Titel:
Erfolglose Klage der Standortgemeinde gegen Dienstleistungszentrum nach geringfügiger Standortverschiebung
Normenkette:
BauBG § 31 Abs. 2, § 36
Leitsätze:
1. Wird das Einvernehmen gem. § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB durch die Baugenehmigungsbehörde ersetzt, so steht der Standortgemeinde im Rahmen ihrer Klage gegen die Baugenehmigung ein Vollüberprüfungsanspruch im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Ersetzung ihres Einvernehmens zu. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird eine Baugenehmigung nicht nur entgegen der Versagung des gemeindlichen Einvernehmens, sondern gänzlich ohne Beteiligung der Gemeinde oder Ersetzung des Einvernehmens erteilt, so ist die Baugenehmigung auf die Klage der Standortgemeinde hin schon allein aus diesem Grunde erfolgreich. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Gemeinde kann gegen ein Bauvorhaben nicht mit Erfolg klagen, wenn sie dem Bauvorhaben zuvor fiktiv oder ausdrücklich das Einvernehmen nach § 36 BauGB erteilt hat. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auslöser für ein nochmaliges Erfordernis eines gemeindlichen Einvernehmens ist nicht der Aspekt, dass formal ein neuer Bauantrag gestellt wurde, sondern vielmehr die Frage, ob durch einen neuen Bauantrag das frühere Bauvorhaben wesentlich geändert wurde. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Klage einer Standortgemeinde gegen Befreiungen (u.a.) von einer Festsetzung über Verkehrsflächen, erneutes Erfordernis eines gemeindlichen Einvernehmens bei geringfügiger Standortverschiebung im Rahmen einer Planänderung (verneint), Klage einer Standortgemeinde gegen Befreiungen (ua) von einer Festsetzung über Verkehrsflächen, Vollüberprüfungsanspruch
Rechtsmittelinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 22.05.2024 – AN 3 K 22.02611
Fundstelle:
BeckRS 2024, 11878
Tenor
1.Die Klage wird abgewiesen.
2.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
3.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte oder die Beigeladene vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung für die Errichtung eines „technischen Dienstleistungszentrums mit 22 Stellplätzen, einer Garage mit Lagernutzung und einer Trafostation“ auf dem Grundstück FlNr. … der Gemarkung … (unbebautes Grundstück an der …*) in … Das eingangs genannte, großflächige und ursprünglich unbebaute Grundstück befindet sich im Stadtgebiet des Klägers als Standortgemeinde. Das Grundstück liegt im Bebauungsplan Nr. … „…“ aus dem Jahr 1998, welcher für den zur Bebauung anstehende Bereich hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein „eingeschränktes Gewerbegebiet“ (Einzelhandelsausschluss) festlegt. Im Bebauungsplan werden mittels Baugrenzen und dem abbiegenden Verlauf einer Stichstraße, welche in einem Wendehammer endet, auf dem Grundstück zwei Baufelder definiert. Diese zwei Baufelder werden durch vorgeschlagene Grundstücksteilungen weiter ausdifferenziert. Westlich grenzt an das streitgegenständliche Grundstück die … und dahinter Gewerbebauten an. Im Norden grenzt Wohnbebauung, im Süden Wohn- und Gewerbebebauung sowie im Osten eine Waldfläche an.
2
Mit mittlerweile zurückgezogenem, hier nicht streitgegenständlichem Bauantrag vom 8. Dezember 2021 beantragte die Beigeladene die Errichtung des eingangs genannten Vorhabens. Gleichzeitig wurden mehrere Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans beantragt (Firsthöhe, nichtüberbaubare Bereiche in einer Bauverbotszone „Waldfläche“; Baugrenzen; Lage der Zufahrts straße; Grundstücksparzellierung). Es handelte sich im Wesentlichen um ein identisches Vorhaben zum hier nunmehr streitgegenständlichen Vorhaben, jedoch sollte die Erschließungsstraße im Vergleich zum Bebauungsplan um ca. sechs Meter nach Süden verschoben werden. Der Abstand zwischen der nördlichen Bebauung und dem nördlichen Ende des Dienstleistungszentrums betrug mindestens sechs Meter. Der Kläger erteilte sein Einvernehmen zu den beantragten Abweichungen/Befreiungen auf Grund Beschluss des Bauausschusses vom 11. Januar 2022. Mit Schreiben vom 11. April 2022 wurde der Beigeladenen u.a. mitgeteilt, dass durch die Überschreitung der Baugrenze nach Süden und der damit verbundenen Bebauung der festgesetzten Straßenverkehrsfläche die Grundzüge der Planung berührt seien, welche nur durch eine Umplanung des Bebauungsplans durch den Kläger zu bewerkstelligen sei. In der Folge wurde der Bauantrag zurückgenommen.
