Inhalt

VG München, Urteil v. 16.04.2024 – M 1 K 22.1431
Titel:

Nutzungsänderung einer Gewerbeeinheit in Wohnfläche – Funktionslosigkeit der Festsetzung eines Mischgebiets

Normenketten:
BauGB § 34
BauNVO § 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit – erstens – die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt. Hinzutreten muss als zweite Voraussetzung eine bestimmte Offenkundigkeit des Mangels. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. In der sowohl qualitativ als auch quantitativ zu verstehenden Durchmischung von Wohnen und nicht wesentlich störendem Gewerbe liegt die normativ bestimmte besondere Funktion des Mischgebiets (§ 6 BauNVO). Hierfür kommt es darauf an, in welchem Verhältnis die dem Wohnen und die gewerblichen Zwecken dienenden Anlagen im Baugebiet nach Anzahl und Umfang zueinander stehen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baugenehmigung für Wohneinheit, Verpflichtungsklage, Bebauungsplan, festgesetztes Mischgebiet, Funktionslosigkeit (bejaht), Baugenehmigung, Wohnnutzung, Mischgebiet, allgemeines Wohngebiet, Funktionslosigkeit einer bauplanerischen Festsetzung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 11816

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt im Wege der Verpflichtungsklage die Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzungsänderung einer Gewerbeeinheit in Wohnfläche sowie für deren Ausbau.
2
Der Kläger ist Eigentümer an Teilflächen des nach dem WEG geteilten und mit einem Gebäude bebauten Grundstücks FlNr. 555/6 Gem. … (alle im Folgenden genannten Flurnummern gehören dieser Gemarkung an). Unter dem 16. November 2020 beantragte der Kläger die Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzungsänderung einer Gewerbeeinheit in Wohnfläche sowie Ausbau dieser Gewerbefläche auf diesem Vorhabengrundstück.
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Für das Vorhabengrundstück besteht der Bebauungsplan „…straße“ vom 22. Januar 1991, neu ausgefertigt am 6. März 2015 und rückwirkend in Kraft getreten zum 7. April 1992. Dieser setzt in dem fraglichen Bereich als Art der baulichen Nutzung ein Mischgebiet fest. Ferner besteht eine gemeindliche Stellplatzsatzung.
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Die Beigeladene verweigerte mit Beschluss vom 10. Dezember 2020 dem Vorhaben ihr gemeindliches Einvernehmen.
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Mit Schreiben vom 4. Januar 2021 bat das Landratsamt den Planer des Klägers um Vorlage eines Nachweises, aus dem sich die Zusammensetzung des festgesetzten Mischgebiets nach Wohn- und nach Gewerbeflächen entnehmen lässt.
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Mit Schreiben vom 10. März 2021 nahm der Planer des Klägers unter Beifügung von Unterlagen dahingehend Stellung, dass das Vorhaben den Gebietscharakter nicht verändere, weil der Schwerpunkt des Mischgebiets schon bei Wohnen liege. Das Verhältnis Wohnen/Gewerbe liege bei 0,8/0,2.
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Das Landratsamt bat die Beigeladene mit Schreiben vom 28. April 2021 um Stellungnahme zu den Feststellungen des Planers. Diesen lasse sich entnehmen, dass bereits jetzt schon die Wohnnutzungen überwögen und das Mischgebiet seiner gesetzlichen Zweckbestimmung nicht mehr nachkommen könne. Es werde um Mitteilung gebeten, ob der Bebauungsplan aufgehoben würde.
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Die Beigeladene bestätigte mit Beschluss vom 24. Juni 2021, dass die Planungsziele noch gegeben seien und der Bebauungsplan erhalten bleibe.
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Mit Bescheid vom 23. Februar 2022 lehnte der Beklagte nach Anhörung des Klägers den Bauantrag ab. Das Vorhaben sei planungsrechtlich unzulässig, weil es der Eigenart des Baugebiets widerspreche und in dem als Mischgebiet festgesetzten Baugebiet zudem ein beherrschendes Übergewicht der Wohnnutzung über die vorhandene gewerbliche Nutzung zur Folge hätte. Es entstünde damit faktisch ein allgemeines Wohngebiet.
