniger als 10% und rechtfertigt damit per se keinesfalls die Annahme besonderer örtlicher Verhältnisse.
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(2) Der Ausbauzustand der M. straße im betroffenen Abschnitt kann ihrer Funktion als Gemeindeverbindungsstraße entsprechend angesehen werden, die den nachbarlichen Verkehr der Gemeinden oder der Gemeindeteile untereinander oder deren Verbindung mit anderen Verkehrswegen vermittelt (Art. 3 Abs. 1 Nr. 3, Art. 46 Nr. 1 des Bayerischen Straßen- und Wegegesetzes – BayStrWG). Die Widmung ist gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayStrWG mit der Beschränkung ‚gesperrt für Kfz, ausgenommen Anlieger‘ versehen. Die M. straße ist durchgehend asphaltiert und verbindet die Ortsteile St. und Mü.. Im Rahmen der Widmungsbeschränkung und des hierzu beschilderten ‚Verbots für Kraftfahrzeuge‘ (Vz. 260) mit den Zusatzzeichen ‚Land- und forstwirtschaftlicher Verkehr frei‘, ‚Anlieger frei‘ ist sie mit Kraftfahrzeugen unter Beachtung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h in beide Richtungen befahrbar. Ab der Linkskurve zu Beginn des Gefälles ist am rechten Fahrbahnrand auf einer Länge von 187 m und damit einem knappen Drittel der Verbotsstrecke eine durchgehende Schutzplanke angebracht, um zu verhindern, dass abwärts fahrende Fahrzeuge von der Fahrbahn abkommen.
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Aufgrund der beim Augenschein gemessenen geringen Fahrbahnbreite von teilweise nur wenig mehr als 3 m können zweispurige Kraftfahrzeuge im Begegnungsverkehr nur vorsichtig und Rücksicht nehmend unter Beachtung der hierfür geltenden Vorschriften (insbesondere § 1, § 2 Abs. 1 und 2, § 3 Abs. 1 StVO) aneinander vorbeifahren. Das Bankett auf beiden Seiten der Fahrbahn ist unterschiedlich breit und für Fußgänger nach Maßgabe von § 25 StVO benutzbar. Es weist allerdings an manchen Stellen einen Höhenunterschied zur Fahrbahn von bis zu 10 cm auf, wodurch (bisher gegen das Verbot verstoßende) Radfahrer stürzen können, wenn sie bergab fahrend dem Gegenverkehr ausweichen wollen und dabei auf das Bankett geraten. Dies dürfte nach der von der Beklagten übermittelten Beschreibung auch ursächlich für den Unfall am 24. April 2021 gewesen sein.
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Beim Überholen von Radfahrern und Fußgängern mit Kraftfahrzeugen, auch bergauf, ist der außerorts gebotene Seitenabstand von mindestens 2 m einzuhalten (§ 5 Abs. 4 Satz 3 StVO). Das gilt im Übrigen auch, wenn Radfahrer ihr Fahrrad auf dem Seitenstreifen oder nach Maßgabe von § 25 Abs. 2 StVO auf der Fahrbahn schieben, wie es bisher bergab auf 600 m Länge geboten ist und bergauf im oberen, zunehmend steilen Bereich der Strecke häufig vorkommen dürfte. Wer das Fahrrad schiebt oder damit deutlich langsamer als 30 km/h fährt, muss notfalls an geeigneter Stelle warten, etwa auf dem Seitenstreifen, wenn nur so mehreren unmittelbar folgenden Fahrzeugen das Überholen möglich ist (§ 5 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVO). Wo der Seitenabstand nicht eingehalten werden kann, darf jedoch nicht überholt werden. Im Übrigen darf nur überholen, wer mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt und dabei übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist (§ 5 Abs. 2 StVO). Aufgrund dieser Regelungen und der örtlichen Gegebenheiten ist im betroffenen Streckenabschnitt insbesondere an Tagen mit hoher Verkehrsbelastung für alle Verkehrsteilnehmer eine defensive Fahrweise geboten.