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Mit Bauantrag vom 8. Juli 2022 begehrte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für das eingangs genannte Vorhaben. Auf dem Grundstück soll ein „Dienstleistungszentrum“ mit einer Grundfläche von ca. 3.000 m2 errichtet werden. Die Anlage besteht aus einer eingeschossigen Lagerhalle mit einer abgesenkten Laderampe für zwei Wechselcontainer (Wareneingang) und einem Ladehof für Lieferwagen (Warenausgang). Auf der Südseite ist ein zweigeschossiger Gebäudeteil integriert, in dem die Warenausgabe, Büroflächen, die Sozialräume für die Mitarbeiter sowie ein Schulungszentrum untergebracht sind. Zwischen Gebäude und der westlichen Grundstücksgrenze werden der Ladehof für den Wareneingang sowie die Stellplätze für Kunden und Mitarbeiter angeordnet. Im Westen – neben der dortigen Einfahrt – wird eine Fertiggarage als Zwischenlager für die Anlieferung durch externe Lieferanten außerhalb der Geschäftszeiten aufgestellt. Ebenso wird in der Nähe eine Trafostation errichtet. Die verbleibenden Freiflächen (ca. 20% der Grundstücksfläche) werden entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans begrünt.
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Neben dem Bauantrag wurden gleichzeitig zwei Anträge auf Befreiungen im Hinblick auf die Firsthöhe und im Hinblick auf „die Festsetzung von Ziffer 324 des Bebauungsplans, die im Bebauungsplan dargestellten Grenzen, Lage der Zufahrts straße und Anzahl der einzelnen Grundstücke sowie ihre Größe“ gestellt. Die Zufahrts straße wird um ca. zwei Meter Richtung Süden verschoben und es werde neu parzelliert. Weitere Anträge auf Befreiungen wurden auf Anforderung des Landratsamtes mit Schreiben vom 3. November 2022 gestellt. Diese betreffen die Überschreitung der Baugrenze durch die Fertiggarage, die Überschreitung der Baugrenze durch einen kleinen Teil der geplanten Warenausgabe im Südwesten und die Lage der Trafostation außerhalb der Fläche für Versorgungseinrichtungen.
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Mit Beschluss vom 19. Juli 2022 erteilte der Kläger sein Einvernehmen zur Befreiung von der Firsthöhe und verweigerte das Einvernehmen hinsichtlich der Verschiebung der Straßenverkehrsfläche, da die Grundzüge der Planung betroffen seien. Mit Schreiben vom 18. August 2022 wurde der Kläger zu einer beabsichtigten Ersetzung des Einvernehmens angehört. Das Landratsamt führt im Anhörungsschreiben aus, dass es sich streitgegenständlich um eine Umplanung handele, welche im Vergleich zu der Planung, der der Kläger bereits zugestimmt habe, vorwiegend eine Standortverschiebung nach Norden um drei Meter zum Gegenstand habe. Hierdurch hätten sich Unterschiede bezüglich der Befreiungen ergeben, die doch wesentlich besser bzw. geringfügiger von den Festsetzungen des Bebauungsplans abweichen würden, als es die ursprüngliche Planung getan habe, welcher der Kläger zugestimmt habe. Dies betreffe die Verschiebung der Lage der Erschließungsstraße, die Änderung der Grundstückseinteilung, die Überschreitung der Baugrenze nach Süden, die Lage der beantragten Trafostation und der Fertiggarage außerhalb der Baugrenze und auf der festgesetzten Verkehrsfläche sowie die Flächen zum Anpflanzen von Bäumen (hier: interne Grundstücksbepflanzung).