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Der Kläger, vertreten durch seine Bevollmächtigte, hat am *. März 2022 Klage erhoben und beantragt,
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Der Bescheid des Landratsamtes Rosenheim vom 23. Februar 2022 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, die beantragte Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung einer Gewerbeeinheit in Wohnfläche sowie Ausbau dieser Gewerbefläche zu einer Wohnung auf dem Grundstück FlNr. 555/6 Gem. … zu erteilen.
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Der Urbebauungsplan aus dem Jahr 1992 sei unwirksam. Er setze das zulässige Maß der baulichen Nutzung als GRZ und GFZ fest, die baufensterbezogen statt bezogen auf das jeweilige Baugrundstück festgesetzt worden seien. Ferner seien die Maßfestsetzungen teilweise unbestimmt. Der Bebauungsplan sei hinsichtlich der Festsetzung der Art der baulichen Nutzung funktionslos. Es handele sich tatsächlich nicht um ein Mischgebiet, sondern um ein allgemeines Wohngebiet, weil nahezu ausschließlich Wohnnutzung vorzufinden sei. Die anzutreffenden gewerblichen Nutzungen seien im Übrigen jedenfalls überwiegend auch in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig. Die Wohnnutzung überwiege die gewerblichen Nutzungen quantitativ und qualitativ deutlich. Das Vorhaben füge sich nach § 34 BauGB ein.
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Der Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Das Landratsamt habe keine Normverwerfungskompetenz und daher den Bebauungsplan im Baugenehmigungsverfahren anzuwenden. Ohne gemeindliches Einvernehmen habe die Baugenehmigung nicht erteilt werden können. Der Beigeladenen sei mitgeteilt worden, dass schon jetzt die zu Wohnzwecken dienende Nutzungen überwögen und das Mischgebiet seiner Zweckbestimmung nicht mehr nachkommen könne. Es sei empfohlen worden, den Bebauungsplan aufzuheben, jedoch sei die Gemeinde der Auffassung, dass die Planungsziele noch gegeben seien.
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Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
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Aufgrund Beweisbeschlusses vom 1. August 2023 hat die Kammer am 16. April 2024 ein Ortsaugenschein durchgeführt. Zu den dort getroffenen Feststellungen wird auf die Niederschrift und die angefertigten Lichtbilder verwiesen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.
I.
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Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung entsprechend seinem Antrag vom 16. November 2020 für die Nutzungsänderung einer Gewerbeeinheit in Wohnfläche und Ausbau dieser Wohnfläche auf dem Grundstück FlNr. 555/6 Gem. …, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Dem Vorhaben stehen keine Vorschriften entgegen, die im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß Art. 59 BayBO zu prüfen sind. Insbesondere entspricht das Bauvorhaben den planungsrechtlichen Vorgaben nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO, §§ 29 bis 38 BauGB.
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1. Das Vorhaben ist als Innenbereichsvorhaben nach § 34 Abs. 1 BauGB zulässig.
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a) Das Vorhaben ist nach der Art der baulichen Nutzung nicht nach § 30 Abs. 1 BauGB an den Vorgaben des Bebauungsplans „…straße“ vom 22. Januar 1991 zu messen, weil dessen hier einschlägige Festsetzung zur Art der baulichen Nutzung funktionslos geworden ist.
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Die Beigeladene hat für das Plangebiet, in dem das Vorhabengrundstück liegt, ein Mischgebiet festgesetzt. Diese Festsetzung ist, wie der Augenschein ergeben hat, funktionslos geworden und kann dem Vorhaben nicht entgegengehalten werden.
24
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Rn. 35) tritt eine bauplanerische Festsetzung wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit – erstens – die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt. Hinzutreten muss als zweite Voraussetzung eine bestimmte Offenkundigkeit des Mangels. Die zur Funktionslosigkeit führende Abweichung zwischen der planerischen Festsetzung und der tatsächlichen Situation muss in ihrer Erkennbarkeit einen Grad erreicht haben, der einem dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt. Dabei wird eine Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit gesprochen werden (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 4; v. 28.4.2004 – 4 C 10/03 – juris RN. 15).
