Titel:
Strafvollzug - Frist für die Entscheidung über einen Antrag auf Gewährung von Vollzugslockerungen
Normenketten:
StVollzG § 109, § 113
GKG § 1 Abs. 1 Nr. 8, § 65, § 60, § 52 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
Leitsätze:
1. Um die Rechtsschutzgarantie von Art. 19 Abs. 4 GG zu gewährleisten, kann, auch wenn der vom Antragsteller begehrte Ausgangstermin bereits verstrichen sind, im Strafvollzugsverfahren nach §§ 109 ff. StVollzG die Feststellung begehrt werden, dass die nicht rechtzeitige oder Nichtbescheidung eines Antrags auf Ausgang rechtswidrig war, wenn es dem Antragsteller nach den zeitlichen Gegebenheiten nicht möglich war, eine Verbescheidung seines Lockerungsantrages durch eine rechtzeitige Verpflichtungsklage auf Gewährung von Ausgang noch vor dem Ausgangsdatum zu erreichen. (Rn. 5 – 6)
2. Welche Frist im Einzelfall für die Entscheidung über einen Antrag auf Lockerung angemessen und vertretbar ist, entscheidet das Gericht. (Rn. 12)
3. Eine Entscheidungsfrist von drei bis vier Wochen wird der Justizvollzugsanstalt bei einer Entscheidung über einen Antrag auf Lockerung in der Regel zuzugestehen sein, sofern es sich um eine einfache Sachlage handelt, keine umfangreichen Klärungen vorzunehmen sind und die Sache nach dem objektiven Interesse des Gefangenen nicht eilbedürftig war. (Rn. 12)
Schlagworte:
Lockerung, Ausgang, Frist, Untätigkeit, Lockerungsantrag, Strafvollzug
Fundstelle:
BeckRS 2024, 11362
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 16. Februar 2024 mit Ausnahme der Entscheidung über die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe aufgehoben.
2. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1000 € festgesetzt.
3. Dem Beschwerdeführer wird mit Wirkung ab Antragstellung für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin D. bewilligt.
Gründe
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Der Antragsteller wendet sich mit seiner auf die Sachrüge gestützten Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 16. Februar 2024. In der angefochtenen Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer seinen Antrag vom 24. August 2023 in der Fassung des anwaltlichen Schriftsatzes vom 11. Dezember 2023 gerichtet auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtbescheidung und der Ablehnung von ab dem 5. Juni 2023 sukzessive gestellten Anträgen auf Ausgang aus wichtigem Anlass in der Zeit von 9. Juli bis 19. August 2023 mit Bescheid der Justizvollzugsanstalt (JVA) ... vom 24. August 2023 als unbegründet zurückgewiesen. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt die Verwerfung der Rechtsbeschwerde als unbegründet.
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Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bedarf es mangels Fristversäumnis nicht. Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 116 Abs. 1 StVollzG liegen vor, da eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.
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Die Rechtsbeschwerde hat einen vorläufigen Erfolg.
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1. Gegen die Zulässigkeit des allgemeinen Feststellungsantrags mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtverbescheidung der verfahrensgegenständlichen Anträge auf Ausgang jeweils vor den vom Antragsteller beantragten Ausgangsdaten bestehen keine Bedenken.
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a. Um die Rechtsschutzgarantie von Art. 19 Abs. 4 GG zu gewährleisten, kann, auch wenn die vom Antragsteller begehrten Ausgangstermine bereits verstrichen sind, im Strafvollzugsverfahren nach §§ 109 ff. StVollzG die Feststellung begehrt werden, dass die nicht rechtzeitige oder Nichtbescheidung eines Antrags auf Ausgang rechtswidrig war (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 23. Januar 2024 – 204 StObWs 578/23 –, juris Rn. 16 ff.; KG Berlin, Beschluss vom 6. September 1984 – 5 Ws 352/84 –, juris; Spaniol in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil IV § 113 Rn. 8; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 115 Rn. 3; im Erg. wohl auch Laubenthal in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 12. Kapitel Rechtsbehelfe § 113 StVollzG Rn. 3; Bachmann in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baier, Strafvollzugsgesetze 13. Aufl., Kapitel P Rn. 55; a.A. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Mai 1985 – 4 Ws 85/85 –, juris).
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b. Die Subsidiarität der Feststellungsklage schließt die Zulässigkeit des Antrags hier nicht aus. Dem Antragsteller wäre es nach den zeitlichen Gegebenheiten nicht möglich gewesen, eine Verbescheidung seiner Lockerungsanträge durch eine rechtzeitige Verpflichtungsklage auf Gewährung von Ausgang noch vor den Ausgangsdaten zu erreichen.