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Mit Schreiben vom 4. Oktober 2022 teilte der Kläger dem Landratsamt mit, dass der erste vorgelegte Bauantrag zusätzlich zu den drei Metern Abstand gemäß Bebauungsplan einen weiteren Abstand von vier Metern zur Grundstücksgrenze zu den nördlichen Nachbarn vorgesehen habe. Da hier die gewerbliche Bebauung von der Wohnbebauung abgerückt sei, habe der Kläger eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugestimmt. Das Landratsamt wiederum habe dem Bauvorhaben nicht zugestimmt, weil die Grundzüge der Planung vor allem wegen der Verschiebung der festgesetzten Straßenverkehrsfläche auf dem Grundstück und der Überschreitung der Baugrenze in den Süden betroffen gewesen seien. Eine Änderung des Bebauungsplans sei vom Kläger einstimmig abgelehnt worden. Im hiesigen Verfahren würden die Festsetzungen des Bebauungsplans im Norden (drei Meter Abstand von der Grundstücksgrenze) eingehalten. Trotzdem sei der Baukörper so groß, dass das Baufenster der Straßenführung um zwei Meter nach Süden verschoben werden müsse. Dieses Verschieben sei für das Landratsamt nun kein Tatbestand mehr, der die Grundzüge der Planung betreffe. Die Planungshoheit habe jedoch die Gemeinde. Der Kläger halte deshalb am Beschluss vom 19. Juli 2022 fest. Mit Email vom 4. November 2022 teilte die Verwaltung des Klägers mit, dass eine nochmalige Behandlung der Gemeindegremien im Hinblick auf die neuen Befreiungsanträge nicht mehr notwendig sei, da eine Befreiung von den Baugrenzen bereits abgelehnt worden sei. Ebenso werde auf eine nochmalige Anhörung verzichtet.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 15. November 2022 wurde der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung unter Erteilung von sechs Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans sowie unter Ersetzung des Einvernehmens des Klägers erteilt. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, dass keine Verletzung der Grundzüge der Planung gesehen würden. Die Verweigerung des Einvernehmens sei daher rechtswidrig. Nach Art. 67 Abs. 1 BayBO sei das verweigerte Einvernehmen des Klägers zu ersetzen.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 14. Dezember 2022 – hier eingegangen am gleichen Tag – ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben. Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2023 begründete der Kläger weitergehend und stellte Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Zur Begründung ist ausgeführt, dass dem Kläger nach der Rechtsprechung ein Anspruch auf volle Überprüfung der Ersetzungsentscheidung zukomme. Die Befreiungen, wobei im besonderen Maße die Befreiung im Hinblick auf die Verschiebung der Erschließungsstraße hinzuweisen sei, spielten eine erhebliche Rolle und hätten auch einen nahezu unausweichlichen Nachfolgeeffekt, womit die Gefahr bestehe, die Planungshoheit des Klägers auszuhebeln. Die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens im Hinblick auf die sechs gewährten Befreiungen sei rechtswidrig erfolgt. Die Rechtsfrage sei, ob die Grundzüge der Planung berührt würden. Seien die Grundzüge der Planung berührt, bedürfe es keiner weiteren Prüfung der sonstigen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB. Mit dieser Frage habe sich das Landratsamt im angefochtenen Bescheid nur ansatzweise beschäftigt. Durch eine großzügige Befreiungspraxis werde die Planungskompetenz des Klägers aus den Angeln gehoben.
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Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2022 beantragt der Kläger:
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Der Bescheid des Landratsamtes vom 15. November 2022 (Aktenzeichen …*) wird aufgehoben.
