Titel:
Verkehrssicherungspflicht in Modegeschäften hinsichtlich der Ausgestaltung von Preisschildern
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 1, § 253
PAngV § 10
ZPO § 256 Abs. 1
Leitsätze:
1. Welche Maßnahmen zur Wahrung der Verkehrssicherungspflicht erforderlich sind, hängt stets von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls ab. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst danach diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Voraussetzung ist daher, dass sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können (ebenso BGH BeckRS 2003, 6838). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Maß der geforderten Sorgfalt hinsichtlich Verkehrssicherungspflichten in Geschäftsräumen hängt von der Höhe des drohenden Schadens und seiner Eintrittswahrscheinlichkeit ab. Bei Geschäftsräumen werden diese Größen vor allem durch die Kundenfrequenz und dem Gefahrenpotential, das von den örtlichen Verhältnissen und dem Warenangebot ausgeht, bestimmt. Darüber hinaus kommt es auf die Gefahrsteuerungsmöglichkeiten des Geschädigten an. Soweit sich der Geschädigte vor erkennbaren Gefahrenquellen selbst schützen kann, ist der Betreiber des Geschäfts nicht dazu verpflichtet, kostspielige Sicherheitsmaßnahmen zugunsten der Kunden zu ergreifen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkehrssicherungspflicht, Schmerzensgeld, Preisschild, Kleidungsstück, Kleidungsständer, Verkehrssicherungspflichtverletzung, Kunde, Hornhauttransplantation, Feststellungsinteresse, Folgeschäden
Rechtsmittelinstanz:
OLG München vom -- – 1 U 2263/24 e
Fundstelle:
BeckRS 2024, 11930
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 20.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin macht gegen die Beklagte einen Anspruch auf Schmerzensgeld und einen materiellen und immateriellen Folgevorbehalt aufgrund eines Vorfalls am 01.04.2023 geltend.
2
Die Beklagte betreibt in der ... einen Outlet Store für Bekleidung. Die Klägerin, die selbst Schneidermeisterin ist und ein Modeatelier betreibt, suchte zusammen mit ihrem Ehemann am 01.04.2023 gegen 11:30 Uhr den Outlet Store der Beklagten auf.
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Das Warenangebot der Beklagten richtet sich an Verbraucher. Gemäß § 10 PAngV müssen Waren, die zum Verkauf an Verbraucher bereit stehen, ausgezeichnet werden.
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Sämtliche Kleidungsstücke der Beklagten waren mit Preisschildern ausgezeichnet. Die Preisschilder waren mit weiteren Hinweisen (Material, Eigenschaften, Label) als Bündel aus circa drei bis fünf Schildern mit einer flexiblen Rebschnur an den Kleidungsstücken befestigt.
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Die Klägerin verletzte sich bei der Anprobe eines T-Shirts mit dem am T-Shirt angebrachten Preisschild am Auge.
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Die Klägerin behauptet, sie habe im Outlet Store der Beklagten in der Umkleide ein T-Shirt anprobiert. Bei der Anprobe habe ihr das nicht gesicherte und als solches nicht deklarierte Preisschild in das rechte Auge geschlagen. Sie habe hierdurch erhebliche Verletzungen am rechten Auge erlitten, die in der Folge eine Hornhauttransplantation erforderlich gemacht hätten. Das Preisschild sei in seiner Ausgestaltung gefährlich gewesen.
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Die Klägerin meint, die Beklagte habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Das Preisschild sei nicht erkennbar gewesen. Es hätte daher am Kleidungsstück selbst oder am Kleidungsständer ein Hinweis auf das Preisschild angebracht werden müssen.
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Die Klägerin beantragt,
- 1.
-
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein in das Ermessen des dortigen Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 5.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 21.06.2023 zu zahlen.
- 2.
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Die Beklagte wird verurteilt, eine 1,3 Geschäftsgebühr aus einem Streitwert von 20.000,00 EUR = 1.295,43 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 21.06.2023 zu zahlen.
- 3.
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Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, jedweden materiellen und immateriellen Folgevorbehalt aus dem Schadensereignis vom 01.04.2023 der Klägerin zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte behauptet, bei den Preisschildern handle es sich um Standardpreisschilder. Die Größe der Preisschilder betrage circa 9 cm x 5 cm, die Ecken seien abgerundet und mit einer flexiblen Rebschnur an den Kleidungsstücken befestigt gewesen, so dass Verletzungen vermieden werden könnten. Die Preisschilder seien durch ihre Größe und das Gewicht des Bündels deutlich fühlbar gewesen.
