Titel:
Kassenärztliche Vereinigung, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, vertragsärztliche Versorgung, Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, Vertragsarztuntreue, Vertragsarztleistungen, Vertragsarztrecht, Gewährung von Akteneinsicht, Akteneinsichtsgesuch, Auskunftsanspruch, häusliche Krankenpflege, SGB V, Disziplinarmaßnahme, Wirtschaftlichkeitsgebot, Einstellungsbeschluß, Strafakten, Ermessensentscheidung, Pflichtverletzung, BSG-Urteil, Beschlüsse des Amtsgerichts
Normenketten:
EGGVG §§ 23, 24
StPO § 474 Abs. 2 und 3, § 478, § 479 Abs 4
Leitsätze:
1. Die Staatsanwaltschaft ist nach § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO i.V.m. § 480 Abs. 1 S. 1 StPO berechtigt, einer Kassenärztlichen Vereinigung zur Prüfung eines möglichen Fehlverhaltens und zur Prüfung der Abrechnung ihres Mitglieds Ablichtungen aus der Strafakte zu übermitteln.
2. Dies gilt auch, wenn das Strafverfahren nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt wurde.
3. Die Übermittlung von Ablichtungen von mehreren von der Ermittlungsbehörde ausgewählten Aktenstücken stellt keine Akteneinsicht nach § 474 Abs. 3 StPO, sondern lediglich eine Auskunft nach § 474 Abs. 2, § 478 StPO dar.
Schlagworte:
Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Akteneinsicht, informationelle Selbstbestimmung, öffentliche Stelle, Rechtsansprüche, Abrechnungskontrolle, Disziplinarmaßnahmen
Fundstellen:
BeckRS 2024, 11453
FDStrafR 2024, 011453
Tenor
1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung wird auf Kosten des Antragstellers als unbegründet zurückgewiesen.
2. Der Geschäftswert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 21. November 2023, bei Gericht eingegangen am selben Tage, gegen die seinem Verfahrensbevollmächtigten am 26. Oktober 2023 zugestellte Entscheidung der Staatsanwaltschaft München I vom 19. Oktober 2023, der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB), Bezirksstelle Oberpfalz, auf deren Ersuchen hin Akteneinsicht gemäß § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO in das gegen den Antragsteller geführte, mittlerweile eingestellte Strafverfahren 562 Js 115163/21 wegen Beihilfe zum Betrug in zwölf Fällen in der Form der Übermittlung von ausgewählten Abschriften zu gewähren. Er ist im Wesentlichen der Auffassung, dass die Staatsanwaltschaft keine nach § 474 Abs. 3 StPO gebotene Ermessensentscheidung getroffen habe. Die Staatsanwaltschaft habe sein Interesse, dass seine Daten nicht an die Kassenärztliche Vereinigung weitergegeben werden, in ihrer Entscheidung übergangen. Allenfalls komme die Erteilung einer Auskunft in Betracht. Das Strafverfahren sei in der Hauptverhandlung nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Sein Tatbeitrag sei „gering“ gewesen. Die Einstellung des Verfahrens sei absprachegemäß erfolgt, da die Angelegenheit nahe am Freispruch gelegen habe. Von einer Weitergabe der Angelegenheit an die Kassenärztliche Vereinigung sei er damals nicht ausgegangen. Gegen die Übermittlung des Einstellungsbeschlusses vom 12. Juni 2023 habe er keine Einwendung.
2
Der Antragsteller betreibt eine Arztpraxis in München. Er ist als Vertragsarzt Mitglied in der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. In dem nicht rechtskräftig gewordenen Strafbefehl des Amtsgerichts München vom 28. Oktober 2022 ist dem Antragsteller zur Last gelegt worden, dass er in zwölf selbständigen Fällen als Arzt in Absprache mit anderweitig Verfolgten für Patienten eines Pflegedienstes im Zeitraum vom 1. November 2015 bis 30. September 2019 Verordnungen für Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V ausgestellt hatte, obwohl er wusste oder billigend in Kauf nahm, dass sie medizinisch nicht veranlasst waren und die verordneten Leistungen durch den Pflegedienst nicht erbracht wurden. Die Kostenträger, darunter die AOK Bayern als gesetzliche Krankenkasse, hätten auf Grundlage der Verordnungen einen Betrag von 65.254,04 Euro erstattet. Einer Abrechnungsstelle soll ein Schaden in Höhe von 64.853,56 Euro entstanden sein. Mit Verfügung vom 21. Oktober 2022 hat die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung von weiteren gleichartig gelagerten Taten zunächst abgesehen.
3
In der Hauptverhandlung am 12. Juni 2023 hat das Amtsgericht das Verfahren mit Zustimmung des Angeklagten, des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft mit Beschluss gemäß § 153 Abs. 2 StPO wegen geringer Schuld des Angeklagten eingestellt. Mit Verfügung vom 30. Juni 2023 hat die Staatsanwaltschaft München I daraufhin das Verfahren hinsichtlich der nach § 154 Abs. 1 StPO vorläufig eingestellten Taten wieder aufgenommen.