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Mit Schriftsatz vom 8. März 2023 beantragt der Beklagte,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass ein fehlendes Einvernehmen durch die Baugenehmigungsbehörde nach Art. 67 BayBO ersetzt werden dürfe, wenn es zu Unrecht verweigert worden sei, weil ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung bestehe. Handele es sich bei den materiell-rechtlichen Rechtsvorschriften um Ermessensvorschriften, müsse das Ermessen auf Null reduziert sein. Dies sei hier im Hinblick auf § 31 Abs. 2 BauGB gegeben.
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Mit Schriftsatz vom 23. Februar 2023 beantragt die Beigeladene,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Verletzung der Rechte des Klägers nicht in Betracht käme. Unklar sei, ob sich der Kläger gegen alle Befreiungen wende, da sich die Antragsbegründung im Wesentlichen nur mit der Verschiebung der Lage der im Bebauungsplan festgesetzten Erschließungsstraße auseinandersetze. Der Klägerseite sei entgegenzuhalten, dass sie sich mit ihrer eigenen Argumentation widersprüchlich verhalte. Zutreffend weise die Klägerseite darauf hin, dass ursprünglich die Vorhabenplanung eine Stellung der Baukörper vier Meter weiter südlich vorgesehen habe. Diesen Bauantrag, der eine Verschiebung der Erschließungsstraße um ca. sechs Meter nach Süden zum Inhalt gehabt habe, habe der Kläger sein Einvernehmen erteilt. Dem Landratsamt sei jedoch eine Verschiebung der Erschließungsstraße zu weitgehend erschienen, weshalb es nunmehr zu der streitgegenständlichen Umplanung gekommen sei. Insofern habe die Klägerseite inzident eingeräumt, dass eine Verschiebung sogar um sechs Meter die Planungshoheit der Klägerseite nicht verletzt habe. Das Klagevorbringen sei somit widersprüchlich. Der Kläger müsse sich insoweit den Grundsatz von Treu und Glauben entgegenhalten lassen.
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Mit Schriftsatz vom 7. März 2023 replizierte die Klägerseite hierauf nochmals.
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Mit Beschluss der erkennenden Kammer vom 14. April 2023 (AN 3 S 23.250) wurde der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Auf den Beschluss und seine Begründung wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2023 nahm der Klägerbevollmächtigte, nachdem das von ihm angestrebte Beschwerdeverfahren ohne Entscheidung in der Sache eingestellt wurde, nochmals Stellung. Die Rechtsausführungen der Kammer im Beschluss vom 14. April 2023 hätten nicht überzeugt. Die Kammer beziehe sich zur Begründung der Annahme eines Verstoßes gegen das Verbot der unzulässigen Rechtsausübung auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel. Das Verwaltungsgericht blende jedoch die gedanklichen Ansätze und die Struktur dieser Entscheidung aus und ziehe deshalb für den hier vorliegenden Fall die falsche Schlussfolgerung. Unberücksichtigt des bei dem Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgerichtshof Kassel strittigen Vorhabens, sei der dortige Verfahrensablauf bzw. Sachverhalt nicht mit dem hier vorliegenden vergleichbar. Der Rechtsirrtum des Verwaltungsgerichts sei darin zu sehen, dass ausweislich der Begründung dort die Auffassung vertreten werde, die Ersetzung sei rechtmäßig, falls sich die Gemeinde in der Begründung der Verweigerung widersprüchlich verhalte.
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Der Beklagte äußerte sich im Rahmen des Gerichtsverfahrens in der Sache nicht mehr weiter, teilte jedoch mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2023 mit, dass mit Antrag vom 19. Juli 2023 von der Beigeladenen ein ergänzender Bauantrag zum klagegegenständlichen Vorhaben gestellt worden sei.
