Titel:
Unterbrechung eines Kapitalanleger-Musterverfahrens in Bezug auf einen insolventen Musterbeklagten
Normenketten:
ZPO § 61, § 62, § 145, § 240 S. 2
KapMuG § 8 Abs. 1, § 11 Abs. 1, § 13
InsO § 21 Abs. 2, § 22 Abs. 1
Leitsätze:
1. Mit dem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen der M Beteiligungsgesellschaft mbH auf den vorläufigen Insolvenzverwalter ist das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen diesen Musterbeklagten kraft Gesetzes unterbrochen worden (§ 3 I EGZPO iVm § 240 S. 2 ZPO). (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines von mehreren Musterbeklagten führt nicht insgesamt zur Unterbrechung des Musterverfahrens. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Abtrennung des unterbrochenen Kapitalanleger-Musterverfahrens von Amts wegen ist weder erforderlich noch möglich, weil sich keines der verfahrensgegenständlichen Feststellungsziele nur auf diese bezieht. Daher hätte die Abtrennung zur Folge, dass zwei Musterverfahren mit identischen Feststellungszielen vorlägen, was mit dem Sinn und Zweck des Kapitalanleger-Musterverfahrens unvereinbar wäre. (Rn. 34 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
4. Mit dem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen eines Musterbeklagten auf den vorläufigen Insolvenzverwalter wird das Kapitalanleger-Musterverfahren nur in Bezug auf diesen Musterbeklagten gem. § 240 S. 2 ZPO unterbrochen, ohne dass es insoweit einer Verfahrenstrennung bedürfte. (Rn. 4 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kapitalanlage-Musterverfahren, Musterbeklagte, Insolvenzantrag, vorläufiger Insolvenzverwalter, Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis, Unterbrechung, Verfahrenstrennung, Streitgenossen
Rechtsmittelinstanzen:
BayObLG, Beschluss vom 13.05.2024 – 101 Kap 1/22
BayObLG, Beschluss vom 13.05.2024 – 101 Kap 1/22
Fundstellen:
BeckRS 2024, 10696
NZG 2024, 1413
LSK 2024, 10696
Tenor
Das Kapitalanleger-Musterverfahren ist unterbrochen, soweit es sich gegen den Musterbeklagten zu 7) richtet.
Gründe
1
Das Amtsgericht – Insolvenzgericht – Limburg a. d. Lahn hat mit Beschluss vom 21. Februar 2024 (Az.: …) auf den Eigenantrag der M. Beteiligungsgesellschaft mbH, der früheren Musterbeklagten zu 7), gemäß §§ 21, 22 InsO die vorläufige Verwaltung von deren Vermögen angeordnet und Rechtsanwalt N. N., …, zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Außerdem hat es gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO der Schuldnerin ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt.
2
Infolge des Übergangs der Verfügungsbefugnis über das Vermögen der M. Beteiligungsgesellschaft mbH auf den vorläufigen Insolvenzverwalter gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO ist letzterer als Rechtsnachfolger der bisherigen Musterbeklagten zu 7) Musterbeklagter geworden.
3
Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Musterbeklagten wird der Insolvenzverwalter als Rechtsnachfolger des insolventen Musterbeklagten Verfahrensbeteiligter kraft Amtes (vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 2021, XI ZB 23/20, ZIP 2022, 75 Rn. 14; allgemein: BGH, Beschluss vom 28. März 2007, VII ZB 25/05, BGHZ 172, 15 [juris Rn. 7]; so bereits für den Konkursverwalter: BGH, Urt. v. 16. Januar 1997, IX ZR 220/96, NJW 1997, 1445 [juris Rn. 9]). Entsprechendes gilt für den vorläufigen Insolvenzverwalter, auf den infolge eines dem Insolvenzschuldner auferlegten allgemeinen Verfügungsverbots gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1, § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis übergegangen ist. Mit dem Verwaltungs- und Verfügungsrecht erhält der Insolvenzverwalter die Befugnis, die Insolvenzmasse betreffende Prozesse zu führen; verfahrensrechtlich ist er bereits mit dessen Erwerb – nicht erst seit der Aufnahme des Rechtsstreits – als Rechtsnachfolger des Schuldners Partei (vgl. BGH, NJW 1997, 1445 [juris Rn. 9]).