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Mit Schreiben vom 11. Mai 2023 hat die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns gegenüber der Staatsanwaltschaft München I beantragt, ihr nach § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Abs. 3 StPO Akteneinsicht in das gegen den Antragsteller geführte Strafverfahren zu gewähren. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass sie die Einsichtnahme in die Akten benötige, um eine korrekte Entscheidung im Verwaltungsverfahren treffen zu können. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts habe sie die gesetzliche Pflicht, die Abrechnung der Vertragsärzte zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Zudem habe sie über eine mögliche Verhängung von Disziplinarmaßnahmen zu entscheiden.
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Mit Bescheid vom 19. Oktober 2023 hat die Staatsanwaltschaft dem Antragsteller unter Benennung der vier Aktenstücke mitgeteilt, dass sie beabsichtige, dem Akteneinsichtsgesuch in Form der Übermittlung von Ablichtungen der Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft vom 21. Oktober 2022, des Strafbefehls des Amtsgerichts München vom 28. Oktober 2022, der Niederschrift des Einstellungsbeschlusses des Amtsgerichts vom 12. Juni 2023 und der Wiederaufnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 30. Juni 2023 teilweise stattzugeben. Die Vollziehung der Verfügung hat sie bislang zurückgestellt. Der Generalstaatsanwalt in München hat beantragt, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig zu verwerfen, da er den Erfordernissen von § 24 EGGVG nicht genüge.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens wird auf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 21. November 2023 und den Bescheid der Staatsanwaltschaft München I vom 19. Oktober 2023 nebst Anlagen Bezug genommen.
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Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG zulässig.
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Die vom Antragsteller zur Überprüfung gestellte Entscheidung der Staatsanwaltschaft, der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns auf deren Ersuchen hin ausgewählte Auszüge aus den Akten des gegen den Antragsteller gerichteten, mittlerweile eingestellten Strafverfahrens nach § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO zu übermitteln, stellt für den hierdurch möglicherweise in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzten Antragsteller als ehemals Angeklagten einen nach § 23 EGGVG anfechtbaren Justizverwaltungsakt dar (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 21. April 2016 – III-1 VAs 100/15, III-1 VAs 102/15, III-1 VAs 103/15, III-1 VAs 105/15-, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 2. Oktober 2013 – 2 VAs 78/13 –, juris Rn. 2; Singelnstein in MüKo-StPO, 1. Aufl., § 474 Rn. 38).
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Die Subsidiaritätsklausel des § 23 Abs. 3 EGGVG steht der Statthaftigkeit des Antrags nicht entgegen, weil eine Anfechtung nach § 480 Abs. 3 StPO in den Fällen des § 474 StPO nicht vorgesehen ist (Senat, Beschluss vom 29. August 2019 – 203 VAs 1149/19-, juris zu einem Auskunftsanspruch einer Krankenkasse; Senat, Beschluss vom 20. Dezember 2021 – 203 VAs 389/21 –, juris zu einem Auskunftsanspruch des Finanzamts; KG Berlin, Beschluss vom 4. August 2021 – 6 VAs 3/21 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 21. April 2016 – III-1 VAs 100/15 –, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Juli 2015 – 2 VAs 6/15 –, juris; Kesper in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 4, 2. Aufl., Einleitung (Stand: 22.12.2023) Rn. 222; Gieg in KK-StPO, 9. Aufl., § 480 Rn. 5).
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Dies gilt auch dann, wenn die Kassenärztliche Vereinigung selbst durch die Straftat, ihre Begehung unterstellt, verletzt wäre (§ 373b Abs. 1 StPO), so dass für die um Auskunft nach § 474 Abs. 2 StPO ersuchende öffentliche Stelle auch ein Anspruch auf Akteneinsicht als Verletzte nach § 406e Abs. 1 und 3 StPO in Betracht käme (zur Geschädigteneigenschaft der Kassenärztlichen Vereinigung im Falle eines Abrechnungsbetruges vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19-, juris Rn. 37 m.w.N.), für dessen Überprüfung der Rechtsweg nach § 406e Abs. 5 S. 2 StPO eröffnet wäre. Denn mangels einer staatsanwaltlichen (Abwägungs-)Entscheidung nach § 406e Abs. 2 S. 1 StPO kann diese Vorschrift auch kein Prüfungsmaßstab im vorliegenden Verfahren sein (im Ergebnis ebenfalls OLG Hamm, Beschluss vom 21. April 2016 – III-1 VAs 100/15 –, juris Rn. 45).
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Der Antrag ist form- und fristgerecht gestellt worden. Nach § 26 Abs. 1 EGGVG muss der Antrag auf gerichtliche Entscheidung innerhalb eines Monats nach der Zustellung oder schriftlichen Bekanntgabe des angefochtenen Bescheids gestellt werden. Nachdem die Entscheidung der Staatsanwaltschaft dem Bevollmächtigten am 26. Oktober 2023 zugestellt worden ist, wahrt der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 21. November 2023 die Frist.
