Titel:
Standardisiertes Messverfahren bei bloßen Mängeln des Messprotokolls
Normenketten:
OWiG § 46, § 79
StPO § 261
StVG § 25 Abs. 1
Leitsätze:
1. Steht fest, dass die beim Betrieb des Messgeräts zu beachtenden und sich regelmäßig aus der Bedienungsanleitung ergebenden technischen Vorgaben eingehalten wurden, führen blo-ße Mängel des Messprotokolls nicht dazu, dass nicht mehr vom Vorliegen eines standardisier-ten Messverfahrens ausgegangen werden kann. (Rn. 5 – 7)
2. Abweichungen von Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers vermögen das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist (Fortführung von BayObLG, Beschluss vom 21.11.2022 – 201 ObOWi 1291/22 bei juris = DAR 2023, 223 = ZfSch 2023, 225 = NZV 2023, 271 = BeckRS 2022, 41451). (Rn. 11)
Die grundsätzliche Verwertbarkeit der Ergebnisse einer Geschwindigkeitsmessung unter Verwendung eines als standardisiert anerkannten Messverfahrens, hier mit dem Gerät PoliScan FM1, hängt nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit oder Plausibilisierung der Daten ab, die der Messung zugrunde liegen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Abweichungen von Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers vermögen das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist. Hier ist an das AG zurückzuverweisen, weil das Urteil nicht erkennen lässt, ob trotz des vergessenen Hakens im Protokoll bezüglich der Einstellung des Schwenkwinkels des Messgeräts eine fehlerhafte Messung ausgeschlossen werden kann. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Bußgeldverfahren, Geldbuße, Fahrverbot,, Pflichtenverstoß, grob, Geschwindigkeitsüberschreitung, innerorts, Vorsatz, Freispruch, Rechtsbeschwerde, Staatsanwaltschaft, Sachrüge, Urteilsgründe, Urteilsfeststellungen, lückenhaft, Beweisaufnahme, Messung, Fehlmessung, Geschwindigkeitsmessung, Messvorgang, Messverfahren, standardisiert, Messgerät, Messbeamtin, Messprotokoll, PoliScan FM 1, Softwareversion, Bauartzulassung, Konformitätsbescheinigung,, Konformitätserklärung, Bedienungsanleitung, technisch, Empfehlung, Gerätehersteller, Plausibilität, Sachverständiger, Einzelfallüberprüfung, Schwenkwinkel, manuell, automatisch, Sollvorschrift, Verwertbarkeit, Annullierungsquote, Falldatei, digital,, Zeitangabe, Zweifel
Fundstellen:
NStZ 2025, 254
BeckRS 2024, 11426
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts München vom 15.03.2023 mit den zugehörigen Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht München zurückverwiesen.
Gründe
1
Mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt vom 08.06.2022 wurde gegen den Betroffenen wegen einer am 09.04.2022 begangenen vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 43 km/h eine Geldbuße in Höhe von 800 Euro sowie wegen eines groben Pflichtenverstoßes ein – mit der Vollstreckungserleichterung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes – Fahrverbot für die Dauer von einem Monat festgesetzt. Das Amtsgericht hat den Betroffenen aufgrund der Hauptverhandlung vom 15.03.2023 freigesprochen. Die Geschwindigkeitsmessung mit dem Messsystem PoliScan FM 1 sei nicht im Rahmen eines standardisierten Messverfahrens erfolgt, weil das Messprotokoll mangelhaft ausgefüllt war. Bei der Aufstellung des Geräts wurde im Messprotokoll nicht vermerkt, ob die Bestimmung des Schwenkwinkels manuell oder automatisch erfolgt ist. Eine Einzelfallüberprüfung des Messergebnisses durch einen Sachverständigen sei erfolglos geblieben, weil bei der verwendeten Softwareversion 4.4.9 eine Überprüfung der Plausibilität der gemessenen Geschwindigkeit nicht möglich gewesen sei.
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Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde, die sie mit der Verletzung materiellen Rechts rügt.
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Die Generalstaatsanwaltschaft M., die das Rechtsmittel vertritt, hat in ihrer Stellungnahme vom 30.09.2023 beantragt, das Urteil des Amtsgerichts München vom 15.03.2023 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Die Verteidigung hat sich mit Schriftsatz vom 28.02.2024 zur Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft M. geäußert.
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Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
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1. Die Annahme des Amtsgerichts, wegen des mangelhaft ausgefüllten Messprotokolls habe kein standardisiertes Messverfahren vorgelegen, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil ihr ein zu enges Verständnis vom Begriff des standardisierten Messverfahrens zugrunde liegt.
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a) Ein standardisiertes Messverfahren setzt ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren voraus, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (BGHSt 43, 277). Notwendige Bedingung dafür ist deshalb die Einhaltung der technischen Vorgaben, die beim Betrieb zu beachten sind und sich regelmäßig aus der Bedienungsanleitung ergeben (vgl. nur OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.02.2023 – 2 ORbs 35 Ss 4/23 bei juris = ZfSch 2023, 472 = NStZ 2023, 621 = BeckRS 2023, 3496).
