Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 22.01.2024 – W 6 S 24.21
Titel:

Sofortverfahren, Entziehung der Fahrerlaubnis, Medizinalcannabis, Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung, rechtswidrig, Verhältnis zwischen ärztlicher und medizinisch-psychologischer Untersuchung, Stufenverhältnis

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3
FeV § 11 Abs. 8
GG Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1
Schlagworte:
Sofortverfahren, Entziehung der Fahrerlaubnis, Medizinalcannabis, Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung, rechtswidrig, Verhältnis zwischen ärztlicher und medizinisch-psychologischer Untersuchung, Stufenverhältnis
Fundstelle:
BeckRS 2024, 1150

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der im Verfahren W 6 K 24.20 erhobenen Klage gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheides des Landratsamtes Sch. vom 15. Dezember 2023 (Az.: …) wird wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die vom Antragsgegner ausgesprochene Entziehung der Fahrerlaubnis und Verpflichtung zur Abgabe ihres Führerscheins.
2
1. Die Antragstellerin war Inhaberin der Fahrerlaubnis der Klassen A1, AM, B und L.
3
Am 14. November 2022 um 13:39 Uhr wurde die Antragstellerin auf der BAB 6 einer Verkehrskontrolle unterzogen. In einem von ihr mitgeführten Rucksack konnte eine Feinwaage mit leichten Marihuana-Antragungen aufgefunden werden. Sie gab an, vor ein paar Tagen Marihuana konsumiert zu haben und ansonsten Medikamente gegen ihre Depressionen (Mirtazapin und Tilidin) einzunehmen. Eine am selben Tag um 14:39 Uhr durchgeführte Blutuntersuchung ergab einen Wert von 2,5 ng/ml THC, 0,9 ng/ml HO-THC und 126 ng/ml THC-COOH.
4
Ein wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln ohne Besitzerlaubnis eingeleitetes Strafverfahren wurde durch die Staatsanwaltschaft Heidelberg am 23. Dezember 2022 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt und zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten an die Verwaltungsbehörde abgegeben.
5
Mit Schreiben vom 9. Januar 2023 wandte sich die Fahrerlaubnisbehörde am Landratsamt Sch. (in der Folge: Fahrerlaubnisbehörde) an die Antragstellerin und hörte sie zur beabsichtigten Anordnung zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Klärung, ob die Antragstellerin zukünftig ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss von Cannabis führen wird, an und gab ihr Gelegenheit zur Vorlage ärztlicher Atteste im Hinblick auf die Depressionserkrankung.
6
Die Antragstellerin legte ein Attest des U. … W. … vom 18. Januar 2023 vor mit den Diagnosen Fibromyalgiformes Schmerzsyndrom (zentrales Hypersensitivitätssyndrom) M79.70 der ICD-10, Spannungskopfschmerz G44.2, Chronisches Schmerzsyndrom R52.2, Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren F45.41 sowie Verdacht auf rezidivierende depressive Störung, 01/2022 mittelschwere Episode F33.1. Bei der Antragstellerin bestehe eine Dauertherapie mit Tilidin/Naloxon (zweimal täglich), Mirtazapin (einmal täglich) und Paracetamol (einmal täglich und bei Bedarf bis 3 g pro Tag).
7
Ausweislich eines weiteren Attestes einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vom 21. Januar 2023 habe sich die Antragstellerin zwischen August 2021 und Februar 2022 dort in psychotherapeutischer Behandlung befunden. Am 18. Januar 2023 sei die Behandlung fortgesetzt worden. Sie leide an Erkrankungen aus dem neurologischen, psychiatrischen und internistischen Fachbereich, insbesondere Anpassungsstörung F43.2, Chronische Spannungskopfschmerzen G44.2, Chronisches Schmerzsyndrom R52.2 und Fibromyalgiformes Schmerzsyndrom (zentrales Hypersensitivitätssyndrom) M79.70. Die durch die Schmerzklinik verordnete Medikation mit Tilidin sei nicht mehr ausreichend gewesen, sodass sie wegen der Prüfung der Indikation für medizinisches Cannabis bei der Schmerzklinik und ihrer Hausärztin angefragt habe. Eine Entscheidung stehe noch aus. In der Zwischenzeit habe sie während ihres zweiwöchigen Urlaubs im Jahr 2022 selbstständig ausprobieren wollen, ob Cannabis ihre Schmerzen lindern würde. Unter dem Konsum von THC habe sich eine deutliche Linderung eingestellt. Während der Therapie 2021/22 habe es keinerlei Hinweise auf den Konsum illegaler Drogen gegeben, ebenso wie zu dem aktuellen Zeitpunkt der erneuten Therapieaufnahme.
