Inhalt

VG Regensburg, Urteil v. 21.05.2024 – RN 2 K 23.31459
Titel:

 Erfolgreiche Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Eritrea)

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1
Anerkennungs-RL Art. 10 Abs. 1d
Istanbul-Konvention Art. 60 Abs. 1
GK Art. 60 Abs. 2
Leitsätze:
Frauen im militärischen Teil des eritreischen Nationaldienstes bilden eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG und sind aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit geschlechtsspezfischer Verfolgung ausgesetzt. (Rn. 40)
1. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass unverheiratete und kinderlose Frauen bei einer Rückkehr nach Eritrea tatsächlich in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen werden, auch wenn in der Regel die Rekrutierung über das Schulsystem erfolgt, denn bei einer Rückkehr am Flughafen findet eine Einreisekontrolle statt, bei der der Nationaldienststatus erfragt wird und eine ledige und kinderlose Frau, die noch keinen Dienst geleistet hat, wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zeitnah ihren Nationaldienst im militärischen Bereich ableisten müssen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreer angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen und entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Gewalt gegen Frauen sind nach der Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
4. In Eritrea droht Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von staatlichen Akteuren eine Verfolgung in Form sexueller Gewalt wegen Zugehörigkeit zur abgegrenzten sozialen Gruppe weiblicher Rekrutinnen. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft., Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes. Definition der bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben nach dem Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21)., Asylklage, Eritrea, Flüchtlingseigenschaft, kinderlose Frau, Nationaldienst, Militär, Einberufung, Rückkehr, Einreisekontrolle, sexuelle Gewalt
Fundstelle:
BeckRS 2024, 11652

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen die vollständige Ablehnung ihres Asylantrags.
2
Die Klägerin ist am … geboren und eritreische Staatsangehörige mit tigrinischer Volkszugehörigkeit und sunnitisch-islamischem Glauben. Am 15.7.2020 reiste sie auf dem Landweg aus Österreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 4.9.2020 einen förmlichen Asylantrag.
3
Am 4.9.2020 fand die persönliche Anhörung der Klägerin durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) statt. Dabei gab die Klägerin u.a. an, in Saudi-Arabien geboren und aufgewachsen zu sein. Sie haben ihren Reisepass bei der eritreischen Botschaft in Riad beantragt. Der Pass sei 2018 ausgestellt worden, sie habe ihn aber unterwegs in Mazedonien verloren. Am 15.5.2018 sei sie nach Eritrea gereist, weil sie dorthin mit ihrer ganzen Familie abgeschoben worden sei. Ihren eritreischen Reisepass habe sie dabeigehabt. Sie sei 40 Tage in Eritrea gewesen und habe sich bei ihrer Tante in Asmara aufgehalten. Dann habe sie ein Visum bei der türkischen Botschaft in Asmara beantragt und sei in die Türkei ausgereist. Bei der Ausreise habe es keine Probleme gegeben. Sie sei dann weitergereist und habe in Ungarn Schutz bekommen. In Saudi-Arabien habe sie die Schule bis zur 12. Klasse besucht. Danach habe sie ein Semester Public Health studiert. Wehr- bzw. Nationaldienst habe sie nicht geleistet. Ihr Stamm heiße Jaberty, wann ihre Familie aus Eritrea ausgereist sei, wisse sie nicht genau. Ihre Mutter sei nach Erzählungen damals sechs Jahre alt gewesen, jetzt sei sie ungefähr 50 Jahre alt. Befragt nach ihrem Verfolgungsschicksal gab die Klägerin an, bei der Einreise nach Eritrea keine Probleme gehabt zu haben. Am Flughafen habe man nur wissen wollen, wohin sie wolle und wo sie sich niederlassen wollten. Geld habe sie für die Einreise nicht bezahlen müssen. Bei ihrer Ausreise habe sie vielleicht nur Geld für das Visum in die Türkei zahlen müssen, sie wisse es aber nicht. Die Frage, ob sie mit einem Reisepass erneut ganz normal nach Eritrea einreisen könne, verneinte die Klägerin und erklärte, dass sie zum Militärdienst eingezogen würde. Einen Monat, nachdem sie nach Eritrea eingereist seien, seien Leute vom Rekrutierungsamt zu ihrer Tante gekommen. Man habe sie aufgefordert, dass sie sich mit ihrem Bruder in Sawa melden solle. Außer der Aufforderung sei nichts passiert. Sie hätte sich zwei Monate nach der Aufforderung in Sawa melden müssen. Bei einer Rückkehr nach Eritrea befürchte sie, sofort zum Militärdienst eingezogen zu werden. Man werde eingezogen und bleibe sein Leben lang Soldat. Die Tradition der Beschneidung in Eritrea kenne sie nicht.