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Dass der Ausbauzustand der M. straße dennoch insgesamt widmungsentsprechend auch für bergab fahrende Radfahrer ausreichend ist, wird auch durch die Freigabe für den Radverkehr auf den letzten 400 m im Bereich des Gefälles ab der Einmündung des Isarradwegs deutlich, obwohl die Linkskurve am Ende der M. straße Richtung Süden zur Fortsetzung des Isarradwegs auf der K. straße einen wesentlich engeren Radius hat als die Linkskurve zu Beginn des Gefälles.
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(3) Der betroffene Streckenabschnitt der M. straße kann bei Beachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h und situationsangepasster Fahrweise insgesamt als hinreichend übersichtlich angesehen werden.
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Zwar ist die Linkskurve zu Beginn des Streckenabschnitts nach dem Wanderparkplatz von dort aus und auch beim Kurveneingang nicht durchgehend einsehbar. Ab der Kurvenmitte sind jedoch der Kurvenausgang und der weitere, zunächst geradeaus verlaufende Streckenabschnitt gut einsehbar. Ob sich die Sichtverhältnisse im Bereich der Kurve durch einen Verkehrsspiegel verbessern ließen, was im Übrigen auch die Sicherheit für den Kfz-Begegnungsverkehr erhöhen könnte, zumal ein Ausweichen hier aufgrund der Schutzplanke nur begrenzt möglich ist, wäre durch die Beklagte zu prüfen, die dies – wie die mündliche Verhandlung ergeben hat – bisher noch nicht erwogen hat. Im Übrigen gilt unabhängig von der durch Vz. 274 angeordneten Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h, dass mit allen Fahrzeugen nur so schnell gefahren werden darf, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann (§ 3 Abs. 1 Satz 4 StVO), und dass auf Fahrbahnen, die so schmal sind, dass dort entgegenkommende Fahrzeuge gefährdet werden könnten, so langsam gefahren werden muss, dass mindestens innerhalb der Hälfte der übersehbaren Strecke gehalten werden kann (§ 3 Abs. 1 Satz 5 StVO).
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Im weiteren Verlauf der Strecke ist diese auch für den Begegnungsverkehr ausreichend übersichtlich. Das gilt auch für die langgezogene Rechtskurve nach etwa der Hälfte des Streckenabschnitts, die einen größeren Radius aufweist als die Linkskurve zu Beginn der Strecke und daher besser einsehbar ist. Nach dem Ausgang dieser Rechtskurve verläuft die Strecke bis zum Ende des Radfahrverbots bei der Einmündung des Isarradwegs wieder geradeaus.
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Erhöhte Aufmerksamkeit und Vorsicht ist daher in erster Linie vor und in der Linkskurve geboten, die aber – wie auch anhand des von der Beklagten übermittelten Lageplans ersichtlich ist – bereits nach ca. 50 m endet und daher für die gesamte Verbotsstrecke nicht prägend ist. Eine qualifizierte Gefahrenlage kann daraus nicht hergeleitet werden, zumal die Übersichtlichkeit an dieser Stelle möglicherweise durch einen Verkehrsspiegel verbessert werden kann.
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(4) Die Beklagte hat im Jahr 2023 in der Zeit vom 30. März bis 17. April sowie vom 26. Mai bis 13. Juni Verkehrszählungen durchgeführt. Diese differenzieren nach Fahrzeugarten (Zweirad, PKW, Transporter, LKW und Lastzug), aber nicht nach Fahrtrichtung und innerhalb der Zweiräder auch nicht zwischen motorisierten und nicht motorisierten Fahrzeugen. Daher erlauben die Zahlen nur ein unvollständiges Bild.
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In der Zeit vom 30. März bis 17. April 2023 wurden 1.797 Zweiräder gezählt. Deren Durchschnittsgeschwindigkeit (Vd) betrug 17 km/h, die maximale Geschwindigkeit (Vmax) 51 km/h und die Geschwindigkeit, die von 85% der erfassten Fahrzeuge nicht überschritten wurde (V85) 33 km/h. Im gleichen Zeitraum wurden für zweispurige Kraftfahrzeuge folgende Zahlen und Werte gemessen: 1.699 PKW mit 30 km/h (Vd), 76 km/h (Vmax) und 39 km/h (V85); 294 Transporter mit 33 km/h (Vd), 63 km/h (Vmax) und 41 km/h (V85); 63 LKW mit 31 km/h (Vd), 59 km/h (Vmax) und 39 km/h (V85); 14 Lastzüge mit 28 km/h (Vd), 39 km/h (Vmax) und 33 km/h (V85).