8
Am 30. Januar 2023 sprach die Antragstellerin persönlich bei der Fahrerlaubnisbehörde vor und gab dabei im Wesentlichen an, sie habe zum Zeitpunkt der Polizeikontrolle Urlaub gehabt und ca. 24 Stunden zuvor zuletzt Cannabis konsumiert. Sie habe aufgrund ihrer starken Schmerzen einen Selbstversuch gestartet. Sie habe dies zuvor auch schon einmal bei ihren Ärzten angesprochen, welche gesagt hätten, Medizinalcannabis sei bei ihrer Erkrankung nicht vorgesehen. Dies habe sie aufgrund der Erfahrungen im Selbstversuch nochmals mit den Ärzten besprochen und einen Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt. Danach solle dann eine Umstellung erfolgen. Das Cannabis habe sie als Joints geraucht. Vor dem Selbstversuch habe sie noch nie konsumiert. Auch habe sie nie andere Betäubungsmittel konsumiert.
9
Mit E-Mail vom 11. April 2023 teilte die Antragstellerin mit, dass der Antrag auf Kostenübernahme abgelehnt worden sei. Am 17. April 2023 teilte sie telefonisch mit, nun ein Privatrezept erhalten zu haben.
10
Mit Schreiben vom 20. April 2023 gab die Fahrerlaubnisbehörde der Antragstellerin Gelegenheit, ein Attest ihres behandelnden Arztes zur Behandlung mit Cannabinoiden bzw. Cannabisblüten vorzulegen.
11
Ausweislich eines vorgelegten Attestes der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis O. … vom 11. Mai 2023 wird die Antragstellerin im Rahmen der Schmerztherapie multimodal behandelt. Zur Behandlung gehörten und hätten auch unterschiedliche Medikamente wie Opioide gehört. Bei Unverträglichkeit und mäßigem Erfolg der bisherigen Behandlung erfolge auf Empfehlung der Schmerzambulanz der U. … W. … eine Einstellung auf Cannabinoide, hier das Präparat Sativex. Andere Präparate seien nicht getestet worden. Die Einstellungsphase beginne heute. Das erste und einzige Rezept sei am 13. April 2023 ausgestellt worden. Therapiegespräche erfolgten zunächst engmaschig wöchentlich und dann vierteljährlich einschließlich Blutuntersuchung. Über die Weiterbehandlung sei noch nicht entschieden.
12
Mit Schreiben vom 1. Juni 2023, zugestellt am 3. Juni 2023, forderte die Fahrerlaubnisbehörde die Antragstellerin zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bis spätestens 1. August 2023 auf, welches zu folgenden Fragen Stellung nehmen sollte:
„Kann [die Antragstellerin] trotz der Dauermedikation mit medizinisch verordnetem Cannabis ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 sicher führen?
Insbesondere ist zu prüfen, ob das Leistungsvermögen zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs der Fahrerlaubnisgruppe 1 ausreicht.
Falls dies nicht der Fall ist: Ist eine Kompensation der festgestellten Einschränkungen durch besondere persönliche Voraussetzungen (vgl. Anlage 4 FeV) möglich?
Liegt eine ausreichende Adhärenz (Compliance; z.B. Krankheitseinsicht, regemäßige/überwachte Medikamenteneinnahme) vor?
Weisen die Grunderkrankungen bzw. die vorliegende Symptomatik eine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung auf, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt?
Sind hinsichtlich der Therapiebehandlung mit der täglichen Einnahme von Medizinalcannabis Auflagen und/oder Beschränkungen bzw. Nachuntersuchungen erforderlich? Wenn ja: Welche bzw. in welchen Abständen?
