Inhalt

OLG München, Beschluss v. 14.05.2024 – 23 U 8369/21
Titel:

Zustelldatum im Empfangsbekenntnis

Normenketten:
ZPO § 174 Abs. 4 S. 1 (idF bis zum 31.12.2021)
BRAO § 53 Abs. 1 Nr. 1, § 54 Abs. 2
Leitsätze:
1. Eine erhebliche zeitliche Diskrepanz zwischen dem Zeitpunkt der Übersendung des Dokuments und dem im Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatum erbringt den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums für sich genommen noch nicht (vgl. BGH BeckRS 2021, 33339). Gleichzeitig dürfen an den Beweis der Unrichtigkeit des EB aufgrund der Beweisnot der beweisführenden Partei keine überspannter Anforderungen gestellt werden. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gem. § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gem. § 54 Abs. 2 S. 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Empfangsbekenntnis, Zustelldatum, beA-Nachrichtenjournal
Vorinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 26.04.2024 – 23 U 8369/21
OLG München, Hinweisbeschluss vom 27.02.2024 – 23 U 8369/21
LG München I, Teilurteil vom 05.10.2021 – 31 O 16817/19 (2)
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 19.06.2024 – 23 U 8369/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 11754

Tenor

1. Der Termin vom 16.05.2024, 10:30 Uhr, wird abgesetzt.
2. Der Senat erwägt, nach erneuter vorläufiger Bewertung des aktuellen Verfahrensstandes, die Berufung gegen das Teilurteil des Landgerichts München I vom 05.10.2021, Az. 31 O 16817/19 (2), gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen.
3. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 14.06.2024.