19
Mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2023 nahm die Beigeladenenseite nochmals Stellung und übergab vom Gericht angeforderte Planunterlagen. Diese dienten u.a. der rechtssicheren Überprüfbarkeit, inwieweit in das Plangefüge (insbesondere die südlich des streitgegenständlichen Baufelds liegenden Baufelder) unmittelbar oder mittelbar durch Verschiebung der Erschließungsstraße eingegriffen wird. In tatsächlicher Hinsicht wird ausgeführt, dass den Antragsunterlagen auch eine Tabelle angefügt sei, aus der ersichtlich werde, dass die sich aus der Verschiebung der Erschließungsstraße ergebenden Flächenänderungen geringfügig seien.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 10. April 2024 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet, da der Kläger aufgrund seines mit Schreiben vom 20. Januar 2022 gegenüber dem Landratsamt erteilten Einvernehmens auch gegenüber dem nunmehr beantragten Vorhaben nicht mehr in eigenen Rechten verletzt sein kann (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22
Einem Kläger kommt im Rahmen einer Drittanfechtungsklage gegen eine an einen Dritten gerichtete Baugenehmigung kein Vollüberprüfungsanspruch zu. Vielmehr kann der Kläger als Nachbar nur solche Rechtsverletzungen ins Feld führen, die auf Normen beruhen, die in qualifizierter und individualisierter Weise gerade auch dem Schutz des Klägers dienen (BayVGH, B. v. 26.5.2020 – 15 ZB 19.2231 – juris Rn. 8).
23
Im Falle der Klage einer Standortgemeinde ergeben sich im Hinblick auf das Erfordernis des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 BauGB jedoch einige Besonderheiten. Das Erfordernis des Einvernehmens nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB dient dem Schutz der kommunalen Planungshoheit. Das Einvernehmen darf gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB nur aus den dort genannten bauplanungsrechtlichen Gründen versagt werden. Wird das Einvernehmen gemäß § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB durch die Baugenehmigungsbehörde ersetzt, so steht der Standortgemeinde im Rahmen ihrer Klage gegen die Baugenehmigung ein Vollüberprüfungsanspruch im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Ersetzung ihres Einvernehmens zu (BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 4 C 5/15 – juris Rn. 14 m.w.N. = BVerwGE 156, 1). Maßgeblich für die Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (BVerwG a.a.O.) Mithin sind die in § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB genannten Gründe auf Anfechtungsklage der Standortgemeinde hin vollständig zu überprüfen.
24
Wird dagegen eine Baugenehmigung nicht nur entgegen der Versagung des gemeindlichen Einvernehmens, sondern gänzlich ohne Beteiligung der Gemeinde oder Ersetzung des Einvernehmens erteilt, so ist die Baugenehmigung auf die Klage der Standortgemeinde hin schon allein aus diesem Grunde erfolgreich (BVerwG, U.v. 26.3.2015 – 4 C 1/14 – juris Rn. 17 = NVwZ-RR 2015, 685).
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1. Der Kläger kann sich nicht auf ein mit Schreiben vom 2. August 2022 verweigertes Einvernehmen berufen, da insofern das ursprüngliche Einvernehmen vom 20. Januar 2022 fortwirkt (1.1) und ein erneutes Einvernehmenserfordernis durch die reine Standortverlagerung im Rahmen des neuen Bauantrags vom 8. Juli 2022 bzw. 15. September 2022 nicht aufgeworfen wurde (1.2). Soweit die Kammer im Rahmen des vorhergehenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (AN 3 S 23.250) den gleichen Sachverhalt als Ausprägung eines Verstoßes gegen den Grundsatz von „Treu und Glauben“ gewertet hat, hält sie – lediglich im Hinblick auf die rechtliche Einordnung – hieran nicht mehr fest. Vielmehr sind die auch dort genannten tatsächlichen Aspekte rechtlich im Rahmen eines Fortwirkens eines ursprünglich erteilten Einvernehmens zu verorten.
26
1.1 Eine Gemeinde kann gegen ein Bauvorhaben dann nicht mit Erfolg klagen, wenn sie dem Bauvorhaben zuvor fiktiv oder ausdrücklich das Einvernehmen nach § 36 BauGB erteilt hat (BayVGH, B.v. 1.8.2019 – 1 CS 19.611 – juris Rn. 15 m.w.N., vgl. auch BVerwG, U.v. 12.12.1996 – 4 C 24/95 – juris Rn. 18 = NVwZ 1997, 900). Eine Ausnahme kann nur dann gelten, wenn bauplanungsrechtliche Aspekte, die zur Versagung des Einvernehmens berechtigt hätten, zum Zeitpunkt der Erteilung des Einvernehmens noch nicht existierten (BayVGH, B.v. 1.8.2019 – 1 CS 19.611 – juris Rn. 16 m.w.N.; BayVGH, U.v. 30.7.2013 – 15 B 12.147 – juris Rn. 25 ff. = BayVBl 2014, 110).