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Diese – lediglich in seltenen Ausnahmefällen – anzunehmenden Voraussetzungen der Funktionslosigkeit sind hier bei der Mischgebietsfestsetzung erfüllt.
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aa) Ein Mischgebiet als Baugebietstyp ist gemäß § 6 Abs. 1 BauNVO dadurch gekennzeichnet, dass es sowohl dem Wohnen als auch der Unterbringung von Gewerbegebieten dient, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Dabei stehen die beiden Hauptnutzungsarten als gleichwertige Funktionen nebeneinander. Dieses gleichwertige Nebeneinander bedeutet, dass keine der Nutzungsarten ein deutliches Übergewicht über die andere gewinnen darf. In der sowohl qualitativ als auch quantitativ zu verstehenden Durchmischung von Wohnen und nicht wesentlich störendem Gewerbe liegt die normativ bestimmte besondere Funktion des Mischgebiets. Hierfür kommt es darauf an, in welchem Verhältnis die dem Wohnen und die gewerblichen Zwecken dienenden Anlagen im Baugebiet nach Anzahl und Umfang zueinander stehen, wobei nicht erforderlich ist, dass die beiden Nutzungen zu genau oder annähernd gleichen – wie auch immer rechnerisch zu bestimmenden – Anteilen im Gebiet vertreten sind. Allerdings wird die Bandbreite der typischen Eigenart des Mischgebiets auch nicht erst dann verlassen, wenn eine der beiden Hauptnutzungsarten als eigenständige Nutzung völlig verdrängt wird. Um ein „Umkippen“ des Gebietes zu verhindern und seine Eigenart zu wahren, ist es erforderlich, dass im jeweiligen Gebiet eine der beiden Hauptnutzungsarten nicht nach Anzahl und/oder Umfang beherrschend und in diesem Sinn „übergewichtig“ in Erscheinung tritt. Die Störung des Mischverhältnisses kann sich dabei aus einem übermäßig großen Anteil einer Nutzungsart an der Grundfläche des Baugebietes, aber auch aus anderen Umständen, z.B. einem Missverhältnis nach Geschossflächen oder der Zahl der eigenständigen gewerblichen Betriebe im Verhältnis zu den vorhandenen Wohngebäuden oder aus mehreren Merkmalen zusammen ergeben. Es kommt also auf die tatsächlichen Umstände im Einzelfall an (vgl. BVerwG, U.v. 4.5.1988 – 4 C 34.86 – juris Rn. 18f.).
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bb) Der Augenschein hat zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der Umgriff des festgesetztes Mischgebiets weit überwiegend wohngenutzt ist und die vorhandenen gewerblichen Nutzungseinheiten in ihrer Zahl, vor allem aber in ihrem wahrnehmbaren Umfang dem Wohnen deutlich untergeordnet sind. Das erforderliche Mischungsverhältnis für ein Mischgebiet besteht damit nicht. Die diesbezüglichen Einschätzungen der Klage- und der Beklagtenpartei wurden damit bestätigt.