4
Nach einer Mitteilung der ungarischen Behörden vom 10.9.2020 wurde der Klägerin in Ungarn subsidiärer Schutz gewährt. Der Asylantrag der Klägerin wurde daraufhin mit Bescheid vom 18.12.2020 als unzulässig abgelehnt. Dieser Bescheid wurde auf die Klage der Klägerin mit Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 24.2.2023 aufgehoben.
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Mit Schriftsatz vom 14.12.2024 ließ die Klägerin eine Untätigkeitsklage zum Verwaltungsgericht Regensburg erheben.
6
Mit Bescheid vom 16.1.2024, als Einschreiben zur Post gegeben am 26.1.2024, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Unter Ziffer 5 wurde der Klägerin die Abschiebung nach Eritrea angedroht.
7
Mit Schriftsatz vom 31.1.2024 bezog der Klägervertreter den Bescheid vom 16.1.2024 in die Klage ein und erklärte den Rechtsstreit insoweit für erledigt, als beantragt war, die Beklagte zur verpflichten, das Asylverfahren der Klägerin fortzusetzen und unverzüglich über deren Asylantrag zu entscheiden.
8
Die Klage wird u.a. damit begründet, dass bereits der ungarischen Anerkennungsentscheidung Bindungswirkung mit der Folge zukomme, dass der Klägerin auch in der Bundesrepublik der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen sei. Der Klägerin drohe auch ein ernsthafter Schaden aufgrund der einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, da sie im dienstpflichtigen Alter sei. Der Gefahr einer Einberufung könne die Klägerin auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus entgehen. U.a. bei einer zwangsweisen Rückführung komme dieser Status von vornherein nicht in Betracht. Der Klägerin sei daher zumindest der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen.
9
Die Klägerin beantragt zuletzt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.1.2024, zugestellt am 29.1.2024, Az. …, zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf Eritrea vorliegen.
10
Das Bundesamt beantragt für die Beklagten,
die Klage gegen den Bescheid vom 25.1.2024 abzuweisen.
11
Das Bundesamt bezieht sich zur Klagebegründung auf die angefochtene Entscheidung.
12
Mit Schriftsatz vom 6.3.2024 verzichtete das Bundesamt auf eine mündliche Verhandlung.
13
Mit Schriftsatz vom 12.3.2024 verzichtete der Klägervertreter auf eine mündliche Verhandlung Mit Beschluss vom 4.4.2024 wurde der Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 S. 1 Asylgesetz (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter. Mit Einverständnis der Beteiligten konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
16
Die Klage ist zulässig und begründet. Die ursprünglich erhobene Untätigkeitsklage konnte nach Erlass des Bescheides vom 16.1.2024 ohne Weiteres in eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage umgestellt werden (vgl. Kopp/Schenke, 26. Auflage 2020, § 75 VwGO, Rn. 21 m.w.N.). Die Klägerin hat aufgrund der ihr bei einer Rückkehr nach Eritrea drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erweist sich daher als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Damit war die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des ablehnenden Bescheids zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
17
1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Eine Verfolgung i.S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 11.8.2016 – Au 1 K 16.30744 – juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
18
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris m.w.N.).