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b) Entscheidend für das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens ist somit allein die Einhaltung der technischen Vorgaben, die bei seinem Betrieb zu beachten sind und nicht die korrekte Erstellung eines Protokolls über den Messvorgang. Ein unzureichendes Messprotokoll, das anlässlich der Messung erstellt wurde, kann in diesem Zusammenhang zwar einen Anhaltspunkt liefern, der geeignet ist, konkrete Zweifel an der Funktionstüchtigkeit oder sachgerechten Handhabung des eingesetzten Messgeräts und deshalb an der Richtigkeit des Messergebnisses zu begründen. Es kann jedoch schon denknotwendig nicht das Ergebnis eines Messvorgangs beeinflussen, welcher unter Beachtung aller technischen Vorgaben durchgeführt wurde.
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2. Auch die weiteren Feststellungen des Amtsgerichts belegen nicht, dass die verfahrensgegenständliche Geschwindigkeitsmessung nicht im Rahmen eines standardisierten Messverfahrens stattgefunden hätte.
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a) Zu der Frage, ob bei der Aufstellung des Messgeräts die Bestimmung des Schwenkwinkels manuell oder automatisch oder gar nicht bestimmt und ob das Messgerät deshalb entgegen den Vorgaben des Geräteherstellers bedient wurde, verhalten sich die Urteilsgründe nicht und sind von daher lückenhaft. Sie beschränken sich auf die Aussage der Messbeamtin, dass sie bei der Bestimmung des Schwenkwinkels vergessen hatte anzukreuzen, ob dieser manuell oder automatisch bestimmt wurde. Es lässt sich von daher nicht ausschließen, dass hinsichtlich der Frage, wie der Schwenkwinkel bestimmt wurde, noch weitere Feststellungen getroffen werden können und sich aus diesen ergibt, dass die beim Betrieb des Messgeräts zu beachtenden technischen Vorgaben eingehalten wurden.
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b) Gesetzt den Fall, die Beweisaufnahme hätte ergeben, dass bei der Bestimmung des Schwenkwinkels gegen die Einhaltung technischer Vorgaben verstoßen wurde, würde hieraus immer noch nicht zwingend folgen, dass der Geschwindigkeitsmessung kein standardisiertes Messverfahren zugrunde gelegen hatte. Obwohl dem Amtsgericht in der Hauptverhandlung sachverständige Hilfe zur Verfügung gestanden hat, hat es keine Feststellungen zu der Frage getroffen, ob im Hinblick auf eine mögliche Nichteinhaltung der technischen Vorgaben bei der Aufstellung des Messgeräts die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen war.
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Nicht durch jedwede Abweichung von den technischen Vorgaben des Geräteherstellers zur Bedienung des Messgeräts wird das standardisierte Messverfahren in Frage gestellt. Abweichungen von Vorgaben des Geräteherstellers vermögen das Vorliegen einer Messung im sog. standardisierten Messverfahren jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die Vorgaben des Geräteherstellers lediglich eine bloße Empfehlung im Sinne einer Sollvorschrift darstellen würden, die lediglich die Vermeidung einer höhere Annullierungsquote bei den Messungen zum Ziel hätte, ohne das Messergebnis beeinflussen zu können (BayObLG, Beschluss vom 21.11.2022 – 201 ObOWi 1291/22 bei juris = DAR 2023, 223 = ZfSch 2023, 225 = NZV 2023, 271 = BeckRS 2022, 41451).
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c) Soweit das Amtsgericht unter Hinweis auf den von ihm eingeschalteten Sachverständigen festgestellt hat, dass keine nachträgliche Überprüfung der Plausibilität der gemessenen Geschwindigkeit möglich war, vermag dies das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens nicht in Zweifel zu ziehen.
13
Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die grundsätzliche Verwertbarkeit der Ergebnisse einer Geschwindigkeitsmessung unter Verwendung eines als standardisiert anerkannten Messverfahrens, hier mit dem Gerät PoliScan FM1, nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit oder Plausibilisierung der Daten abhängt, die der Messung zugrunde liegen (BayObLG, Beschluss vom 09.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145 = NZV 2020, 322 = BeckRS 2019, 31165; vgl. zuletzt OLG Bremen, Beschluss vom 20.10.2023 – 1 ORbs 25/23 = BeckRS 2023, 40005; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.06.2022 – 3 Ss OWi 476/22 = BeckRS 2022, 15242 jeweils m.w.N.).
14
d) Soweit das Amtsgericht in den Urteilsgründen Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Messung geäußert hat, weil die Zeitangaben in der digitalen Falldatei nicht mit der konkreten Messung korrespondieren, entnimmt der Senat den in den Urteilsgründen wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen, dass dieser Umstand der Verwendung der konkreten Softwareversion geschuldet ist. Dass diese jedoch nicht mit der Bauartzulassung bzw. Konformitätsbescheinigung/Konformitätserklärung für das verfahrensgegenständliche Messgerät vereinbar gewesen wäre, ergibt sich aus den Urteilsfeststellungen nicht.
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Aufgrund der aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mängel ist auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hin das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen und in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V. m. § 353 StPO).
16
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht München zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
17
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
18
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.