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Die Klägerin habe sich während der Anprobe des T-Shirts das Preisschild in ihr Auge gestoßen.
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Die Beklagte meint, sie habe keine Verkehrssicherungspflichten verletzt.
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Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließe, sei im praktischen Leben nicht erreichbar. Daher reiche es aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zuzumuten sind. Jedem Kunden, der im Einzelhandel Kleidungsstücke erwerben möchte, sei bekannt, dass an diesen Preisschilder befestigt seien. Der Kunde benötige diese, um sich ein Gesamturteil über das Kleidungsstück und dessen Preis bilden und eine Kaufentscheidung treffen zu können. Eine Überraschung hinsichtlich der Vorhandenseins derartiger Preisschilder liege nicht vor.
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Dem Merkmal der Erkennbarkeit einer Gefahrenquelle komme nach der Rechtsprechung für die Bestimmung einer Verkehrssicherungspflicht maßgebende Bedeutung zu. Die Preisschilder seien für die Klägerin erkennbar gewesen. Die Klägerin habe für ihre Entscheidung, dass T-Shirt anzuprobieren, unter anderem die Größe geprüft. Zudem sei davon auszugehen, dass sie auch einen Blick auf das Preisschild geworfen habe.
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Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18.04.2024 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die überwiegend zulässige Klage erweist sich als unbegründet.
17
Die Klage erweist sich als überwiegend zulässig.
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I. Das Landgericht München I ist nach § 1 ZPO i.V.m. §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich und nach §§ 12, 17 ZPO örtlich zuständig. Die Beklagte hat ihren Sitz in M..
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II. Soweit die Klägerin in Ziff. 3 der Klageschrift unter anderem festgestellt wissen möchte, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr jedweden immateriellen Folgevorbehalt aus dem Schadensereignis vom 01.04.2023 zu erstatten, ist bereits das Vorliegen eines Feststellungsinteresses in Sinne des § 256 Abs. 1 BGB fraglich. Mit Ziff. 1 der Klageschrift wurde bereits ein Anspruch auf Schmerzensgeld geltend gemacht. Zwar besteht grundsätzlich auch ein Feststellungsinteresse, wenn ein Schaden durch die schädigende Handlung bereits eingetreten ist, jedoch die bloße, auch nur entfernte Möglichkeit künftiger weiterer unvorhersehbarer Folgeschäden besteht (BGH NJW 98, 160). Hierzu trägt die Klagepartei nichts vor.
20
Die Klage erweist sich als unbegründet.
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I. Der Klägerin steht gegen die Beklagte unter keinen erdenklichen Gesichtspunkten ein Anspruch auf Schmerzensgeld wegen der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht gemäß §§ 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 253 BGB zu.
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1. Die Beklagte ist als Betreiberin des Outlet Stores verpflichtet, ihre Kunden vor Gefahren zu schützen, denen diese beim Aufsuchen des Outlet Stores ausgesetzt sein können. Dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz, wonach derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, verpflichtet ist, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern (st. Rspr.; vgl. Senat, NJW 1990, 1236 = VersR 1990, 498 499.; NJW-RR 2002, 525 = VersR 2002, 247 248.; jew. m. w. Nachw.; vgl. auch BGHZ 121, 367 375. = NJW 1993, 1799; BGH, NVwZ-RR 1993, 337 = VersR 1993, 586 587. m.w. Nachw.; NJW 1996, 3208 = VersR 1997, 109 111.).
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2. Unabhängig davon, ob das Preisschild der Beklagten der Klägerin „in das Auge geschlagen hat“ oder sie sich das Preisschild in das Auge gestoßen hat, ist eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten nicht ersichtlich.