19
2. Nach diesem Maßstab hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG, da ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes und dort eine geschlechtsspezifische Verfolgung in Form sexueller Übergriffe droht.
20
a. Nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters droht der Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, die sie auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus vermeiden kann.
21
Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 15; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). Freigestellt vom aktiven Nationaldienst sind von Rechts wegen Personen, die ihren Dienst vor Inkrafttreten der Proklamation abgeleistet hatten sowie ehemalige Kämpfer und Militärangehörige, vgl. Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995.
22
Die zum Zeitpunkt der Entscheidung 27-jährige Klägerin ist im dienstpflichtigen Alter. Nach den vorliegenden Erkenntnissen kann insbesondere nicht angenommen werden, dass Dienstpflicht für Frauen bereits mit Eintritt des 27. Lebensjahres endet. Zwar spricht der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 14) von einer Dienstpflicht für Frauen bis zum 27. und für Männer bis zum 50. Lebensjahr. Er führt jedoch gleichzeitig aus, dass nach anderen Angaben die Dienstpflicht für Frauen bis zum 47. und für Männer bis zum 57. Lebensjahr bestehe (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 14). Insoweit liegt hierin schon keine klare Aussage zu einem Ende der Dienstpflicht für Frauen mit 27 Jahren. Vor dem Hintergrund der Regelung in der Proklamation scheinen sich diese Angaben auch nicht auf die gesetzlichen Regelungen zur Dienstpflicht zu beziehen, sondern auf die praktische Handhabung. Aus der Erkenntnismittellage ergibt sich insbesondere nicht, dass Frauen ab dem 27. Lebensjahr generell offiziell entlassen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich um inoffizielle Entlassungen handelt. Auch wird von Frauen berichtet, die in einem Alter von 40 Jahren noch dienen (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer Informationsbericht, September 2019, S. 36). Auch der aktuelle Bericht des Home Office „Country Policy and Information Note, Eritrea: National Service and illegal exit vom September 2021 spricht auf Seite 12 von einem Höchstdienstalter für Frauen von 47 Jahren. Ferner nennt Art. 17 der Nationaldienst-Proklamation den Abschluss der Dienstpflicht oder die Freistellung davon als Bedingung für die Ausstellung des Ausreisevisums (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer Informationsbericht, September 2019, S. 46). In der Praxis zur Ausstellung von Ausreisevisa findet sich eine Grenze von 27 Jahren jedoch nicht. Vielmehr wird darauf abgestellt, dass die Freistellung belegt werden kann. Dies spricht gegen eine generelle Altersgrenze und lediglich für die Möglichkeit einer Freistellung, die jedoch für den Fall der Ausreise nachgewiesen werden muss. Im Hinblick auf ein Mindestalter für die Ausreise wird für Frauen vielmehr angeführt, dass sie ab dem Alter von 30 Jahren ein Ausreisevisum erhalten können, außer sie hätten Kinder (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer Informationsbericht, September 2019, S. 46).
23
Der Nationaldienstpflicht der Klägerin steht nicht entgegen, dass sie in Saudi-Arabien geboren und aufgewachsen ist. Da die Nationaldienstpflicht nach Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 nur an die eritreische Staatsangehörigkeit anknüpft, unterfallen auch im Ausland geborene eritreische Staatsangehörige der Dienstpflicht (vgl. GIGA Gutachten für das VG Minden vom 27.7.2019, S. 5; BayVGH, B.v. 6.5.2024 – 23 ZB 22.30964 – n.V.).