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Der Antragsteller ist auch antragsbefugt.
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1. Nach § 24 Abs. 1 EGGVG ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Gewährt die Staatsanwaltschaft einem Dritten Auskünfte aus einem Strafverfahren, macht sie ihm in der Regel personenbezogene Daten des Betroffenen zugänglich (vgl. Gieg, a.a.O., § 480 Rn. 3 m.w.N.; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., Vorb. zu § 474 StPO Rn. 1).
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2. Der Antragsteller hat eine mögliche Verletzung in eigenen Rechten schlüssig dargelegt, indem er sich auf den Schutz seiner Daten beruft. Er will verhindern, dass die Inhalte von zwei Verfügungen der Staatsanwaltschaft und des – nicht rechtskräftig gewordenenStrafbefehls des Amtsgerichts München der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns bekannt werden. Mit seinem Vortrag macht der Antragsteller damit hinreichend geltend, dass er durch die angegriffene Entscheidung in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt sein kann. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft München I vom 8. Januar 2024 berührt den Antragsgegenstand nicht, da sie zum Gesuch einer anderen Körperschaft ergangen ist.
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Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Die Staatsanwaltschaft München I ist nach der Vorschrift des § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO i.V.m. § 480 Abs. 1 S. 1 StPO berechtigt, der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns zur Prüfung eines möglichen Fehlverhaltens und zur Prüfung der Abrechnung ihres Mitglieds die Ablichtungen aus der Strafakte in dem von der Strafverfolgungsbehörde verfügten Umfang zu übermitteln. Ihre Entscheidung weist keinen Rechtsfehler auf, weil die entsprechenden Informationen zur Feststellung und Durchsetzung von Ansprüchen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns im Zusammenhang mit den ermittelten Delikten erforderlich sind.
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Nach § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO sind Auskünfte aus (Straf-)Akten an öffentliche Stellen zulässig, soweit die Auskünfte zur Feststellung, Durchsetzung oder zur Abwehr von Rechtsansprüchen im Zusammenhang mit der Straftat erforderlich sind. Die Vorschrift umfasst Regressansprüche aus Straftaten (Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 474 Rn. 9; Gieg a.a.O., § 474 Rn. 4a; Singelnstein a.a.O. § 474 Rn. 30; zur strafrechtlichen Relevanz von Verhaltensweisen im Zusammenhang mit nicht medizinisch indizierten Verordnungen vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. August 2016 – 4 StR 163/16- und vom 11. Mai 2021 – 4 StR 350/20 –, jeweils zitiert nach juris; Lindemann in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 6. Auflage 2024, 7. Teil, 2. Kap. G VI 1. Vertragsarztuntreue Rn. 268), aber auch andere Ansprüche, die aus dem deliktischem Verhalten resultieren (zu Maßnahmen wegen ärztlicher Berufspflichtverletzungen durch die zuständigen Stellen vgl. Singelnstein a.a.O. m.w.N.).
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Die ersuchende Stelle hat zur Begründung ihres Ersuchens das Vorliegen der Übermittlungsvoraussetzungen schlüssig darzulegen (vgl. Hilger a.a.O. § 474 Rn. 11; BeckOK StPO/Wittig, 49. Ed. 1.10.2023, StPO § 479 Rn. 18). Die Staatsanwaltschaft hat als übermittelnde Stelle nach § 479 Abs. 4 S. 2 und 3 StPO demgegenüber lediglich abstrakt zu prüfen, ob das Übermittlungsersuchen im Rahmen der Aufgaben des Empfängers liegt, es sei denn, dass ein besonderer Anlass zu einer weitergehenden Prüfung der Zulässigkeit der Übermittlung vorliegt (Senat, Beschluss vom 20. Dezember 2021 – 203 VAs 389/21 –, juris Rn. 24 m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 21. April 2016 – III-1 VAs 100/15 –, juris Rn. 53 ff.; Gieg a.a.O. § 479 Rn. 5; Schmidt/Niedernhuber in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 479 StPO Rn. 15; Kesper in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 4, 2. Aufl., § 474 StPO (Stand: 01.06.2022) Rn. 30). Die ersuchende Stelle ist nach der gesetzlichen Konzeption grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, die Notwendigkeit der Datenübermittlung in ihrem Ersuchen substantiiert darzulegen (vgl. Senat a.a.O. m.w.N.). Die ersuchte Stelle muss insoweit keine weiteren Nachforschungen anstellen (vgl. OLG Hamm, a.a.O. Rn. 59).
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Die Entscheidung der Ermittlungsbehörde, ob die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, um die begehrten Auskünfte zu versagen oder zu erteilen, unterliegt dabei der unbeschränkten gerichtlichen Überprüfung (Senat, Beschluss vom 20. Dezember 2021 – 203 VAs 389/21 –, juris Rn. 16 zu § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO; OLG Hamm, Beschluss vom 21. April 2016 – III-1 VAs 100/15 –, juris Rn. 44). Eine Interessenabwägung sieht das Gesetz insoweit nicht vor. Lediglich bei der Frage, ob die Staatsanwaltschaft anstelle von den nach § 474 Abs. 2 S. 1 StPO gebotenen Auskünften auch Einsicht in die Akten nach § 474 Abs. 3 StPO gewähren dürfte, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (Senat a.a.O.).