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Für die Zeit vom 26. Mai bis 13. Juni 2023 ergeben sich folgende Zahlen: 8.928 Zweiräder mit 16 km/h (Vd), 56 km/h (Vmax) und 29 km/h (V85); 2.457 PKW mit 22 km/h (Vd), 57 km/h (Vmax) und 31 km/h (V85); 614 Transporter mit 27 km/h (Vd), 51 km/h (Vmax) und 35 km/h (V85); 208 LKW mit 29 km/h (Vd), 51 km/h (Vmax) und 38 km/h (V85); 32 Lastzüge mit 27 km/h (Vd), 49 km/h (Vmax) und 34 km/h (V85).
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Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass die Verkehrsbelastung mit allen Fahrzeugen in der wärmeren Zeit des Jahres offenbar deutlich zunimmt und dabei der Anteil der Zweiräder im Vergleich zu den übrigen Fahrzeugarten wesentlich höher liegt. Auch wenn die durchgeführten Zählungen nicht zwischen den Fahrtrichtungen sowie motorisierten und nicht motorisierten Zweirädern differenzieren, geht der Senat – auch vor dem Hintergrund der von allen Verfahrensbeteiligten eingeräumten Häufigkeit der Missachtung des Radfahrverbots – davon aus, dass insbesondere im Sommer, zumal an den Wochenenden, zahlreiche Radfahrer trotz des Verbots bergab fahren. Die Durchschnittsgeschwindigkeit aller erfassten Zweiräder liegt mit 17 und 16 km/h deutlich unter der Durchschnittsgeschwindigkeit der übrigen Fahrzeugarten. Eine Erklärung hierfür liegt möglicherweise auch in den bergauf fahrenden und dabei naturgemäß langsameren Fahrrädern, deren Anteil an den erfassten Zweirädern allerdings nicht bekannt ist. Wer mit dem Fahrrad ungebremst bergab fährt oder dabei gar beschleunigt, wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h sicherlich deutlich überschreiten. Gleichwohl ist jedoch auch die festgestellte Höchstgeschwindigkeit der Zweiräder vor allem in Zeiten geringerer Verkehrsbelastung deutlich niedriger als die der übrigen Fahrzeugarten (mit Ausnahme der Lastzüge). Insgesamt kann jedenfalls festgestellt werden, dass die von der Beklagten mitgeteilten Geschwindigkeiten der Zweiräder im Vergleich zu den sonstigen Fahrzeugen nicht auffällig sind.
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(5) Die Beklagte hat auf Anforderung des Senats im Berufungsverfahren die Zahl der erfassten Fahrradunfälle und – soweit bekannt – die jeweiligen Unfallhergänge mitgeteilt. Danach ereigneten sich 1992 ein tödlicher Unfall, im Jahr 2003 drei Unfälle, in den Jahren 2014, 2021 und 2023 jeweils zwei Unfälle (darunter 2014 ein tödlicher Unfall) und in den Jahren 2011, 2013 und 2020 jeweils ein Unfall. Andere Fahrzeuge waren bei den erfassten Fahrradunfällen offenbar nicht beteiligt. Zum tödlichen Unfall im Jahr 2014 hat der Kläger bereits im erstinstanzlichen Verfahren unter Vorlage eines Presseberichts darauf hingewiesen, dass sich der Unfall nicht im Bereich des Radfahrverbots, sondern weiter unterhalb ereignet hat. Gleiches gilt nach dem von der Beklagten vorgelegten Polizeibericht auch für den Unfall am 5. Juni 2013 sowie – jedenfalls nach dem Unfallatlas (dazu sogleich) – auch für den mitgeteilten Unfall vom 10. Juli 2020.