Ist eine psychosozial stabile Integration und die Freiheit von Beigebrauch anderer psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol gegeben?“
13
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Fahrerlaubnisbehörde könne nach § 46 Abs. 3 FeV i.V.m. Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV eine medizinisch-psychologische Begutachtung anordnen, wenn sich Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen aufgrund der Dauerbehandlung mit medizinischem Cannabis ergäben. Die Begutachtung der Fahreignung umfasse in medizinischer Hinsicht die Beurteilung der Fahreignungsrelevanz der Grunderkrankung, ihre Symptome, die medikamentenspezifischen Auswirkungen und die ärztliche Überwachung der Medikamenteneinnahme sowie aus verkehrspsychologischer Sicht die individuelle Leistungsfähigkeit, die Fähigkeit zur Kompensation von ggf. festgestellten Leistungseinschränkungen, die Compliance des Patienten gegenüber der Therapie, die Fähigkeit zur Risikoeinschätzung und die Gefahr der missbräuchlichen Einnahme. Entscheidend sei nach Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV vor allem, ob die Dauertherapie zu schweren und für das Führen von Kraftfahrzeugen wesentlichen Beeinträchtigungen der psychophysischen Leistungssysteme führe. Aufgrund der dauerhaften Einnahme ärztlich verordneten Cannabis stelle sich nun die Frage nach möglichen bereits eingetretenen Beeinträchtigungen dieser Leistungsfähigkeit, was für sich genommen bereits die Überprüfung der Fahreignung rechtfertige. Geeignetes und erforderliches Mittel zur abschließenden Beurteilung der Fahreignung sei im vorliegenden Fall ein medizinisch-psychologisches Gutachten, im Wege dessen die Fahreignung interdisziplinär zu beurteilen sei. Ziel der Begutachtung sei es, die Fahreignung vor dem Hintergrund der Dauermedikation mit Cannabis zu klären. Es stehe kein milderes Mittel zur Verfügung, mit dem geklärt werden könne, ob die psychophysische Leistungsfähigkeit, Adhärenz und Compliance in ausreichendem Maß gegeben sei oder nicht. Insbesondere dürfe die Überprüfung der psychophysischen Leistungsfähigkeit nicht Teil einer rein ärztlichen Fahreignungsbegutachtung sein, weil sei zwingend eine Beurteilung durch einen psychologischen Sachverständigen erfordere.
14
Die Anordnung enthielt den Hinweis, dass falls die Antragstellerin sich weigere, sich untersuchen zu lassen oder das Gutachten nicht fristgerecht beibringe, auf die Nichteignung geschlossen und die Fahreignung entzogen werden könne.
15
Am 3. Juli 2023 wurde die Fahrerlaubnisakte der Antragstellerin an die … … … … GmbH W. … abgegeben.
16
Ein Gutachten wurde nicht innerhalb der gesetzten Frist vorgelegt.
17
Mit Schreiben vom 23. November 2023 hörte die Fahrerlaubnisbehörde die Antragstellerin zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.
18
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 7. Dezember 2023 ließ die Antragstellerin hierzu Stellung nehmen und im Wesentlichen ausführen: Im vorliegenden Fall könne nicht nach § 11 Abs. 8 FeV aufgrund der Nichtvorlage des Gutachtens auf die Nichteignung der Antragstellerin geschlossen werden, da die Anordnung der medizinisch-psychologischen Begutachten in der konkreten Form unzulässig sei. Diese enthalte eine seitens der Begutachtungsstelle nicht bearbeitbare Vermischung von ärztlichen und medizinisch-psychologischen Inhalten. Diese Auffassung vertrete auch die von der Antragstellerin gewählte Begutachtungsstelle. Zudem sei das Gutachten evident mangelhaft und könne daher nicht vorgelegt werden.
19
Mit weiterem Schreiben vom „5. Dezember 2023“ nahm die Fahrerlaubnisbehörde hierzu Stellung und teilte mit, dass an der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis festgehalten werde und führte unter Bezugnahme auf die Gutachtensanordnung aus, dass vorliegend die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung das verhältnismäßige Mittel sei. Der Antragstellerin wurde eine erneute Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt.
20
Mit Bescheid vom 15. Dezember 2023, dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am 19. Dezember 2023, wurde der Antragstellerin die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen entzogen (Nr. 1 des Bescheides) und sie wurde aufgefordert, ihren Führerschein spätestens sieben Tage nach Zustellung des Bescheides beim Landratsamt Sch. abzuliefern (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 des Bescheides wurde angeordnet (Nr. 3) und für den Fall, dass die Antragstellerin der Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheides nicht oder nicht fristgerecht nachkommt, ein Zwangsgeld in Höhe von 300,00 EUR angedroht (Nr. 4). Der Antragstellerin wurden die Kosten des Verfahrens auferlegt (Nr. 5) und es wurde eine Gebühr in Höhe von 205,00 EUR sowie Auslagen in Höhe von 4,45 EUR festgesetzt (Nr. 6).