24
Nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters ist beachtlich wahrscheinlich, dass die unverheiratete und kinderlose Klägerin bei einer Rückkehr tatsächlich in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen wird. Auch wenn in der Regel die Rekrutierung über das Schulsystem erfolgt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 27 ff.; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – juris), kann nach lebensnaher Betrachtung vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin deshalb nicht einberufen wird, weil sie nicht mehr schulpflichtig ist. Es ist vielmehr naheliegend, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr am Flughafen einer Einreisekontrolle unterzogen und dabei nach ihrem Nationaldienststatus befragt wird (vgl. BayVGH, B.v. 6.5.2024 – 23 ZB 22.30964 – n.V.). Als ledige und kinderlose Frau, die noch keinen Dienst geleistet hat, wird sie in der Folge mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls zeitnah ihren Nationaldienst im militärischen Bereich ableisten müssen. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundenen Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die – wie die Klägerin – noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 69). Diesen Erkenntnissen entspricht auch der Vortrag der Klägerin, wonach sie einen Monat nach ihrer Rückführung aus Saudi-Arabien im Jahr 2018 aufgefordert worden sei, in Sawa ihren Militärdienst abzuleisten.
25
Die Klägerin kann die drohende Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes nicht mit ausreichender Sicherheit durch die Erlangung des Diasporastatus abwenden.
26
Der zuständige Einzelrichter geht nach realitätsnaher Betrachtung davon aus, dass die Klägerin nicht freiwillig nach Eritrea ausreist, sondern im Rahmen einer zwangsweisen Rückführung überstellt werden müsste. Die Annahme scheitert auch nicht daran, dass Eritrea grundsätzlich keine unfreiwilligen Rückkehrer akzeptiert, da es solche in der Vergangenheit dennoch gab (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 23). Sie werden auf individuelle Verhandlungen hin akzeptiert (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 67). Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea in diesem Fall wohl von vornherein nicht in Betracht. Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreer angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Statusrichtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44).
27
Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr einer Einberufung durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können, da sie diesen jedenfalls nicht gesichert erlangen kann und er sie nicht ausreichend vor einer Haftstrafe schützt. Unabhängig davon spricht viel dafür, dass die Abgabe der „Reueerklärung“ wegen der darin enthaltenen Selbstbezichtigung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen unvereinbar ist und der Klägerin daher nicht zumutbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23; a.A. OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG).
28
Nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht, die in gleicher Weise für das Asylanerkennungsverfahren wie für das Abschiebungsschutzverfahren gilt, bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden (sog. inländische Fluchtalternative, vgl. BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 u.a. – juris; BVerwG, U.v. 6.10.1987 – 9 C 13.87 – juris) oder – in entsprechender Anwendung dieses Grundgedankens – durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris). Eine solche freiwillige Rückkehrmöglichkeit ist bei der Gefahrenprognose im Asyl- und Flüchtlingsrecht folglich mit in den Blick zu nehmen, insbesondere, wenn sich durch eine freiwillige Rückkehr Verfolgungsgefahren vermeiden lassen, die im Falle der zwangsweisen Rückkehr als Abgeschobener infolge der damit verbundenen Vorabinformation und Kontakte zwischen Abschiebestaat und Zielstaat entstehen können.
29
Allerdings ist nach der Überzeugung des zuständigen Einzelrichters zum einen bereits nicht gesichert, dass der Klägerin den Diaspora-Status bei einer Rückkehr überhaupt erlangen kann. Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das „Reueformular“ und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das „Reueformular“ enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren. Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).