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Welche Maßnahmen zur Wahrung der Verkehrssicherungspflicht erforderlich sind, hängt stets von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls ab. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst danach diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Voraussetzung ist daher, dass sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können (Senat, NJW-RR 2003, 1459 = VersR 2003, 1319 m. w. Nachw.). Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist nicht erreichbar. Es geht bei der Bemessung der Verkehrssicherungspflicht vielmehr um eine angemessene Risikoverteilung zwischen dem Sicherungspflichtigen und dem Nutzer. Der Pflichtige muss deshalb nicht für alle denkbaren entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge treffen (OLG München Hinweisbeschluss v. 10.7.2013 – 1 U 1398/13, BeckRS 2013, 14518, beck-online). Das Maß der geforderten Sorgfalt hinsichtlich Verkehrssicherungspflichten in Geschäftsräumen hängt von der Höhe des drohenden Schadens und seiner Eintrittswahrscheinlichkeit ab. Bei Geschäftsräumen werden diese Größen vor allem durch die Kundenfrequenz und dem Gefahrenpotential, das von den örtlichen Verhältnissen und dem Warenangebot ausgeht, bestimmt. Darüber hinaus kommt es auf die Gefahrsteuerungsmöglichkeiten des Geschädigten an. Soweit sich der Geschädigte vor erkennbaren Gefahrenquellen selbst schützen kann, ist der Betreiber des Geschäfts nicht dazu verpflichtet, kostspielige Sicherheitsmaßnahmen zugunsten der Kunden zu ergreifen (MüKo-BGB, § 823, Rn. 799). Die Anforderungen an den Verkehrssicherungspflichtigen dürfen nicht überspannt werden (OLG München Hinweisbeschluss v. 10.7.2013 – 1 U 1398/13, BeckRS 2013, 14518, beck-online).
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Gemäß § 10 PAngV sind Waren, die Verbrauchern angeboten werden, durch Preisschilder oder Beschriftung der Waren auszuzeichnen. Dementsprechend enthält jedes im Einzelhandel in Deutschland angebotene Kleidungsstück ein Preisschild. Dies ist den Konsumenten im Allgemeinen, und der Klägerin als Betreiberin einer Modeboutique im Besonderen, bekannt. Der Kunde erwartet und benötigt das Preisschild gerade, um sein Gesamturteil über das Kleidungsstück und dessen Preis bilden zu können. Der allgemeinen Lebenserfahrung nach wirft der durchschnittliche Kunde vor der Anprobe zudem einen Blick auf das Preisschild, um sich über die Größe und den Preis des Kleidungsstücks zu informieren. Erfahrungsgemäß wird das Preisschild vom Kunden wahrgenommen. Die Klägerin hätte daher in Kenntnis über das Vorhandensein eines Preisschilds bei der Anprobe des T-Shirts selbst dafür Sorge tragen müssen, dass es zu keinen Verletzungen kommt.
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Die Entscheidung darüber, ob eine Verkehrssicherungspflichtverletzung vorliegt, hängt auch nicht maßgeblich davon ab, ob das Preisschild, wie von der Klägerin behauptet, besonders scharfkantig oder die Kordel, an der das Preisschild befestigt war, länger als üblich war. Vielmehr ist die Bewertung anhand der Gesamtumstände zu treffen. Unstreitig waren an dem T-Shirt neben dem Preisschild weitere Schilder als Bündel (insgesamt drei bis fünf Schilder) an der Kordel angebracht. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass das Preisschild vor der Anprobe in der Haptik deutlich wahrnehmbar war. Der Verkehrssicherungspflichtige muss nicht, wie erwähnt, vor leicht erkennbaren und ohne weiteres vermeidbaren Gefährdungen Vorsorge treffen. Es kann und muss vom Bürger verlangt werden, dass er derartige geringe und leicht erkennbare Schwierigkeiten ohne jede erdenkliche Vorsorge eigenverantwortlich meistert.
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Vor diesem Hintergrund musste die Beklagte auch nicht an jedem einzelnen Kleidungsstück einen Hinweis auf das im Kleidungsstück angebrachte Preisschild anbringen. Dies wäre in der Gesamtschau lebensfremd und nicht zumutbar. Gleiches gilt für das Anbringen eines Hinweisschilds am Kleidungsständer.
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So tragisch die Folgen auch seien mögen, hat sich im Vorfall vom 01.04.2024 lediglich ein allgemeines Lebensrisiko der Klägerin verwirklicht.
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II. Mangels Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Verkehrssicherungspflichtverletzung besteht auch kein Anspruch auf Feststellung (Klageantrag Ziff. 3).
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III. Mangels Anspruch in der Hauptsache besteht ein Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1, 2 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2, 48 GKG, 3 ff. ZPO. Die Ansprüche Ziff. 1 und 3 der Klage sind zu addieren. Der Zahlungsantrag Ziff. 1 ist mit 5.000 EUR anzusetzen. Hierbei handelt es sich um den angegebenen Mindestbetrag. Ein angegebener Mindestbetrag darf nicht unterschritten werden (Zöller-Herget, ZPO, § 3 Rn 16.171). Für den Feststellungsantrag werden 15.000 EUR angesetzt. Maßgeblich ist grundsätzlich der Wert des Gegenstandes des Rechtsverhältnisses, dessen Bestehen oder Nichtbestehen festgestellt werden soll (Zöller-Herget, § 3 Rn. 16.76).