27
Vorliegend hat der Kläger sein Einvernehmen zum Bauantrag vom 3. Dezember 2021 mit Schreiben vom 20. Januar 2022 erteilt. Neuerliche bauplanungsrechtliche Aspekte, die zum Zeitpunkt der Erteilung des Einvernehmens am 20. Januar 2022 noch nicht existierten, sind nicht ersichtlich. Soweit sich die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung und auch im Schreiben zu ihrem verweigerten Einvernehmen vom 4. Oktober 2022 auf ein Heranrücken der Bebauung nach Norden beruft, ist zunächst festzuhalten, dass die nördliche Baugrenze im Bebauungsplan auch bezüglich des hier streitgegenständlichen Bauvorhabens nicht überschritten wird und insofern mangels Widerspruch zu den Festsetzungen des Bebauungsplans schon kein bauplanungsrechtliches Einvernehmen erforderlich ist. Bauordnungsrechtliche Belange – wie etwa die Abstandsflächen, welche im Übrigen eingehalten sind – sind für die Gemeinde nicht klagefähig (vgl. nur BayVGH, U.v. 18.4.1989 – 20 B 88.585 – juris Rn. 28 = BayVBl 1989, 689; vgl. auch B.v. 7.4.2022 – 9 N 19.2265 – juris Rn. 26 = BayVBl 2023, 853; B.v. 17.11.2014 – 22 ZB 14.1035 – juris Rn. 22). Soweit auf die Notwendigkeit einer Abwägung nachbarlicher Belange im Rahmen von § 31 Abs. 2 BauGB abgestellt wurde, ist zunächst auszuführen, dass die Abwägung dieser Belange nicht durch Befreiungen von Festsetzungen ausgelöst wurden, die die nachbarlichen Belange der nördlichen Grundstücksnachbarn berühren. Vielmehr sind sämtliche Befreiungen durch Überschreitungen im Süden ausgelöst. Der Kläger ist insofern nicht berechtigt, sich zum Sachwalter der Interessen seiner Bürger aufzuschwingen (BayVGH, B.v. 7.4.2022 – 9 N 19.2265 – juris Rn. 26 = BayVBl 2023, 853; B.v. 17.11.2014 – 22 ZB 14.1035 – juris Rn. 22). Daneben muss sich der Kläger vorhalten lassen, dass er der einzigen Befreiung, die wenigstens mittelbar für eine in der mündlichen Verhandlung reklamierte „optisch erdrückende Wirkung nach Norden“ bedeutsam sein könnte, auch im neuerlichen Verfahren das Einvernehmen erteilt hat. Der Kläger hat sowohl am 20. Januar 2022 und durch Beschluss vom 19. Juli 2022 (TOP 1.1) mit Stellungnahme vom 2. August 2022 (unter Verweis auf die dortigen Anlagen) der Überschreitung der mittigen Firsthöhe und damit mittelbar auch der zugrundeliegenden Außenwand – auch nach Norden hin – das Einvernehmen erteilt.
28
Insofern ist eine Rechtsverletzung des Klägers aufgrund des erteilten Einvernehmens vom 20. Januar 2022 ausgeschlossen.