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Der maßgebliche Umgriff des Mischgebiets, die der Bebauungsplans „…straße“ festsetzt, besteht heute aus dreizehn Grundstücken. Diese wiederum verfügen zum größeren Teil über mehrere Nutzungseinheiten in Form von Mehrfamilienhäusern. Ganz überwiegend ist Wohnnutzung vorhaben, lediglich vier kleine gewerbliche Nutzungseinheiten …betrieb des Klägers, Backshop mit Metzgerei, IT-Firma, Sanitärfirma) sind anzutreffen, ferner als weitere Nicht-Wohnnutzung eine Heilpraktikerpraxis und ein Innenarchitekturbüro. Es liegt damit schon eine verhältnismäßig geringe Anzahl gewerblicher Nutzungseinheiten vor. Entscheidend ist jedoch deren dem Wohnen völlig untergeordneter Umfang. Allein bei Betrachtung der jeweiligen Grundstücke mit gewerblicher Nutzung wird offenbar, dass in keinem der Fälle ausschließlich Gewerbe ausgeübt wird. Vielmehr tritt die gewerbliche Nutzung auf dem jeweiligen Grundstück der ebenfalls vorhandenen Wohnnutzung hinzu, die ihrerseits von ihrem Umfang, insbesondere von der beanspruchten Geschossfläche, das jeweilige Gewerbe deutlich dominiert. Nicht einmal bei dem flächenmäßig wohl größten Betrieb, der Metzgerei mit Backshop, ist das Grundstück hälftig gewerblich geprägt, vielmehr befinden sich im hinteren Gebäudeteil sowie auf den oberen Etagen erkennbar Wohnnutzung. Bei den anderen Betrieben ist die gewerbliche Nutzung flächenmäßig noch geringfügiger und teils überhaupt erst aus nächster Nähe erkennbar. Im gesamten Gebiet bleiben die Gewerbeeinheiten vereinzelt und dem dominierenden Wohnen untergeordnet. Die Mischgebietsfestsetzung hat ganz offenkundig ihre städtebauliche Steuerungsfunktion verloren. Der Wandel der Art der Nutzung hat auch einen Grad erreicht, dass ein Vertrauen in die Festsetzung nicht mehr schutzwürdig ist. Es besteht vielmehr die Gebietsprägung eines allgemeinen Wohngebiets, weil vorwiegend Wohnen anzutreffen ist (§ 4 Abs. 1 BauNVO) und in dem die vorgefundene Nicht-Wohnnutzung jedenfalls überwiegend gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2, § 13 BauNVO zulässig ist.
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Aus der vorgefundenen Situation ergibt sich weiter, dass auf absehbare Zeit nicht mit der Schaffung von ausreichend gewerblichen Nutzungen zu rechnen ist, damit ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Wohnnutzungen und gewerblichen Nutzungen im Sinne eines Mischgebiets entstünde. Insbesondere ist davon auszugehen, dass die vorgefundene und das Gebiet prägende Wohnnutzung auch künftig Bestand hat. Es ist weder vorgetragen noch ansatzweise ersichtlich, dass es sich dabei um ungenehmigte Nutzungen handelt, die bauaufsichtlich aufgegriffen werden könnten. Dieser Befund, dass die tatsächliche Entwicklung einen Zustand erreicht hat, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, gilt umso mehr, als im Umgriff keine nennenswerten unbebauten Flächen vorhanden sind, deren – unterstellte – gewerbliche Nutzung zu einem Mischgebietsverhältnis führen würde.
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c) Das Vorhaben fügt sich nach der Art der baulichen Nutzung – Wohnen – in seine Umgebung ein, § 34 Abs. 1, Abs. 2 BauGB, § 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO. Das Vorhaben ist auch im Übrigen planungsrechtlich zulässig. Die weiteren Vorgaben, sei es des Bebauungsplans im Übrigen oder der weiteren Einfügensmerkmerkmale gemäß § 34 Abs. 1 BauGB, sind ersichtlich eingehalten.
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2. Das Vorhaben ist auch mit den weiteren zu prüfenden Vorschriften vereinbar. Insbesondere sind die Anforderungen der gemeindlichen Stellplatzsatzung (vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c, Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 BayBO), mit den in den Bauvorlagen dargestellten sechs Stellplätzen erfüllt (vgl. zu der erforderlichen Anzahl § 3 Abs. 1 Stellplatzsatzung i.V.m. Nr. 1.2 und 8.1 der Anlage: zwei Stellplätze je Wohnung und 1 Stellplatz je 50 m² betrieblicher Nutzfläche).
II.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Beigeladene trägt keine Kosten, weil sie keinen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), gleichzeitig entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten gemäß § 162 Abs. 3 VwGO selbst trägt. Die Vollstreckbarkeitsentscheidung folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.