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c. Das für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse des Antragstellers besteht im Zusammenhang mit einem Antrag auf Lockerung, wenn er bis zu dem beantragten Ausgangstag typischerweise gerichtlichen Rechtsschutz nicht hätte erlangen können, da durch die Nichtverbescheidung ein gewichtiger Eingriff in sein Grundrecht auf Resozialisierung vorliegt (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 23. Januar 2024 – 204 StObWs 578/23 –, juris Rn. 27; Senat, Beschluss vom 25. Januar 2021 – 203 StObWs 514/20 –, juris).
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2. Die angefochtene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer kann in der Sache keinen Bestand haben.
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a. Die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer sind in sich widersprüchlich. Wenn die Kammer – ohne Nennung eines Datums oder eines Namens – zunächst ausführt, die Verbescheidung sei „rechtzeitig und mithin vor den beantragten Ausgangstagen“ erfolgt, während sie anschließend darlegt, dass eine Entscheidung der Justizvollzugsanstalt wegen einer ausstehenden Prüfung der therapeutischen Indikation vor dem 24. August 2023 nicht möglich gewesen sei, stellt dies einen unauflösbaren Widerspruch dar, der die Aufhebung der Entscheidung bedingt.
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b. Die Strafvollstreckungskammer hat zudem dem anerkannten Anspruch eines Strafgefangenen, dass über seinen Lockerungsantrag in angemessener Zeit entschieden wird, in ihren Erwägungen nicht das erforderliche Gewicht beigemessen.
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aa. Zeitliche Maßstäbe für die Durchführung des Entscheidungsverfahrens innerhalb der Anstalt lassen sich aus der Regelung in § 113 StVollzG entnehmen (BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1985 – 2 BvR 1145/83 –, BVerfGE 69, 161-174, juris Rn. 32; OLG Dresden, Beschluss vom 18. März 2019 – 2 Ws 670/18 –, juris Rn. 12). Die Frist von § 113 Abs. 1 StVollzG soll der Behörde eine ausreichende Bearbeitungszeit ermöglichen (OLG Celle, Beschluss vom 14. Juni 1985 – 3 Ws 257/85 (StrVollz) –, juris; OLG Celle, Beschluss vom 7. Juni 2006 – 1 Ws 224/06 (StrVollz) –, juris; Laubenthal a.a.O. § 113 StVollzG Rn. 2). Allerdings ist damit keine verbindliche Bewertung dahingehend, dass eine dreimonatige Bearbeitungszeit in jedem Fall angemessen sei, verbunden (OLG Hamm, Beschluss vom 9. Dezember 2020 – 1 Vollz (Ws) 362/20, BeckRS 2020, 37692 Rn. 19; OLG Hamm, Beschluss vom 06. Dezember 2018 – 1 Vollz (Ws) 476/18 BeckRS 2018, 44128; Bachmann a.a.O. Kapitel P Rn. 54; Spaniol a.a.O. Rn. 5; Arloth a.a.O. Rn. 2). Die Drei-Monatsfrist in § 113 Abs. 1 StVollzG berechtigt nach allgemeiner Ansicht nicht dazu, das Verfahren über Gebühr hinauszuzögern oder untätig zu bleiben (BVerfG a.a.O.). Die Drei-Monats-Frist des § 113 Abs. 1 StVollzG gilt nicht, wenn die Fristwahrung dem Gefangenen unverhältnismäßige Nachteile bringt (Laubenthal a.a.O. § 113 StVollzG Rn. 29). Solche Nachteile sind in der Regel bei Vollzugslockerungen zu erwarten (vgl. BVerfG a.a.O. zu einem Antrag auf Urlaub; OLG Hamm a.a.O.; OLG Celle, Beschluss vom 14. Juni 1985 – 3 Ws 257/85 (StrVollz) –, juris; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler 25. Ed . § 113 Rn. 5; Spaniol a.a.O. § 113 Rn. 5; Arloth a.a.O. § 113 Rn. 2).
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bb. Im Verfahren nach § 113 StVollzG muss die Behörde vorbringen und nachvollziehbar begründen, warum sie über die begehrte Vollzugsmaßnahme noch nicht entschieden hat und welche Hindernisse ihrer Entscheidung entgegenstehen (vgl. OLG Dresden a.a.O. Rn. 12; Laubenthal a.a.O. § 113 StVollzG Rn. 2; Arloth a.a.O. Rn. 3 m.w.N.). Welche Frist im Einzelfall angemessen und vertretbar ist, entscheidet das Gericht (Laubenthal a.a.O.; Spaniol a.a.O. Rn. 7). Der Tatrichter berücksichtigt dabei den Umfang und die Schwierigkeit der Sachaufklärung, insbesondere, wenn vor einer Lockerungsentscheidung ein Gutachten über die Kriminalprognose einzuholen oder eine Stellungnahme von Fachdiensten einzubeziehen ist. Eine Entscheidungsfrist von drei bis vier Wochen wird der Justizvollzugsanstalt bei einer Entscheidung über einen Antrag auf Lockerung in der Regel zuzugestehen sein, sofern es sich um eine einfache Sachlage handelt, keine umfangreichen Klärungen vorzunehmen sind und die Sache nach dem objektiven Interesse des Gefangenen nicht eilbedürftig war (vgl. auch OLG Dresden a.a.O. Rn. 12). Der Erlass eines Zwischenbescheids entlastet die Anstalt nicht.