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Gemessen daran bestehen gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in ihrem Bescheid vom 19. Oktober 2023 hier keine Bedenken. Das Ersuchen um Einsicht in die Strafakten stammt von einer öffentlichen Stelle und soll nach deren Vortrag der Erfüllung ihrer Aufgaben dienen. Die Erkenntnisse der Ermittlungsbehörde zum Verordnungs- und Abrechnungsverhalten des Angeklagten und zu den Absprachen mit den gesondert verfolgten Tatbeteiligten sind zur Feststellung und zur Durchsetzung von möglichen Rechtsansprüchen der Ersuchenden im Zusammenhang mit einem breit angelegten Abrechnungsbetrug erforderlich. Ein besonderer Anlass zu einer weitergehenden Prüfung der Zulässigkeit der Übermittlung liegt auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragsschrift nicht vor. Die Übermittlung der von der Staatsanwaltschaft ausgewählten vier Aktenstücke stellt im Rechtssinn lediglich eine Auskunft aus den Akten nach § 474 Abs. 2, § 478 StPO dar. Die vom Antragsteller vermisste Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft war mangels Gewähr einer Einsichtnahme (§ 474 Abs. 3 StPO) nicht geboten.
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1. Bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns handelt es sich um eine öffentliche Stelle im Sinne von § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO. Der Begriff der öffentlichen Stelle umfasst alle hoheitlich tätigen Stellen, die nicht Justizbehörden im Sinne von § 474 Abs. 1 StPO sind (vgl. Hilger a.a.O. § 474 Rn. 8; Gieg a.a.O. § 474 Rn. 4; Köhler a.a.O. § 474 Rn. 5). Dazu zählen auch juristische Personen des öffentlichen Rechts (Gieg a.a.O. Rn. 4; OLG Hamm, Beschluss vom 30. April 2009 – 1 VAs 11/09 –, juris Rn. 15 zur Ärztekammer; Senat, Beschluss vom 29. August 2019 – 203 VAs 1149/19-, juris zur Krankenkasse). Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Sitz in München (§ 77 Abs. 5 SGB V, § 1 Abs. 3 der Satzung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns vom 22. Juni 2002, Bayerischer Staatsanzeiger Nr. 33 vom 16. August 2002, Stand vom 14. Juli 2023) ist damit vom Anwendungsbereich der Norm erfasst (vgl. auch Singelnstein a.a.O. § 474 Rn. 22).
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2. Auch gegen die Beurteilung der Staatsanwaltschaft, die ausgewählten Informationen wären zur Feststellung und zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns im Zusammenhang mit der Straftat im Sinne von § 474 Abs. 2 StPO erforderlich, bestehen keine Rechtsbedenken.
23
a. Nach dem Vortrag der Kassenärztlichen Vereinigung soll die Akteneinsicht der Prüfung der Abrechnung und etwaiger Pflichtverletzungen ihres Mitglieds dienen. Die ersuchende Stelle hat damit schlüssig dargetan, dass die Erkenntnisse der Ermittlungsbehörde zum Verordnungs- und Abrechnungsverhalten des damaligen Angeklagten zur Feststellung und zur Durchsetzung von möglichen Rechtsansprüchen im Zusammenhang mit den angeklagten Delikten erforderlich sind.
24
b. Gegenstand des Auskunftsersuchens der Kassenärztlichen Vereinigung ist ein von der Staatsanwaltschaft gegen den Antragsteller geführtes, mittlerweile nach § 153 Abs. 2 StPO eingestelltes Strafverfahren, dem der Verdacht der Beteiligung des Antragstellers als Vertragsarzt an einem breit angelegten Abrechnungsbetrug zu Lasten der Kostenträger, darunter auch eine gesetzliche Krankenkasse, und einer Abrechnungsstelle zugrunde liegt. Nach den Feststellungen des – nicht rechtskräftigen – Strafbefehls sind drei der Beteiligten vom Landgericht München I mit Urteil vom 25. Juni 2020 rechtskräftig zu Freiheitsstrafen verurteilt worden.
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c. Dass das gegen den Antragsteller geführte antragsrelevante Strafverfahren mittlerweile mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 12. Juni 2023 nach § 153 Abs. 2 StPO wegen geringer Schuld des Angeklagten eingestellt worden ist, steht, wie die Vorschrift des § 479 Abs. 3 Nr. 1 StPO belegt, dem Auskunftsanspruch nicht grundsätzlich entgegen (vgl. auch Senat, Beschluss vom 20. Dezember 2021 – 203 VAs 389/21 –, juris; im Erg. auch OLG Hamm, Beschluss vom 21. April 2016 – III-1 VAs 100/15 –, juris).