21
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Entziehung der Fahrerlaubnis stütze sich auf § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV. Die Antragstellerin habe das rechtmäßig angeforderte Gutachten nicht fristgerecht beigebracht, weshalb auf ihre Nichteignung zu schließen und die Fahrerlaubnis zu entziehen sei (§ 11 Abs. 8 FeV). Inhaber einer Fahrerlaubnis müssten die hierfür notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen. Die Fahrerlaubnisbehörde könne nach § 46 Abs. 3 FeV i.V.m. Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV eine medizinisch-psychologische Begutachtung anordnen, wenn sich Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen aufgrund der Dauerbehandlung mit medizinischem Cannabis ergäben.
22
Hinsichtlich der weiteren Begründung wird auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen.
23
Die sofortige Vollziehung sei dringend geboten, um die Sicherheit im Straßenverkehr aufrechtzuerhalten. Fahrerlaubnisinhaber, deren Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zumindest zweifelhaft erscheine, stellten eine erhebliche Gefahr für den öffentlichen Straßenverkehr dar. Es bestehe ein dringendes öffentliches Interesse, andere Verkehrsteilnehmer hiervor zu schützen. Das private Interesse der Antragstellerin habe zurückzutreten. Hinsichtlich der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins sei die Anordnung der sofortigen Vollziehung notwendig, um zu verhindern, dass insoweit ein falscher Rechtsschein gesetzt werde.
24
Am 21. Dezember 2023 gab die Antragstellerin ihren Führerschein bei der Fahrerlaubnisbehörde ab.
25
2. Am 4. Januar 2024 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 6 K 24.20 Klage erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen:
Die aufschiebende Wirkung der parallel eingelegten Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Antragsgegners (Ziffer 1 & 2) vom 15. Dezember 2023, Az.: … wird wiederhergestellt.
26
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Der Entziehungsbescheid sei zu Unrecht ergangen. Die Fahrerlaubnisbehörde dürfe nach § 11 Abs. 8 FeV nur dann auf die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Falle der Nichtvorlage eines Gutachtens schließen, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig gewesen sei. Im konkreten Fall sei die Fragestellung bereits unzulässig, da ärztliche und medizinisch-psychologische Inhalte vermischt würden. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei zudem lediglich formelhaft und könne auf eine Vielzahl von Fällen angewandt werden. Zudem liege aufgrund der nicht nachgewiesenen Nichteignung der Antragstellerin kein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung vor.
27
Das Landratsamt Sch. beantragt für den Antragsgegner:
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.
28
Zur Begründung wird unter Bezugnahme auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides ergänzend im Wesentlichen ausgeführt: Der Antrag sei unbegründet, da dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des Bescheides ein höheres Gewicht als dem Interesse der Antragstellerin an dessen Aussetzung zukomme. Der Bescheid sei rechtmäßig und verletze die Antragstellerin nicht in ihren Rechten. Die Gutachtensanordnung sei rechtmäßig erfolgt. Insbesondere habe die Fahrerlaubnisbehörde eine medizinisch-psychologische Begutachtung ohne vorherige Anordnung eines ärztlichen Gutachtens anordnen können, da diese im konkreten Fall das verhältnismäßigere Mittel darstelle. Die sofortige Vollziehung sei anzuordnen gewesen, um die Sicherheit im Straßenverkehr aufrechtzuerhalten. In Fällen wie dem vorliegenden falle das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse zusammen.
29
Auf einen richterlichen Hinweis hin führte das Landratsamt mit weiterem Schriftsatz vom 16. Januar 2024 ergänzend aus: Der Bescheid werde unter Bezugnahme auf den beigefügten Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München aufrechterhalten. Zwar könne im Rahmen der ärztlich verordneten Einnahme von Cannabis zunächst die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens nach § 11 Abs. 2 FeV angezeigt und sinnvoll sein, wenn die Aufklärung der Fahreignungsrelevanz der Grunderkrankung und deren Symptome inmitten stehe. Dafür, dass die Grunderkrankung für sich genommen eine Abklärung der Fahreignung erfordere, sei allerdings nichts ersichtlich. Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 FeV i.V.m. Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV stelle bei sachgerechter und verfassungskonformer Auslegung auch eine geeignete Rechtsgrundlage für das Vorgehen dar.
30
3. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich des Verfahrens W 6 K 24.20) sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
31
Der zulässige Antrag ist begründet.