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Seit 2016 lassen sich die Unfallzahlen auch anhand des interaktiven Unfallatlasses des Statistischen Bundesamts recherchieren (https://unfallatlas.statistikportal.de/), der auf Meldungen der Polizeidienststellen basiert. Danach ergeben sich für Unfälle mit Fahrrad-Beteiligung und Personenschaden auf dem betroffenen Streckenabschnitt folgende Zahlen: 2016 bis 2020 und 2022 keine Unfälle (2020 zwei Unfälle unterhalb der Einmündung des Isarradwegs, 2022 zwei Unfälle ebenfalls außerhalb des Verbotsbereichs auf Höhe des Wanderparkplatzes), 2021 zwei Unfälle (vor Beginn der Rechtskurve). Für das Jahr 2023 liegen noch keine Zahlen vor, es wurde aber von der Beklagten und in der Presse über zwei Unfälle berichtet.
57
Die Unfallzahlen sind nicht isoliert zu betrachten, sondern müssen in Relation zur Verkehrsbelastung gesetzt werden. Davon ausgehend erweist sich die Zahl der Unfälle mit Fahrrad-Beteiligung und Personenschaden auf dem betroffenen Streckenabschnitt, gemessen an der wohl hohen Zahl der trotz des Verbots bergab fahrenden Radfahrer, als nicht so auffällig, dass daraus eine qualifizierte Gefahrenlage hergeleitet und die M. straße als Unfallschwerpunkt für Radfahrer bezeichnet werden könnte. Zwar weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass nicht alle Unfälle bekannt werden. Ebenfalls unbekannt sind die nicht erfasste Zahl der Beinahunfälle und der Anteil der Radfahrer mit riskantem oder rücksichtslosem Fahrverhalten. Verwertbare Verkehrsbeobachtungen, die Rückschlüsse darauf ermöglichen würden, wurden nicht durchgeführt; Spekulationen hierzu können ein Fahrverbot nicht rechtfertigen. Nachdem das Verbot offenbar weitgehend missachtet wird (so auch beim Augenschein des Senats trotz schlechten Wetters) und Verstöße nicht oder kaum unterbunden werden, lässt sich auch nicht abschätzen, ob und in welcher Größenordnung die Unfallzahlen ohne das Verbot ansteigen würden. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die Zahl der Radfahrer, nicht zuletzt aufgrund der erst seit wenigen Jahren verbreiteten Pedelecs und E-Bikes, deutlich zugenommen hat und voraussichtlich weiter ansteigen wird. Es ist damit zu rechnen, dass dies tendenziell – nicht nur auf dem streitgegenständlichen Streckenabschnitt – auch zu mehr Fahrradunfällen führen wird. Anhand der bekannten Unfallzahlen kann jedoch eine besondere Gefahrenlage auf dem betroffenen Abschnitt nicht festgestellt werden.
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(6) Auch die Gesamtbetrachtung der vorgenannten Umstände rechtfertigt nicht die Annahme einer qualifizierten, das Verbot begründenden Gefahrenlage.
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Wie bereits ausgeführt können sich die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO auch aus dem Zusammentreffen mehrerer gefahrenträchtiger Umstände ergeben. Primär ist dabei jedoch die Unfallhäufigkeit in den Blick zu nehmen. Hiervon ausgehend erweisen sich die Straßenverhältnisse, die Topographie, die Verkehrsbelastung und die Unfallzahlen in der Gesamtschau als nicht so auffällig, dass ein Verbot für den Radverkehr als ultima ratio angezeigt wäre. Auch wenn das Befahren der M. straße bergab mit dem Fahrrad (aber auch mit anderen Fahrzeugen) durchaus erhöhte Aufmerksamkeit, Vorsicht und Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer erfordert, zeigen die Angaben der Beklagten zu den erfassten Zweirädern und den bekannt gewordenen Unfällen nicht, dass die Unfallzahlen signifikant höher wären als auf vergleichbaren Strecken. So weist der Unfallatlas des Statistischen Bundesamts in der näheren Umgebung etwa für die abschüssige S. straße 2572 von Grünwald Richtung Isar für die Jahre 2016 bis 2022 durchweg höhere Unfallzahlen mit Fahrrad-Beteiligung und Personenschaden auf. Zwar lassen sich Fahrradunfälle auf der M. straße bergab auch bei angepasster und StVOkonformer Fahrweise nie völlig ausschließen. In Anbetracht der bisherigen Unfallhäufigkeit liegt jedoch keine qualifizierte Gefahrenlage vor. Ob sich riskante Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Fahrweisen einzelner Radfahrer durch bauliche, nicht ihrerseits verkehrsgefährdende Maßnahmen, etwa durch gekennzeichnete Bodenwellen, Rüttelstreifen, profilierte Fahrbahnmarkierungen oder Kopfsteinpflasterabschnitte vermeiden oder reduzieren ließen, bleibt einer Prüfung und Entscheidung der Beklagten überlassen.