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d. Der Zweck der Akteneinsicht liegt im Aufgabenbereich der ersuchenden Stelle. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns stellt in Bayern die vertragsärztliche Versorgung gemäß § 72 SGB V sicher (vgl. § 3 Abs. 2 der Satzung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns vom 22. Juni 2002 a.a.O.). Als zugelassener Vertragsarzt ist der Antragsteller zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt und verpflichtet (vgl. § 95 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 SGB V). Die vertraglichen Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung sind für ihn verbindlich (§ 95 Abs. 3 S. 1 und 3 SGB V).
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aa. Im System der kassenärztlichen Versorgung kommt der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns die Aufgabe zu, nach § 75 Abs. 2 S. 2 SGB V die Erfüllung der den Vertragsärzten obliegenden Pflichten zu überwachen und den Arzt, soweit notwendig, unter Anwendung der in § 81 Abs. 5 Satz 1 SGB V vorgesehenen Maßnahmen zur Erfüllung dieser Pflichten anzuhalten (vgl. Steinmann-Munzinger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 81 SGB V (Stand: 15.06.2020) Rn. 56; Kern/Rehborn in Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, 5. Aufl., 4. Kap. § 14 Rn. 33; Scholz, GuP 2013, 81 ff.; Laufs/Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht 8. Aufl., I B IV Rn. 62). Die ambulante medizinische Versorgung wird durch Verträge der Krankenkassen mit den kassenärztlichen Vereinigungen gemäß §§ 82 ff. SGB V sichergestellt. Nach § 82 Abs. 2 S. 1 SGB V werden die Vergütungen der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen von den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen durch Gesamtverträge geregelt.
28
aaa. Häusliche Krankenpflege (§ 37 SGB V) wird vom behandelnden Vertragsarzt auf der Grundlage der HäuslicheKrankenpflege- Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 17. September 2009 (veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 21a (Beilage) vom 9. Februar 2010, zuletzt geändert am 21. Juli 2022) verordnet. Die Verordnungen unterliegen dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V.
29
bbb. Erstellt ein Vertragsarzt für Patienten Verordnungen für häusliche Krankenpflege und gibt wahrheitswidrig vor, dass die verordneten Pflegemaßnahmen auch erforderlich waren, obgleich die tatsächlichen Voraussetzungen für eine häusliche Krankenpflege nicht vorlagen, macht sich der Arzt wegen Beihilfe zum Betrug strafbar (BGH, Beschluss vom 11. Mai 2021 – 4 StR 350/20 –, juris). Verordnet er Heilmittel ohne jegliche medizinische Indikation in der Kenntnis, dass die verordneten Leistungen nicht erbracht, aber gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden sollen, kommt eine Untreue zu Lasten der Krankenkassen in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 16. August 2016 – 4 StR 163/16 –, juris).
30
ccc. Verstößt ein Vertragsarzt gegen seine vertragsärztlichen Pflichten, kann die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns nach § 18 Abs. 1 S. 1 ihrer Satzung gegenüber ihrem Mitglied je nach der Schwere der Verfehlung eine Verwarnung, einen Verweis oder eine Geldbuße bis zu 50.000 Euro aussprechen oder das Ruhen der Zulassung oder der vertragsärztlichen Beteiligung bis zu 2 Jahren anordnen. Über die zu ergreifenden Maßnahmen beschließt auf Antrag des Vorstandes nach § 18 Abs. 2 der Satzung ein Disziplinarausschuss (§ 18 der Satzung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns vom 22. Juni 2002 a.a.O.; vgl. Hilgendorf in Wabnitz/Janovsky/Schmitt, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 5. Aufl., Kap. 14 B VI 6 Rn. 42; Ulsenheimer in Laufs/Kern/Rehborn a.a.O. 24. Kap. § 161 Rn. 93 ff.; zum Verfahren Hampe, Mohammadi, NZS 2013, 692 ff.; zur Verfassungsgemäßheit des Disziplinarrechts Steinmann-Munzinger a.a.O. Rn. 57).
31
ddd. Die Pflicht zur „peinlich genauen Abrechnung“ gehört dabei zu den Grundpflichten eines Vertragsarztes (BSG, Urteil vom 21. März 2012 – B 6 KA 22/11 R –, BSGE 110, 269-287, SozR 4-2500 § 95 Nr. 24, SozR 4-1100 Art. 12 Nr. 24, juris Rn. 35; BSG, Urteil vom 24. November 1993 – 6 RKa 70/91 –, BSGE 73, 234-244, SozR 3-2500 § 95 Nr. 4, juris; Pawlita in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 95 SGB V (Stand: 21.12.2023) Rn. 915; Steinhilper in: Remmert/Gokel, GKV-Kommentar SGB V, 63. Lieferung, 11/2023, c) Folgen implausibler Abrechnung § 106d II 2 Rn. 61). Bereits ein fortdauernder Verstoß eines Arztes gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise nach § 70 Abs. 1 S. 2 SGB V, § 72 Abs. 2 SGB V kann die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen rechtfertigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2004 – B 6 KA 70/04 B –, juris Rn. 7; Steinhilper a.a.O.; Steinmann-Munzinger a.a.O. Rn. 66). Aber auch implausible Abrechnungen stellen einen Verstoß gegen die Pflicht zur „peinlich genauen“ Honorarabrechnung dar.