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cc. In der bloßen Untätigkeit der Vollzugsbehörde ist mangels Regelung keine konkludente Ablehnung des Begehrens zu sehen (OLG Hamm, Beschluss vom 9. Dezember 2020 – 1 Vollz (Ws) 362/20, BeckRS 2020, 37692 Rn. 22; OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. Februar 2008 – 2 Ws 66/08 BeckRs 2008, 5975 Rn. 23; Arloth a.a.O.§ 113 Rn. 2; Bachmann a.a.O. Rn. 54; Euler a.a.O. § 113 Rn. 5). Eine ablehnende Entscheidung bedarf für ihre gerichtliche Überprüfbarkeit zudem einer Begründung.
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dd. Die aufgezeigten Grundsätze sind übertragbar, wenn der Tatrichter über die Frage zu befinden hat, ob die Nichtverbescheidung eines Antrags auf Lockerung vor dem begehrten Ausgangstag – ungeachtet eines etwaigen Zwischenbescheids und einer nachträglichen Entscheidung – eine rechtswidrige Unterlassung der Justizvollzugsanstalt darstellt. Zu der gebotenen gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung lässt sich dem angefochtenen Beschluss nichts entnehmen. Zwar hat die Justizvollzugsanstalt vorgetragen, dass vor einer Entscheidung über die Ausgangsanträge eine „Überprüfung der Behandlungsindikation und Therapiefähigkeit des Antragstellers“ erforderlich gewesen und die erneute Überprüfung durch den Anstaltspsychologen in der Konferenz am 23. August 2023 besprochen worden wäre. Um zu entscheiden, ob es zu einer vom Antragsteller behaupteten rechtswidrigen Verzögerung einer Verbescheidung gekommen ist, wäre die Strafvollstreckungskammer jedoch gehalten gewesen, zu prüfen, inwieweit ausgehend von der ersten verfahrensgegenständlichen Antragstellung am 5. Juni 2023 die Dauer der Sachprüfung einschließlich erforderlicher Stellungnahmen der Fachdienste die Verfahrensweise der Vollzugsbehörde legitimiert und eine Entscheidungsfindung vor dem 19. August 2023 als dem letzten beantragten Ausgangstag verhindert hat.
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c. Darauf, dass die Strafvollstreckungskammer der Amtsaufklärung unterliegt und nicht ohne weiteres den vom Strafgefangenen bestrittenen Sachvortrag der JVA als wahr unterstellen darf (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 7. September 2020 – 203 StObWs 311/20 –, juris Rn. 32 m.w.N.; BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 22. März 2016 – 2 BvR 566/15 –, juris Rn. 19), kommt es nicht mehr maßgeblich an.
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3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
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Die Strafvollstreckungskammer wird nunmehr die konkreten Umstände der Sachprüfung der Justizvollzugsanstalt unter Berücksichtigung der Daten der Anträge und der Prüfungsschritte näher aufzuklären haben. Sie wird bei der Frage einer möglichen Verzögerung berücksichtigen, dass sich der Bescheid der Justizvollzugsanstalt vom 24. August 2023 zwar zum wichtigen Anlass verhält, jedoch keine Ausführungen von Substanz zur Missbrauchsbefürchtung und zur Therapiebedürftigkeit des Strafgefangenen enthält.
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Die Entscheidung, die Gewährung von Prozesskostenhilfe wegen Erfolglosigkeit des Antrags abzulehnen, ist nicht angefochten worden; sie wäre auch nicht anfechtbar (vgl. Spaniol a.a.O. § 120 StVollzG Rn. 21; Laubenthal a.a.O. § 120 Rn. 12; Euler a.a.O. § 120 Rn. 11; Bachmann a.a.O. § 120 StVollzG Rn. 140).
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1. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung der Strafvollstreckungskammer vorbehalten.
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2. Die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 65, 60, 52 Abs. 1 GKG.
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3. Die Entscheidung über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren folgt aus Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, §§ 114, 115, 119 Abs. 1 ZPO.