30
Weiter ist anzumerken, dass man den Diaspora-Status nach manchen Quellen überhaupt nur erlangen kann, wenn ein gesicherter Aufenthalt im Ausland vorliegt (vgl. Pro Asyl, Neues Eritrea-Gutachten bestätigt: Verweigerung von Schutz verkennt Realität, 12.10.2022). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass für die Erlangung eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so auch OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online). Jedenfalls aber ist der Diaspora-Status in erster Linie für Auslandseritreer gedacht, die besuchsweise in ihre Heimat reisen und sich dort kurzzeitig aufhalten möchten. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage, dass von Diaspora-Eritreern erwartet wird, dass diese mindestens einmal jährlich ausreisen. Andernfalls könne ihnen der Status entzogen werden, so dass sie wieder als normale Einwohner gelten würden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1. 2022, S. 5 f., 21 f.). Auch das Schweizerische Staatssekretariat für Migration führt aus, dass die Erkenntnisse zum Diaspora-Status sich überwiegend auf temporäre Rückkehrer beziehen; über das Ergehen definitiver Rückkehrer gebe es nur wenige Erkenntnisse (EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32; zu diesen Vorbehalten auch ausführlich SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 15.8.2016). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt außerdem aus, dass nach 2002 ausgereiste Personen den Diaspora-Status kaum erhielten, insbesondere gebe es keine Rechtssicherheit (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 30.9.2018, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, S. 10). Auch das EASO kann für die Gruppe der „dauerhaft Einreisenden“ nur wenige, mit Vorsicht zu behandelnde Quellen nennen (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65). Vor dem Hintergrund, dass der eritreische Staat den Diaspora-Status vor allem deshalb „anbietet“, um sich eine überlebenswichtige Finanzierungsquelle zu erhalten, kann angenommen werden, dass dieser Status für permanente Rückkehrer nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen eröffnet wird, da diese Personen zukünftig nicht mehr als ausländische Finanzierungsquelle zur Verfügung stehen. Zu beachten ist schließlich, dass aufgrund der dargestellten Willkür des eritreischen Regimes schon keine Sicherheit besteht, selbst bei Erfüllen der genannten Voraussetzungen den Diaspora-Status zu erhalten. Auch die Behörden ändern ihre Praxis immer wieder willkürlich (vgl. VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online m.w.N; a.A OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online).
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Die Klägerin kann den Diaspora-Status im Falle einer Rückkehr nach Eritrea daher unabhängig von der Frage der Zumutbarkeit einer „Reueerklärung“ bereits nicht mit ausreichender Sicherheit erlangen.
32
Überdies geht der zuständige Einzelrichter davon aus, dass der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor einer Einberufung bietet.
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Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass permanente Rückkehrer – je nach „Arrangement“ zwischen dem Rückkehrer und der eritreischen Regierung vor der Rückkehr – jedenfalls nach einer „Probezeit“ von sechs bis zwölf Monaten zum Nationaldienst eingezogen werden können (EASO, Eritrea, September 2019, S. 65, SFH, Eritrea: Rückkehr, 19. September 2019, S. 4 f., DIS, Country Report, Januar 2020, S. 30). Sie können (wieder) in den Nationaldienst einberufen werden und werden unter Umständen für Desertion, Dienstverweigerung oder illegale Ausreise bestraft. Nach anderen Quellen liegt die Schutzwirkung bei einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Gegen diese zeitliche Begrenztheit einer Schutzwirkung sprechen auch nicht die Aussagen, dass die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status „bereinigt“ haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten werden (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020), da diese Aussage sich ausreichend gesichert nur auf temporäre Rückkehrer bezieht. Denn nur für diese Gruppe gibt es bislang aussagekräftige Erfahrungswerte (s.o.).
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Der zuständige Einzelrichter geht auch nicht davon aus, dass die Erlangung des genannten Status und der damit einhergehende zeitweise Schutz dazu führt, dass die Gefahr der Einberufung nicht mehr im erforderlichen, ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit der Rückkehr zu sehen ist (so auch VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online, VG Köln, U.v. 20.4.2023 – 8 K 14995/17.A – beck-online in Bezug auf Einberufungsgefahr; a.A. OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online). Zwar ist bei der erforderlichen Prognose ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich. Allerdings handelt es sich hier jedenfalls bei sechs und zwölf Monaten nicht um einen unüberschaubaren Zeitraum, der zu einer Unsicherheit bezüglich der Gefahr führt. Im Hinblick auf die lange bestehende Situation in Eritrea erscheint vielmehr eine Änderung der Situation im Nationaldienst und seiner Einberufungspraxis bzw. Bestrafungspraxis auch in diesem absehbaren Zeitraum derzeit als nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch, dass andere Quellen von einem längeren Schutz sprechen (s.o.) führt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Willkür, die in Eritrea herrscht, nicht zu einer anderen Einschätzung, sondern spricht vielmehr gegen eine Verlässlichkeit des Schutzes. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer freiwilligen Rückkehr mit einem „Diaspora-Status“ jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass keine Rückkehr ins Ausland erfolgt, die Klägerin damit rechnen muss, wie ein normaler Inländer behandelt zu werden, und damit auch in den Nationaldienst einberufen zu werden. Im Hinblick darauf, dass grundsätzlich eine jährliche Ausreise gefordert wird, erscheint damit eine Einberufung jedenfalls nach einem Jahr als beachtlich wahrscheinlich, auch wenn längere „Probezeiten“ möglich sind.