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eee. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns hat gegen einen Vertragsarzt nach § 4 Abs. 5 ihrer Satzung einen Rechtsanspruch auf Auskunftserteilung. Die Regelung bestimmt, dass jedes Mitglied alle Auskünfte zu erteilen und die erforderlichen Unterlagen vorzulegen hat, die zur Nachprüfung der vertragsärztlichen Tätigkeit erforderlich sind. Erfährt die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns wie hier von Auffälligkeiten oder Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung, kann die Geltendmachung eines Auskunftsanspruchs gegen den Antragsteller geboten sein (zum Anspruch auf Auskunft vgl. BayLSG, Urteil vom 9. November 2011 – L 12 KA 40/08 –, juris Rn. 42; BSG, Beschluss vom 15. August 2012 – B 6 KA 15/12 B –, juris Rn. 13).
33
bb. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns kann desweiteren beim Zulassungsausschuss (§ 96 SGB V) beantragen, dem Antragsteller die Zulassung wegen gröblicher Verletzung vertragsärztlicher Pflichten nach § 95 Abs. 6 S. 1 SGB V i.V.m. § 27 Ärzte-ZV zu entziehen.
34
aaa. Gröblich ist eine Pflichtverletzung im Sinne von § 95 Abs. 6 S. 1 SGB V dann, wenn die gesetzliche Ordnung der vertragsärztlichen Versorgung durch das Verhalten des Arztes in erheblichem Maße verletzt wird und das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen tiefgreifend und nachhaltig gestört ist, so dass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertragsarzt nicht mehr zugemutet werden kann (st. Rspr., vgl. BSG, Beschluss vom 28. Oktober 2015, Az. B 6 KA 36/15 B-, juris Rn. 9).
35
bbb. Sowohl wiederholt unkorrekte Abrechnungen als auch nachhaltige Verstöße gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot können die Zulassungsentziehung nach § 95 Abs. 6 Satz 1 SGB V rechtfertigen (st. Rspr., vgl. BSG, Urteil vom 24. November 1993 – 6 RKa 70/91 –, BSGE 73, 234-244, SozR 3-2500 § 95 Nr. 4, juris Rn. 23; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26. September 2016 – 1 BvR 1326/15 –, juris Rn. 40; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 3. November 2016 – L 12 KA 127/16 –, juris Rn. 42; Pawlita a.a.O. § 95 SGB V (Stand: 21.12.2023) Rn. 1118). Denn nur geeignete Ärzte sollen an dem auf Vertrauen basierenden (vgl. BSG, Urteil vom 21. März 2012 – B 6 KA 22/11 R –, BSGE 110, 269-287, SozR 4-2500 § 95 Nr. 24, SozR 4-1100 Art. 12 Nr. 24, juris Rn. 35 m.w.N.) Vertragsarztsystem teilnehmen.
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ccc. Es versteht sich von selbst, dass der Verdacht eines kollusiven Zusammenwirkens mehrerer Beteiligter zulasten einer Krankenkasse und einer Abrechnungsstelle einen hinreichenden Anlass bietet, die Geeignetheit des Antragstellers für die vertragsärztliche Zulassung wie auch die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen zu prüfen. Dass die Kassenärztliche Vereinigung zu der gebotenen Aufklärung des Sachverhalts die Erkenntnisse der Ermittlungsbehörde, die ihrerseits aufgrund ihrer weitreichenden Ermittlungsbefugnisse über hinreichend verlässliche Informationen zu den Einlassungen der Beteiligten, zu den Aussagen der Zeugen und zu den Ergebnissen von strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen verfügt, heranzieht, ist nicht zu beanstanden.
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cc. Der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns obliegt als weitere ihr gesetzlich zugewiesene Aufgabe nach § 106d Abs. 1, Abs. 2 SGB V in Verbindung mit den Abrechnungsprüfungsrichtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (Fassung der zum 1. Oktober 2020 in Kraft getretenen Regelungen) und der Vereinbarung zur Abrechnungsprüfung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns und den kassenseitigen Vertragspartnern die Prüfung der Rechtmäßigkeit und der Plausibilität der Abrechnungen in der vertragsärztlichen Versorgung. Danach ist die Kassenärztliche Vereinigung – unabhängig von der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen – gesetzlich berechtigt und verpflichtet, die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen des Antragstellers als Vertragsarzt festzustellen und nötigenfalls richtigzustellen (allg. zur Abrechnungsprüfung vgl. Clemens in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 106d SGB V (Stand: 21.11.2023) Rn. 38 ff.). Sie erlässt Honoraraufhebungs- und Neufestsetzungsbescheide.