32
Statthaft ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO, da die aufschiebende Wirkung der im Verfahren W 6 K 24.20 erhobenen Klage gegen die Nrn. 1 und 2 des streitgegenständlichen Bescheides entfällt, weil der Antragsgegner insoweit die sofortige Vollziehung angeordnet hat (Nr. 3 des Bescheides).
33
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht prüft, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind. Im Übrigen trifft es eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung der Antragstellerin auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
34
Gemessen hieran hat der Antrag auf Widerherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Nrn. 1 und 2 des streitgegenständlichen Bescheides vom 15. Dezember 2023 Erfolg, da diese sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweisen und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog) und die erhobene Klage damit insoweit voraussichtlich erfolgreich sein wird.
35
Der Antragsgegner konnte vorliegend nicht nach § 11 Abs. 8 FeV aufgrund der Nichtvorlage des mit Schreiben vom 1. Juni 2023 geforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens auf die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Antragstellerin schließen, da ihm in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation keine Rechtsgrundlage zur unmittelbaren Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Verfügung stand und die Anordnung im Übrigen nicht anlassbezogen begründet wurde. Infolgedessen erweist sich auch die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins als rechtswidrig.
36
Im Einzelnen:
37
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere auch, soweit er sich auf die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins in Nr. 2 des Bescheides bezieht. Zwar wurde dieser am 21. Dezember 2023 bei der Fahrerlaubnisbehörde abgegeben. Jedoch hat sich die Nr. 2 des Bescheides trotz der Erfüllung der angeordneten Verpflichtung nicht erledigt, da von ihr weiterhin Rechtswirkungen ausgehen, als dass sie den Rechtsgrund für das vorläufige Behaltendürfen des Dokumentes darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris Rn. 22; VG München, B.v. 9.10.2023 – M 19 S 23.2625 – juris Rn. 28). Der Antrag weist damit auch insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis auf.
38
2. Die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 3 des Bescheides vom 15. Dezember 2023 liegen vor.
39
Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Dabei sind an den Inhalt der Begründung keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist gleichwohl eine auf den konkreten Einzelfall abstellende, nicht lediglich formelhafte Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 85 m.w.N.).
40
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist im vorliegenden Fall im ausreichenden Maße schriftlich begründet worden. Maßgebend ist, dass der Antragsgegner mit seiner Begründung in hinreichen der Weise zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Anordnung des Sofortvollzugs wegen der besonderen Situation im Einzelfall für unverzichtbar hält. Ausreichend ist jede schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die Behörde aus Gründen des zu entscheidenden Einzelfalles eine sofortige Vollziehung ausnahmsweise für geboten hält. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die zur Begründung der Vollziehungsanordnung angeführten Gründe den Sofortvollzug tatsächlich rechtfertigen und ob die für die sofortige Vollziehung angeführten Gründe erschöpfend und zutreffend dargelegt sind. Je nach Fallgestaltung können die Gründe für die sofortige Vollziehung auch ganz oder teilweise mit den Gründen für den Erlass des Verwaltungsaktes identisch sein und sich hierdurch das Begründungserfordernis reduzieren. Der Antragsgegner hat in der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides dargelegt, warum die Antragstellerin als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen angesehen wird und das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung mit von der Teilnahme ungeeigneter Verkehrsteilnehmer am Straßenverkehr ausgehenden Gefahren begründet.
41
Damit wird den lediglich formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt. Der Umstand, dass im streitgegenständlichen Bescheid angesprochene Gesichtspunkte auch in einer Vielzahl anderer Verfahren zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit verwendet werden können, führt nicht zu einem Verstoß gegen § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (st.Rspr.; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 4.7.2019 – 11 CS 19.1041 – Rn. 16, juris, m.w.N.). Ob die angegebenen Gründe den Sofortvollzug tatsächlich rechtfertigen, ist eine Frage des materiellen Rechts (vgl. VG Würzburg, B.v. 31.5.2023 – W 6 S 23.588 – juris Rn. 37 m.w.N.).
42
3. Eine summarische Prüfung, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO geboten, aber auch ausreichend ist, ergibt, dass die Klage der Antragstellerin gegen die Nrn. 1 und 2 des streitgegenständlichen Bescheides voraussichtlich Erfolg haben wird.
43
Diese erweisen sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig und verletzen die Antragstellerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog).