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Zudem bezieht sich der allgemeine – nicht auf Abschiebungsverbote beschränkte Maßstab – der Verschlechterung in absehbarer Zeit vorliegend – anders als bei Fällen, in denen die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Fokus steht – nicht lediglich auf das enge zeitlichen Umfeld nach einer hypothetischen Abschiebung nach Eritrea. Vielmehr sind bei der Ausfüllung des Maßstabs auch sonstige Rückkehrmodalitäten, die bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung feststehen und voraussehbar, mithin nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt zu befürchten sind, in den Blick zu nehmen (vgl. VG Magdeburg Urt. v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online). Hierfür spricht auch, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – beck-online) auch im Zusammenhang mit einer Überstellung nach der Dublin-III-VO auch die Zustände für Anerkannte im Überstellungsstaat in den Blick zu nehmen sind. Die Situation scheint bei einem überschaubaren Zeitraum und grundsätzlich einschätzbarer Entwicklung auch für eine Überstellung in den Herkunftsstaat vergleichbar, so dass ein nur zeitlich für 6 bis 12-monatiger Aufschub, der möglicherweise durch einen Diaspora-Status erreicht werden kann, nicht geeignet ist, die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen. Es ist damit auch hier bereits die Situation in den Blick zu nehmen, in der Rückkehrer wieder wie ein normaler Inländer betrachtet würde.
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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Klägerin nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da sie diesen nicht gesichert erlangen kann und der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes bieten würde.
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b. Bei einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht der Klägerin aufgrund drohender sexueller Übergriffe nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
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Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. a AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschriften, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. b AsylG). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG).
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Bei der Bestimmung dieses Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Vorgaben des Unionsrechts und insbesondere das Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21) betreffend die Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen. Danach können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden, was im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“ zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU ist dabei nach der der Rechtsprechung des EuGH unter Berücksichtigung der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auszulegen. Nach Art. 60 Abs. 1 der Istanbul-Konvention muss Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, wobei nach Art. 60 Abs. 2 die Bestimmung der Genfer Flüchtlingskonvention geschlechtersensibel ausgelegt werden müssen (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 47 f.). Gewalt gegen Frauen sind nach Art. 3 Buchstabe a) der Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. In Art. 3 Buchstabe d) der Istanbul-Konvention wird geschlechtsspezifische Gewalt als Gewalt definiert, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft. Ausgehend davon ist bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU sowie § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bereits die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein angeborenes Merkmal nach Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 a) AsylG. Die weitere Voraussetzung der deutlich abgegrenzten Identität der Gruppe im Herkunftsland i.S.v. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG wird nach der Rechtsprechung des EuGH von Frauen erfüllt, die neben dem angeborenen Merkmals des weiblichen Geschlechts ein zusätzliches gemeinsames Merkmal wie einen gemeinsamen Hintergrund teilen, der nicht verändert werden kann und aufgrund dessen diese Frauen aufgrund der im Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen und rechtlichen Normen eine deutlich abgegrenzte Identität haben (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 50 ff.).
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Ausgehend davon stellen Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes eines bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, denen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe eine Verfolgung in Form sexueller Übergriffe droht.