38
aaa. Das für die Abrechnungsprüfungen gemäß § 106d Abs. 2-4 SGB V maßgebliche Verfahren ist in Vereinbarungen zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen (§ 106d Abs. 5 SGB V) sowie in den Richtlinien zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt (§ 106d Abs. 6 SGB V).
39
bbb. Die Prüfung auf sachlich-rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen des Vertragsarztes zielt auf die Feststellung, ob die Leistungen rechtmäßig, also im Einklang mit den gesetzlichen, vertraglichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften des Vertragsarztrechts – mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebots – erbracht und abgerechnet worden sind (st. Rspr., vgl. BSG, Urteil vom 13. Februar 2019 – B 6 KA 58/17 R-, juris Rn. 13; BSG, Urteil vom 29. November 2017 – B 6 KA 33/16 R-, juris Rn. 19 m.w.N.). Die Befugnis zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung der Honorarforderung besteht nicht nur im Falle rechnerischer und gebührenordnungsmäßiger Fehler, sondern erfasst auch Fallgestaltungen, in denen der Vertragsarzt Leistungen unter Verstoß gegen Vorschriften über formale oder inhaltliche Voraussetzungen der Leistungserbringung durchgeführt und abgerechnet hat (BSG, Beschluss vom 1. März 2023 – B 6 KA 10/22 B –, juris Rn. 17). Die Befugnis zur Richtigstellung besteht nach § 106d Abs. 2 S. 1 Hs 1 SGB V i.V.m. § 50 Abs. 1 S. 1 SGB X auch für bereits erlassene Honorarbescheide (nachgehende Richtigstellung (vgl. BSG, Urteil vom 13. Februar 2019 – B 6 KA 58/17 R-, juris Rn. 14). Die genannten Bestimmungen stellen Sonderregelungen dar, die gemäß § 37 S 1 SGB I in ihrem Anwendungsbereich die Regelung des § 45 SGB X verdrängen (BSG, Urteil vom 24. Oktober 2018 – B 6 KA 34/17 R-, juris Rn. 22 ff.). Eine nach den Bestimmungen zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung rechtmäßige (Teil-)Rücknahme des Honorarbescheids mit Wirkung für die Vergangenheit löst nach § 50 Abs. 1 S. 1 SGB X eine entsprechende Rückzahlungsverpflichtung des Empfängers der Leistung aus (st. Rspr., vgl. BSG, Urteil vom 13. Februar 2019 – B 6 KA 58/17 R-, juris m.w.N.).
40
ccc. Das Richtigstellungsverfahren kann von Amts wegen durchgeführt werden (st. Rspr., vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2001 – B 6 KA 3/01 R –, BSGE 89, 90-104, SozR 3-2500 § 82 Nr. 3, SozR 3-5533 Nr. 115, SozR 3-5540 § 45 Nr. 3, juris Rn. 25) und setzt abweichend zur Disziplinarmaßnahme nicht voraus, dass den Arzt ein Verschulden trifft. Ob der Arzt hätte wissen müssen, dass ihm der richtiggestellte oder richtigzustellende Honoraranspruch nicht zusteht, spielt keine Rolle (st. Rspr., vgl. etwa BSG, Urteil vom 28. August 2013 – B 6 KA 43/12 R –, juris Rn. 23).
41
e. Danach sind die von der Staatsanwaltschaft ausgewählten Informationen über den Tatvorwurf, die Verdachtslage, über den Verfahrensabschluss und die Wiederaufnahme der Ermittlungen für die Erfüllung der Aufgaben der Kassenärztliche Vereinigung Bayerns unerlässlich.
42
f. Die Einwände des Antragstellers versagen.
43
aa. Der Erteilung von Auskünften aus den Strafakten steht nicht entgegen, dass das Verfahren nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist und nach der Rechtsauffassung des Antragstellers im Strafverfahren ein Freispruch zu erwarten gewesen wäre.
44
aaa. Grundsätzlich schließt eine strafrechtliche Verfolgung eine disziplinarische Ahndung wegen desselben Sachverhalts nicht aus (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 1967 – 2 BvR 391/64 –, BVerfGE 21, 378-391, juris Rn. 17; BSG, Beschluss vom 5. Mai 2010 – B 6 KA 32/09 B –, juris Rn. 9; Steinhilper in Laufs/Kern/Rehborn a.a.O. 6. Kap. § 29 Rn. 41; Steinmann-Munzinger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 81 SGB V (Stand: 15.06.2020) Rn. 57; vgl. auch Wegner in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 6. Auflage 2024, 5. Teil 3. Kap. B V. Rechtsfolgen Rn. 131 zu § 299a und b StGB).
45
bbb. Die Sozialgerichte dürfen bei der Feststellung, ob ein Arzt seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt und sich als ungeeignet für die vertragsärztliche Tätigkeit erwiesen hat, nicht nur vorliegende bestandskräftige Entscheidungen anderer Gerichte, sondern auch die Ergebnisse staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen verwerten (BSG, Urteil vom 3. April 2019 – B 6 KA 4/18 R –, BSGE 128, 26-36, SozR 4-2500 § 95 Nr. 36, juris Rn. 24 m.w.N.; BSG, Beschluss vom 2. April 2014 – B 6 KA 58/13 B –, juris Rn. 17; Steinmann-Munzinger a.a.O. Rn. 64).