29
1.2 Es ist auch durch den Bauantrag vom 8. Juli 2022 bzw. korrigierten Antrag vom 15. September 2022 kein erneutes Einvernehmenserfordernis ausgelöst worden. Auslöser für ein nochmaliges Erfordernis eines gemeindlichen Einvernehmens ist nicht der Aspekt, dass formal ein neuer Bauantrag gestellt wurde, sondern vielmehr die Frage, ob durch einen neuen Bauantrag das frühere Bauvorhaben wesentlich geändert wurde (vgl. Busse/Kraus BayBO Art. 64 Rn. 141). Dies kann etwa dann vorliegen, wenn etwa bisher nicht aufgeworfene Befreiungsfragen im Raum stehen (Busse/Kraus a.a.O.). Auch im Rahmen der hier fraglichen Standortverschiebung/Standortabweichung wird nicht automatisch ein erneutes Einvernehmenserfordernis ausgelöst, sondern vielmehr erst dann, wenn sich die Standortverschiebung als nicht unwesentlich oder eben planungsrechtlich erheblich darstellt (OVG Münster U.v. 18.8.2009 – 8 A 613/08 – juris Rn. 72 ff. m.w.N. = BauR 2010, 199; BayVGH, U.v. 18.4.1989 – 20 B 88.585 – juris Rn. 29 = BayVBl 1989, 689). Ob eine planungsrechtlich erhebliche Änderung vorliegt, ist eine Einzelfallfrage.
30
Nach diesen Grundsätzen ist nicht von einer planungsrechtlich relevanten Standortverschiebung auszugehen. Es handelt sich um eine bloße Standortverschiebung, denn auch die Klägerseite konnte keine Umplanung benennen, die sich nicht aus der bloßen Verschiebung der Örtlichkeiten ergibt. Auch das Gericht konnte keine – außerhalb der Verschiebung der Örtlichkeiten – veränderten Planungen feststellen.
31
Auch wenn sich mathematisch-rechnerische Größen jedenfalls pauschal als nicht zielführend für die Bestimmung der planungsrechtlichen Erheblichkeit erweisen, ist dennoch indiziell darauf hinzuweisen, dass es sich vorliegend um eine Verschiebung um nur 4 m weiter nach Norden im Vergleich zu der ursprünglichen Planung handelte. Diese Distanzen sind weit entfernt von den sonst genannten Distanzen von 20 m (BayVGH, U.v. 18.4.1989 – 20 B 88.585 – juris Rn. 29) oder 34 m und 68 m (OVG Münster, U.v. 28.11.2007 – 8 A 2325/06 – juris Rn. 112), wobei nicht verkannt wird, dass vorher zitierte Entscheidungen zu Außenbereichsvorhaben ergingen. Andererseits muss beachtet werden, dass es sich hier nicht um die Standortverschiebung eines Einfamilienhauses handelt, sondern um einen großflächigen Gewerbebetrieb, mit einer Grundfläche von ca. 4.900 qm, der auf einem ca. 17.000 qm großen Grundstück errichtet wird. Denknotwendig haben hierbei schon relativ kleine Änderungen eine größere absolute Veränderung zur Folge.
32
Entscheidend ist für die Kammer ohnehin vielmehr, dass keinerlei neue, nicht bereits bei Erteilung des Einvernehmens im Januar 2022 schon einschlägige Befreiungsnotwendigkeiten aufgeworfen wurden. Sämtliche Befreiungen im hiesigen Verfahren waren bereits Gegenstand des vorherigen Baugenehmigungsverfahrens und wurden geringfügig örtlich verschoben, so dass nicht von einem erneuten Aufwerfen der planungsrechtlichen Zulässigkeit gesprochen werden kann. Die Befreiungen stellen sich auch offensichtlich als nicht intensiver in die Festsetzungen des Bebauungsplans eingreifend dar als die Befreiungen, denen der Kläger seine Zustimmung bereits erteilt hatte. Auch die Klägerseite konnte bezüglich des hier streitgegenständlichen Bauantrags keine neuen Aspekte aufzeigen, aus denen sich das Aufwerfen einer gänzlich neuen Befreiungsnotwendigkeit ergibt. Sie stellte vielmehr auf den formalen Aspekt ab, dass ein erneuter Bauantrag bereits das Einvernehmenserfordernis auslöst. Dem ist aus oben genannten Gründen nicht zuzustimmen.
33
Auf weitere Aspekte des Falls kommt es damit nicht mehr an.
34
Nach alledem ist die Klage daher abzuweisen.
35
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Da sich die Beigeladene durch Stellung eines Sachantrags auf Klageabweisung selber einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO, ihr einen Kostenerstattungsanspruch zuzusprechen. Die Regelung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.