44
Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides ist § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen, finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Bedenken an der Eignung sind nur zu klären, wenn konkrete Tatsachen bekannt geworden sind, die nachvollziehbar den Verdacht rechtfertigen, bei dem/der Betroffenen könne Ungeeignetheit oder eingeschränkte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorliegen. Nicht jeder auf die entfernt liegende Möglichkeit eines Eignungsmangels hindeutende Umstand kann hinreichender Grund für Anforderung eines Gutachtens sein, insbesondere ist eine Gutachtensanordnung ohne belegte Tatsachen aufgrund des bloßen Verdachts rechtswidrig (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2018 – 11 CS 17.1940 – juris Rn. 19; ThürOVG, B.v. 27.10.2021 – 2 EO 64/21 – juris Rn. 22).
45
Die Fahrerlaubnisbehörde hat damit die Möglichkeit, zur Aufklärung der Fahreignung eines Fahrerlaubnisinhabers die Beibringung eines ärztlichen oder medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). Der Schluss auf die Nichteignung nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ist aber nur zulässig, wenn der Betroffene bei der Anordnung auf diese Rechtsfolge gemäß § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV hingewiesen worden und die Anordnung, ein Gutachten beizubringen, auch sonst rechtmäßig ist. Die Gutachtensanordnung muss unter Berücksichtigung der Vorgaben von § 11 Abs. 6 FeV insbesondere anlassbezogen, verhältnismäßig und hinreichend bestimmt sein (st.Rspr; vgl. etwa: BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 9.3.2021 – 11 CS 20.2793 – juris Rn. 11). Die Fahrerlaubnisbehörde muss in der Gutachtensanordnung in verständlicher Form die Gründe darlegen, die zu Zweifeln an der Kraftfahreignung geführt haben, was durch substantiierte Darlegung ihrer Eignungszweifel unter Angabe der Tatschen, auf denen diese beruhen, zu erfolgen hat (BVerwG, B.v. 5.2.2015 – 3 B 16/14 – juris Rn. 8). Steht die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen fest, hat die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens zu unterbleiben (§ 11 Abs. 7 FeV; BayVGH, B.v. 12.4.2021 – 11 ZB 21.163 – juris Rn. 15).
46
Gemessen hieran lagen zum insoweit maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Beibringungsaufforderung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 14) die Voraussetzungen für die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht vor und der Antragsgegner konnte aufgrund der Nichtbeibringung nicht nach § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteingung der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen.
47
Die Beibringungsanordnung vom 1. Juni 2023 stützt sich ausweislich ihrer Begründung darauf, dass sich Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen aufgrund der Dauerbehandlung der Antragstellerin mit medizinischem Cannabis ergäben.
48
Ausgehend von obigen Maßstäben legt die Fahrerlaubnisbehörde bereits nicht anhand konkreter Tatsachen und damit nicht anlassbezogen dar, weshalb bei ihr Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin bestehen. Allein das Abstellen auf die Einnahme ärztlich verordneten Cannabis ist insoweit nicht ausreichend. Die Fahrerlaubnisbehörde muss vielmehr hinreichend klar zum Ausdruck bringen, aufgrund welcher Tatsachen sie Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen hat etwa, weil Tatsachen die Annahme rechtfertigen, es komme zu missbräuchlicher Einnahme des medizinisch verordneten Cannabis (Nr. 9.4 der Anlage 4 zur FeV) oder die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin sei aufgrund der Einnahme unter das erforderliche Maß gemindert (Nr. 9.6.2 Anlage 4). Bloße Vermutungen reichen insoweit nicht aus.
49
Dem wird die Beibringungsaufforderung vom 1. Juni 2023 bereits nicht gerecht, da aus ihr nicht klar erkennbar hervorgeht, weshalb Eignungszweifel im Hinblick auf die Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis bei der Antragstellerin vorliegen. Auch die weitere Begründung führt zu keiner anderen Sichtweise. Soweit die Fahrerlaubnisbehörde durch eine medizinisch-psychologische Begutachtung geklärt sehen möchte, ob bei der Antragstellerin das Leistungsvermögen zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs ausreicht, fehlt es bereits an der Wiedergabe konkreter Tatsachen, welche den Verdacht begründen, dass dies nicht der Fall sein sollte. Allein das Abstellen auf die Dauerbehandlung mit medizinisch verordnetem Cannabis reicht wiederum nicht aus. Demnach fehlt es bereits an der Anlassbezogenheit der Begründung der Beibringungsaufforderung.