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bb) Da die Tatbestandsvoraussetzungen eines Verbots für den Radverkehr nicht erfüllt sind, kann dahinstehen, ob die Beklagte ihr Ermessen bei der Anordnung der Maßnahme fehlerfrei ausgeübt hat.
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Maßnahmen gemäß § 45 Abs. 9 StVO stehen bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen im Ermessen der zuständigen Behörde (näher zu den Anforderungen an die Ermessensentscheidung Sauthoff, Öffentliche Straßen, Rn. 1059 ff.). Dass die Beklagte zumindest bei ihrer Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verbots Ermessen ausgeübt hat, ergibt sich aus der Beschlussvorlage vom 28. Mai 2019 für die Beratung in den Gremien, in der die Vorschläge einer Aufhebung des Verbots den hiergegen erhobenen Bedenken gegenübergestellt werden. Ergänzungen der Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind gemäß § 114 Satz 2 VwGO möglich.
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Die Anordnung eines Verkehrsverbots muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen und zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit erfordert eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Maßnahme und den durch diese herbeigeführten Belastungen und setzt den Belastungen hierdurch eine Grenze (BVerwG, U.v. 27.2.2018 – 7 C 30.17 – BVerwGE 161, 201 Rn. 38). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Verbot eine hohe Zahl von Radfahrern betrifft. Vor dem Ausschluss einer gesamten Gruppe von Verkehrsteilnehmern, aus der nur ein kleiner Teil für die Gefahrenlage verantwortlich ist, sind als mildere Mittel Maßnahmen in den Blick zu nehmen, die geeignet sind, das gefahrenträchtige Verkehrsverhalten in ausreichendem Maß zu erschweren (Sauthoff, Öffentliche Straßen, Rn. 1064, 1071). Das Fehlverhalten einzelner Radfahrer und hierdurch bedingte Unfälle rechtfertigen daher nicht ohne Weiteres Sperrungen und Verbote zu Lasten aller Radfahrer. Insoweit bestehen nicht nur Zweifel an der Angemessenheit, sondern auch bereits an der Eignung des angeordneten Verbots zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, wenn es – wie hier in den vergangenen Jahren – allenfalls punktuell kontrolliert und unterbunden und in so großem Umfang missachtet wird. Die angestrebte Unfallvermeidung wurde in der Vergangenheit durch das Verbot jedenfalls nur unzureichend erreicht. Zu berücksichtigen ist auch, dass die von der Beklagten für Radfahrer beim Wanderparkplatz mit einem Rechtspfeil (Richtzeichen Vz. 422 gemäß § 42 Abs. 2 i.V.m. Anl. 3 StVO) ausgewiesene Umfahrung über den I.weg nicht asphaltiert ist und im Winter nicht geräumt wird und damit nicht vergleichbar genutzt werden kann. Außerdem weist sie eine Länge von 2,5 km auf und bedeutet damit einen Umweg von 1,9 km im Vergleich zur M. straße und nicht von lediglich 400 m, wie von den Beklagtenvertretern beim Augenschein angegeben.
63
c) Der Kläger ist durch das rechtswidrige Verbot des Radfahrens, das ihn daran hindert, den betroffenen Streckenabschnitt mit dem Fahrrad zu befahren, in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 101 BV gewährleisteten und umfassend geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit (vgl. BayVGH, U.v. 3.7.2015 – 11 B 14.2809 – BayVBl 2015, 784 Rn. 31) verletzt. Er kann daher verlangen, dass die verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten, auf der das Verbot beruht, aufgehoben wird und die Verkehrszeichen entfernt werden.
64
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
65
4. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.