46
ccc. Dies gilt auch für den Fall, dass das Strafverfahren vom Strafgericht wegen geringer Schuld eingestellt worden ist (vgl. Landessozialgericht Bayern, Urteil vom 28. November 2018 – L 12 KA 127/16 BeckRS 2018, 42407 Rn. 77 für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO, vgl. auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. März 2011 – L 7 KA 13/11 B ER –, juris Rn. 9; Scholz, GuP 2013, 81, 82 ff.). An die rechtliche Würdigung des Strafgerichts wäre das Sozialgericht nicht gebunden. Im vorliegenden Fall ist zudem mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 21. Oktober 2022 zunächst ein Teil der Taten von der Verfolgung und damit von der Anklageerhebung ausgenommen worden. Diese Taten werden nach der Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 30. Juni 2023 von der Verfahrenseinstellung des Amtsgerichts nicht erfasst.
47
ddd. Der Einwand des Antragstellers zu dem zu erwartenden Freispruch verkennt, dass die Entziehung der Zulassung nach der gefestigten Rechtsprechung der Sozialgerichte kein Verschulden voraussetzt; auch unverschuldete Pflichtverletzungen können diese Maßnahme rechtfertigen (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 28. Oktober 2015 – B 6 KA 36/15 B –, juris Rn. 11 m.w.N.; BSG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – B 6 KA 67/03 R –, BSGE 93, 269-279, SozR 4-2500 § 95 Nr. 9, SozR 4-1500 § 103 Nr. 4, juris Rn. 17; BSG, Urteil vom 21. März 2012 – B 6 KA 22/11 R –, BSGE 110, 269-287, SozR 4-2500 § 95 Nr. 24, SozR 4-1100 Art. 12 Nr. 24, juris Rn. 50 m.w.N.; LSG Bayern, Urteil vom 28. November 2018 – L 12 KA 127/16 BeckRS 2018, 42407 Rn. 63; Ulsenheimer in Laufs/Kern/Rehborn a.a.O., 5. Aufl., 24. Kap. § 161 Rn. 95, 96; Pawlita a.a.O. § 95 SGB V (Stand: 21.12.2023) Rn. 1116).
48
eee. Entsprechendes gilt wie oben dargelegt auch für eine nachträgliche Korrektur der Abrechnung.
49
fff. Schließlich könnten auch Tatsachen, die Gegenstand eines Strafverfahrens waren, einen Verstoß gegen die Pflichten eines Vertragsarztes darstellen, ohne den Tatbestand einer Strafvorschrift zu erfüllen (vgl. Pawlita a.a.O. § 95 Rn. 1122 m.w.N.; Kern/Rehborn in Laufs/Kern/Rehborn, a.a.O. 4. Kap. § 17 Rn. 27 zur berufsrechtlichen Ahndung).
50
bb. Auch der Einwand der fehlenden Ermessensausübung geht fehl. Entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers stellt die Übermittlung der von der Ermittlungsbehörde ausgewählten vier Aktenstücke aufgrund der Beschränkung auf einzelne Ablichtungen nämlich keine Akteneinsicht nach § 474 Abs. 3 StPO, sondern lediglich eine Auskunft nach § 474 Abs. 2, § 478 StPO dar. Auf die Bezeichnung als teilweise Akteneinsicht kommt es nicht an.
51
cc. Im vorliegenden Fall wäre im übrigen nach den gesetzlichen Vorgaben auch die Gewährung von Akteneinsicht nach § 474 Abs. 3 StPO nicht zu beanstanden gewesen. Denn die Staatsanwaltschaft vermag im Falle des Verdachts einer Pflichtverletzung eines Vertragsarztes nicht abschließend verantwortlich zu prüfen, welche Auskünfte für die Entscheidungsträger von Bedeutung sind (so auch OLG Hamm, Beschluss vom 30. April 2009 – 1 VAs 11/09 –, juris Rn. 23; Scholz GuP 2013, 81, 82 f.; Grinblat, Krüger, Schirmer, medstra 2023, 253, 255). Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die kassenärztliche Vereinigung nach § 81a SGB V generell für die Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen zuständig ist und in dazu eingerichteten organisatorischen Einheiten Fällen und Sachverhalten nachzugehen hat, die auf Unregelmäßigkeiten oder auf rechtswidrige oder zweckwidrige Nutzung von Finanzmitteln im Zusammenhang mit den Aufgaben der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung hindeuten.
52
Die Kostenentscheidung folgt aus § 1 Abs. 2 Nr. 19, § 22 GNotKG.
53
Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 36 Abs. 3 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 19 GNotKG.
54
Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs erfordert (§ 29 Abs. 1 EGGVG). Klärungsbedürftige Rechtsfragen stellen sich – wie oben dargelegt – nicht.