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Die Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 a) AsylG wird von weiblichen Rekrutinnen bereits aufgrund der angeborenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht begründet. Nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters haben weibliche Rekrutinnen im militärischen Teil des Nationaldienstes auch eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden, § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG Die verpflichtende, für die Rekrutinnen nicht veränderbare Ableistung des militärischen Nationaldienstes ist ein gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann. Die aus den vorliegenden Lageerkenntnissen folgende, weit verbreitete sexuelle Gewalt gegen Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes führt nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters dazu, dass diese gegenüber männlichen Rekruten eine deutlich abgegrenzte Identität haben. Nach zahlreichen jüngeren Erkenntnisquellen sind Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes sexuellen Übergriffen ihrer Vorgesetzten ausgesetzt, gegen die staatlicherseits nicht eingeschritten wird (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 15; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6 May 2022, A/HRC/50/20, S. 7; Danish Refugee Council, Country Report Eritrea, January 2020, S. 22; SFH Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2018 zu Eritrea, Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3). Dabei deuten die Erkenntnismittel auf eine kontinuierliche Verschlechterung der Dienstbedingungen hin (vgl. VG Bremen, U.v. 24.11.2023 – 7 K 297/22 – BeckRS 2023, 45673, Rn. 42), womit auch eine tendenzielle Verschlechterung der Lage von Frauen im Militärdienst naheliegt. Zwar sind unter Umständen auch Männer sexuellen Übergriffen ausgesetzt, die entsprechenden Berichte betreffen aber Übergriffe im Rahmen einer Inhaftierung und – im Gegensatz zur Situation von Frauen – nicht die allgemeine Ableistung des Militärdienstes (vgl. SFH Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2018 zu Eritrea, Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3). Auch trifft die im Nationaldienst vorherrschende Willkür und Gewalt alle Dienstpflichtleistenden unabhängig von Geschlecht (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer Informationsbericht, September 2019, S. 40 f.; VGH BW, U.v. 13.7.2021 – A 13 S 1563/20 – juris Rn. 67). Sexualisierte Gewalt wird nach den Lageberichten aber in erster Linie gegenüber Frauen ausgeübt bzw. trifft diese unverhältnismäßig oft; Frauen werden im Nationaldienst auch vorrangig Positionen zugeteilt, in denen sie in besonderem Maße sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer Informationsbericht, September 2019, S. 41 f.). Daraus ergibt sich nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters, dass Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes insoweit als andersartig betrachtet werden, als sie in weit höherem Maß als männliche Rekruten sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind und auch ihr konkreter Einsatzort von ihrer Verfügbarkeit für sexuelle Ausbeutung abhängt. Vor dem Hintergrund der o.g. EuGH-Rechtsprechung kann nach Ansicht des Einzelrichters auch nicht mehr angenommen werden, dass es sich bei sexuellen Übergriffen auf Frauen im Militärdienst nur um eine Ausdrucksform der allgemein gegenüber allen Dienstpflichtigen verbreiteten Gewalt handelt und daher keine Anknüpfung an eine abgegrenzte Identität weiblicher Rekrutinnen vorliegt (vgl. in diese Richtung OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – OVG 4 B 18/21 – juris Rn. 37 m.w.N.; VGH BW, U.v. 13.7.2021 – A 13 S 1563/20 – juris Rn. 67). Sexuelle Übergriffe auf weibliche Rekrutinnen im Militärdienst erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie Frauen sind bzw. betreffen solche Übergriffe unverhältnismäßig oft Frauen, womit eine geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d) der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht des Einzelrichter nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der RL 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes, die im Gegensatz zu Männern im regulären Dienst Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, entsprechend dem oben Ausgeführten als soziale Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen werden.
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Der Klägerin droht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im militärischen Teil des Nationaldienstes eine Verfolgung in Form sexueller Gewalt wegen Zugehörigkeit zur abgegrenzten sozialen Gruppe weiblicher Rekrutinnen. Da die Verfolgung im Nationaldienst von staatlichen Akteuren nach § 3c Nr. 1 AsylG ausgeht und innerhalb Eritreas keine Möglichkeit besteht, einer Einziehung in den Militärdienst zu entgehen (§ 3e Abs. 1 AsylG) hat die Klägerin damit gemäß § 3 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Die Klage erweist sich damit insgesamt bereits im Hauptantrag als begründet.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Asyl nicht erhoben. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).