Gründe

1
Nach erneuter vorläufiger Bewertung des aktuellen Verfahrensstandes erwägt der Senat, die Berufung des Beklagten gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen, weil die Berufungsfrist gemäß § 517 ZPO nicht gewahrt wurde.
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1. Die Berufung ist am 22.11.2021 (Montag) beim OLG München eingegangen.
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2. Bei einer erneuten und nach wie vor vorläufigen Würdigung der Sach- und Rechtslage geht der Senat derzeit davon aus, dass die Berufungsfrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war, weil dem Beklagtenvertreter das Landgerichtsurteil schon deutlich früher, jedenfalls vor dem 20.10.2021 gemäß § 174 Abs. 1 ZPO (in der hier einschlägigen Fassung bis 31.12.21, im Folgenden aF) zugestellt wurde.
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2.1 Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (im Folgenden: EB) ist gemäß § 174 Abs. 1 ZPO aF dann als bewirkt anzusehen, wenn der Rechtsanwalt das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen (BGH NJW 2012, 2116 Tz. 6).
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Dabei beweist das EB gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO aF und der darin enthaltenen gesetzlichen Beweisregel grundsätzlich das in ihm angegebene Zustelldatum (BGH NJW--RR 2021, 1584 Tz. 19). Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des EB ist zwar zulässig, setzt aber voraus, dass die Beweiswirkung des § 174 ZPO aF vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des EB richtig sein können; die bloße Möglichkeit der Unrichtigkeit genügt nicht (BGH aaO; Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Tz. 12). Eine erhebliche zeitliche Diskrepanz zwischen dem Zeitpunkt der Übersendung des Dokuments und dem im FR angegebenen Zustelldatum erbringt den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums für sich genommen noch nicht (BGH NJW 2012, 2116 Tz. 8; NJW RR 2021, 1584 Tz. 11; MüKoZPO/Häublein/Müller ZPO, 6. Aufl. 2020, § 174 Rn. 15). Auch das Datum des Eingangs der elektronischen Nachdem ist insoweit nicht hinreichend aussagekräftig, da dies nicht mit dem Zustelldatum gleichgesetzt werden kann: Für letzteres bedarf es darüber hinausgehend der Kenntniserlangung und empfangsbereiten Entgegennahme seitens des Rechtsanwalts (BGH NJW2024, 1120 Tz. 10: Zöller/Schultzky, ZPO 35. Aufl. 2024, § 173 Rn. 15). Gleichzeitig dürfen indes an den Beweis der Unrichtigkeit des EB aufgrund der Beweisnot der beweisführenden Partei keine überspannter Anforderungen gestellt werden (BGH NJW 2009, 855 Tz. 8 Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Tz. 12).
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2.2 Nach diesen Grundsätzen könnte hier bei vorläufiger Gesamtwürdigung des nunmehrigen Verfahrensstoffes davon auszugehen sein, dass entgegen dem in dem EB des Beklagtenvertreters vermerkten Zustelldatum die Zustellung des Landgerichtsurteils an ihn bereits deutlich) vor dem 22.10.2021, jedenfalls vor dem 20.10.2021 erfolgt ist. Hierfür sprechen, nach derzeitigem Sach- und Streitstand, die folgenden Aspekte:
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2.2.1. Der Beklagtenvertreter hat entgegen der Anordnung im Beschluss des Senats vom 26.04.2024 (BI. 381/384 d.A.) das beA-Nachrichtenjournal zu der Übersendung des Landgerichtsurteils nicht vorgelegt, ohne dies plausibel zu erläutern. Insoweit ist § 427 ZPO entsprechend zu beachten (Thomas/Putzo/Seiler. ZPO. 45. Aufl. 2024, § 142 Rn. 5).
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Der Senat hatte in dem Beschluss das beA-Nachrichtenjournal angefordert, das ausweist, wann die Nachricht des Landgerichts eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat (vgl. Beschluss unter Ziff. 2.3.1., BI. 382 d.A.). Was dieses beA-Nachrichtenjournal genau ist, ergibt sich überdies auch unzweideutig aus dem öffentlich zugänglichen Handbuch der Bundesrechtsanwaltskammer für beA (im Folgenden: beA-Handbuch). In diesem Journal ist danach u.a. gespeichert, wann eine empfangene Nachricht durch einen Benutzer erstmals geöffnet wurde („Gelesen von“-Vermerk, beA-Handbuch S. 174). Das Handbuch ist im Internet abrufbar (https://handbuch.bea-brak.de) und wird damit vom Senat als offenkundig behandelt (§ 291 ZPO).
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Das von dem Beklagtenvertreter mit Schriftsatz vom 13.05.2024 vorgelegte Anlagekonvolut mit Dateiauszügen ist kein Ausdruck dieses beA-Nachrichtenjournals mit der Angabe, wann welcher Benutzer die Nachricht des Landgerichts erstmals geöffnet hat. Letztere Information lässt sich dem Konvolut, das lediglich dokumentiert, wann die Nachricht des Landgerichts vom System des Beklagtenvertreters empfangen wurde (hierzu sogleich), nicht entnehmen. Der Beklagtenvertreter beschreibt im Schriftsatz vom 13.05.2024 das Anlagenkonvolut als die „mitgesendeten Dateien “. Gefordert war hier aber keine mitgesendete Datei, sondern der Ausdruck des von dem System des Beklagtenvertreters generierten beA-Nachrichtenjournals.
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Der Beklagtenvertreter hat bislang nicht erläutert, wieso er dieses Nachrichtenjournal mit der geforderten Angabe auf die Anforderung des Gerichts hin nicht übersandt hat, sondern stattdessen lediglich einen sonstigen Dateiauszug. Das Journal ist für den Postfachinhaber, also den Beklagtenvertreter jederzeit ohne weiteres abrufbar. Dies ergibt sich aus dem Newsletter der Bundesrechtsanwaltskammer zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach Ausgabe 8/2017 vom 23.2.2017. Der Newsletter ist im Internet abrufbar (https://www.brak.de/fileadrnin/05 zur rechtspolitik/newsletter/bea-newsletter/2017/ausgabe-8-2017-v-23022017.news.html) und wird ebenfalls vom Senat gemäß § 291 ZPO als offenkundig behandelt.
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2.2.2. Des Weiteren bestätigt der vom Beklagtenvertreter vorgelegte Dateiauszug, dass das am 07.10.2021 an den Beklagtenvertreter per beA übersandte Landgerichtsurteil am 07.10.2021 um 8:34 Uhr zugegangen ist und in der gleichen Minute noch empfangen wurde (Anhang zum Schriftsatz vom 13.05.2024 S. 1). Ausweislich des beA-Handbuchs (S. 130) bedeutet dabei Zugang, dass die Nachricht erfolgreich bei dem Intermediär des Empfängers abgelegt wurde. Empfang bedeutet weltergehend, dass das beA-System des Empfängers, hier also des Beklagtenvertreters, die Nachricht erhalten hat und ab da die Nachricht in seinem beA-Postfach sichtbar wird (beA-Handbuch S. 130). Ein Störungsfall, der zu einer Abweichung von Empfangs- und Zugangszeitpunkt führen würde (beA-Handbuch S. 130), lag also ersichtlich nicht vor.
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Es ist derzeit nicht erkennbar und wurde von dem Beklagtenvertreter auch nicht erläutert wieso gleichwohl zwischen dieser Sichtbarkeit der Nachricht im Postfach des Beklagtenvertreters ab 07.10.2021, 8.34 Uhr und dem im EB angegebenen Zustelltag (22.10.2021) mehr als zwei Wochen liegen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2. Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat (vgl. BeckOK BRAO/Günther, 22. Ed. 1.2.24, BRAO § 54 Rn. 8 f.; Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Tz. 8). Hinzu kommt, dass der Beklagtenvertreter – gleichfalls bislang ohne Erläuterung – das EB erst unter dem Datum 04.11.2021 gezeichnet und dann erst mit Fax vorn 19.11.2021 (9:41 Uhr) an das Landgericht übersandt hat. nachdem er zuvor bereits dreimal (am 21.10.21, am 4.11.21, am 17.11.21) vom Landgericht dazu gemahnt worden war.