50
Des Weiteren ist die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung unter Berücksichtigung der konkreten die Antragstellerin betreffenden Situation unverhältnismäßig. Denn dem/der Betroffenen darf nicht mehr an Untersuchungen abverlangt werden als erforderlich. Die medizinisch-psychologische Untersuchung stellt gegenüber einer ärztlichen Untersuchung dabei den stärkeren Eingriff dar, weil sie über rein medizinische Feststellungen hinausgeht und eine Offenlegung der engeren persönlichen Lebenssphäre erfordert, die dem strengeren Schutz vom Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unterliegt (BVerfG, B.v. 24.6.1993 – 1 BvR 689/92 – juris Rn. 55).
51
Daher ist zunächst nur eine ärztliche Untersuchung anzuordnen, wenn nicht ausnahmsweise von vornherein davon auszugehen ist, dass nur eine medizinisch-psychologische Untersuchung zur Klärung der Eignungszweifel geeignet und erforderlich ist (BVerfG, B.v. 24.6.1993, a.a.O. Rn. 70) Dieses von den Fahrerlaubnisbehörden grundsätzlich zu beachtende Stufenverhältnis ergibt sich auch aus § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV, wonach die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden kann, wenn dies nach Würdigung des ärztlichen Gutachtens (§ 11 Abs. 2 FeV) oder des Gutachtens eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr (§ 11 Abs. 4 FeV) zusätzlich erforderlich ist. Für ein gestuftes Vorgehen spricht auch die Vorbemerkung 2 der Anlage 4 zur FeV. Danach ist Grundlage der im Rahmen der §§ 11, 13 oder 14 FeV vorzunehmenden Beurteilung, ob im Einzelfall Eignung oder bedingte Eignung vorliegt, in der Regel ein ärztliches Gutachten und nur in besonderen Fällen ein medizinisch-psychologisches Gutachten oder ein Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr (BayVGH, B.v. 25.8.2020 – 11 ZB 20.1137 – juris Rn. 16; VG Augsburg, B.v. 20.12.2022 – Au 7 S 22.2189 – juris Rn. 67 jeweils m.w.N.).
52
Vorliegend gibt es keine Anhaltspunkte, dass die Fahreignung der Antragstellerin nur durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung hätte abgeklärt werden können. Das Gericht verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass die Prüfung der psychophysischen Leistungsfähigkeit und eventueller Kompensationsmöglichkeiten grundsätzlich nicht von einem ärztlichen Gutachter durchgeführt werden kann, sondern regelmäßig von einem Psychologen im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Begutachtung aufgeklärt werden muss (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2017 – 11 CS 17.1150 – juris Rn. 17 mit Verweis auf Nr. 2.5 der Begutachtungsleitlinien zur Fahreignung).
53
Gleichwohl wäre die Antragstellerin in der vorliegenden Konstellation nicht allein aufgrund fehlender psychophysischer Leistungsfähigkeit als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen, sondern etwa auch, wenn die von ihr vorgebrachte Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis nicht ärztlich indiziert wäre oder sie dieses nicht zuverlässig entsprechend der ärztlichen Verordnung einnehmen würde.
54
Denn soll eine Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis im Sinne von Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV, wie sie hier geltend gemacht wird, nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, ferner, dass das Medizinalcannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (vgl. etwa BayVGH, B.v. 16.5.2022 – 11 ZB 21.1964 – juris Rn. 15 m.w.N.).
55
Insbesondere zur Frage der medizinischen Indikation und zuverlässigen Einnahme bestand im Zeitpunkt der Beibringungsaufforderung Klärungsbedarf, da dem zur Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis vorgelegten ärztlichen Attest (Bl. 46 der Behördenakte) zumindest nicht eindeutig zu entnehmen ist, dass die Behandlung die „ultima ratio“ im Hinblick auf den zu erreichenden Zweck der Behandlung darstellt (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 2 BtMG), zumal das Attest die Aussage enthält, dass über eine Weiterbehandlung noch nicht entschieden sei. Auch hinsichtlich der zuverlässigen bestimmungsgemäßen Einnahme durch die Antragstellerin konnten zu diesem Zeitpunkt keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse vorliegen, da in dem auf 11. Mai 2023 datierten Attest ausgeführt wird, dass die Einstellungsphase an diesem Tag beginne.
56
Vor diesem Hintergrund stand zum Zeitpunkt der Beibringungsaufforderung gerade nicht fest, dass eine Klärung der Fahreignung der Antragstellerin allein durch eine medizinisch-psychologische Begutachtung erreicht werden kann. Eine solche wäre hier erst gerechtfertigt, wenn die Frage, ob der chronische Konsum medizinisch verordneten Cannabis Auswirkungen auf das Leistungsvermögen hat, nicht im Zusammenhang mit dem ärztlichen Gutachten konsiliarisch abgeklärt werden konnten bzw. wenn die Eignung nach den Befunden des ärztlichen Gutachtens zwar nicht ausgeschlossen werden konnte, jedoch Zweifel an der Adhärenz und der Fähigkeit oder Bereitschaft zum verantwortlichen Umgang mit negativen Auswirkungen der Medikation und/oder der Grundsymptomatik vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 25.8.2020 – 11 ZB 20.1137 – juris Rn. 17). All dies setzt aber zunächst die Abklärung durch eine ärztliche Untersuchung voraus (vgl. auch § 11 Abs. 3 Nr. 1 FeV).
57
Der vom Antragsgegner zur Begründung herangezogene Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München (B.v. 7.4.2020 – M 26 S 19.6251 – n.v.) führt zu keiner anderen Sichtweise und steht dem hiesigen Ergebnis im Übrigen nicht entgegen, da das Gericht dort ausweislich der Begründung des Beschlusses (Rn. 22) aufgrund der Sachlage davon ausgegangen ist, dass von vorneherein aller Wahrscheinlichkeit nach zu erwarten ist, dass ein ärztliches Gutachten zur abschließenden Beurteilung der Fahreignung nicht ausreichen wird. Dies ist nach obigen Ausführungen hier gerade nicht der Fall.
58
Da sich die Gutachtensanordnung bereits aus den angeführten Gründen als rechtswidrig erweist, kann dahinstehen, ob die von der Fahrerlaubnisbehörde angeführte Vorbemerkung Nr. 3 zur Anlage 4 zur FeV überhaupt eine taugliche Rechtsgrundlage zur Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung sein kann. Dies erscheint vor dem Hintergrund der Formulierung („kann […] angezeigt sein.“) zumindest fraglich. Im Übrigen betrifft die Vorbemerkung Nr. 3 nach ihrem Wortlaut Sonderfälle, die vom Regelfall der Bewertungen in der Anlage 4 zur FeV dergestalt abweichen, dass zunächst von der Nichteignung auszugehen wäre, eine solche aber durch besondere menschliche Veranlagung, besondere Einstellung oder Verhaltenssteuerung/-umstellung kompensiert wird. Allenfalls um Zweifel in dieser Hinsicht abzuklären, gibt Vorbemerkung Nr. 3 zur Anlage 4 FeV die Möglichkeit der Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung, sollte man hierin eine eigenständige Rechtsgrundlage sehen. Die Vorbemerkung Nr. 3 enthält dagegen keine über die Fälle des § 11 Abs. 3 FeV hinausgehende Ermächtigung zur Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung zu Lasten des/der jeweiligen Betroffenen.
59
Nach alledem war die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung im vorliegenden Fall rechtswidrig und die Fahrerlaubnisbehörde durfte daher nicht nach § 11 Abs. 8 FeV aufgrund der Nichtvorlage des Fahreignungsgutachtens auf die Nichteignung der Antragstellerin schließen.
60
Der streitgegenständliche Bescheid ist damit in seiner Nr. 1 voraussichtlich rechtswidrig. Infolgedessen erweist sich die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins in seiner Nr. 2 ebenfalls als rechtswidrig und die Klage der Antragstellerin wird insoweit voraussichtlich erfolgreich sein, weshalb ihr privates Aussetzungsinteresse das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage wiederherzustellen war.
61
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
62
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 63 Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Maßgeblich sind hier die Fahrerlaubnisklassen A1 und B, welche die übrigen Klassen mitumfassen. Für die Fahrerlaubnis der Klasse A1 ist nach Nr. 46.2 des Streitwertkatalogs der halbe Auffangstreitwert (2.500,00 EUR) und für die Klasse B nach Nr. 46.3 der Auffangstreitwert in Höhe von 5.000,00 EUR anzusetzen. Diese Werte waren nach Nr. 1.1.1 des Streitwertkatalogs auf 7.500,00 EUR zu addieren und dieser Wert wiederum im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs zu halbieren und der Streitwert mithin auf 3.750,00 EUR festzusetzen.