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Mit dem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen der M. Beteiligungsgesellschaft mbH auf den vorläufigen Insolvenzverwalter ist das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen diesen Musterbeklagten unterbrochen worden (§ 3 Abs. 1 EGZPO i. V. m. § 240 Satz 2 ZPO). Diese kraft Gesetzes eingetretene Wirkung (allg. M., vgl. Greger in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 240 Rn. 3) stellt der Senat durch deklaratorischen Beschluss fest (vgl. hierzu die nachfolgenden Ausführungen unter Ziffer 1) .
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Eine Unterbrechung des Kapitalanleger-Musterverfahrens insgesamt findet dagegen nicht statt, ohne dass es hierzu einer Abtrennung des gegen den Musterbeklagten zu 7) geführten Musterverfahrens bedürfte (vgl. Ziffern 2 u. 3).
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1. Das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen den Musterbeklagten zu 7) ist gemäß § 240 Satz 2 ZPO unterbrochen. In den gegen den Musterbeklagten zu 7) geführten, jeweils nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Ausgangsrechtsstreitigkeiten werden Schadensersatzansprüche geltend gemacht, welche im Falle der Insolvenzeröffnung die Insolvenzmasse der M. Beteiligungsgesellschaft mbH betreffen. Die Unterbrechung erstreckt sich auf das Musterverfahren, soweit es gegen den Musterbeklagten zu 7) geführt wird, weil in diesem Verfahren das Vorliegen oder Nichtvorliegen anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen mit grundsätzlich bindender Wirkung für alle nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Verfahren festgestellt werden kann (§ 22 Abs. 1 bis 3, § 2 Abs. 1 KapMuG).
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a) § 240 ZPO gehört zwar nicht zu den im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung (§ 253 bis § 494a ZPO), die nach der ausdrücklichen Anordnung in § 11 Abs. 1 KapMuG auf das Musterverfahren entsprechend anzuwenden sind. Gemäß § 3 Abs. 1 EGZPO findet die Zivilprozessordnung aber auf alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten Anwendung, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören. Das gilt auch für das Kapitalanleger-Musterverfahren (vgl. Kruis in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2022, § 11 KapMuG Rn. 11; BT-Drs. 15/5091, S. 22).
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Eine speziellere Vorschrift, die der entsprechenden Anwendung von § 240 ZPO auf das Musterverfahren entgegenstünde, enthält das KapitalanlegerMusterverfahrensgesetz nicht. Vielmehr setzt die Regelung in § 13 Abs. 1 KapMuG voraus, dass jedenfalls die Insolvenz des Musterklägers eine Unterbrechung des Musterverfahrens nach § 240 ZPO zur Folge hat. Denn in diesem Fall hat das für das Musterverfahren zuständige Gericht nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 KapMuG einen neuen Musterkläger zu bestimmen. In den Gesetzesmaterialien wird die Erforderlichkeit der Bestimmung eines neuen Musterklägers damit begründet, dass im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Musterklägers das Musterverfahren in dessen Person unterbrochen sei, was zu möglichen Verfahrensverzögerungen führe, die im Interesse einer zügigen Durchführung des Musterverfahrens unerwünscht seien (vgl. BR-Drs. 2/05 S. 61 zu § 11 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs).
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Für den Fall der Insolvenzeröffnung über das Vermögen eines Musterbeklagten enthält das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz dagegen keine besonderen Vorschriften. In der Rechtsprechung und der Kommentarliteratur wird das diesbezügliche Schweigen des Gesetzes dahin interpretiert, dass der Gesetzgeber keine Veranlassung zu einer besonderen Regelung gesehen habe, weil es gewöhnlich mehrere Musterbeklagte gebe; wenn in der Person eines Musterbeklagten einer der in § 13 Abs. 1 Fall 2 oder § 13 Abs. 2 KapMuG aufgeführten Umstände eintrete, sollten nach der Vorstellung des Gesetzgebers über § 11 KapMuG die allgemeinen Vorschriften Anwendung finden (vgl. BGH, ZIP 2022, 75 Rn. 9; Kruis in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 13 KapMuG Rn. 16; Kotschy in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Aufl. 2020, § 13 Rn. 10; Rathmann in Asmus/Waßmuth, Kollektive Rechtsdurchsetzung, 2022, § 13 KapMuG Rn. 14).
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In der Kommentarliteratur ist unstreitig, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines von mehreren Musterbeklagten bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 240 ZPO die Unterbrechung des Musterverfahrens jedenfalls gegen diesen Musterbeklagten zur Folge hat (vgl. Kruis in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 13 KapMuG Rn. 18; Kotschy in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 13 Rn. 10; Vollkommer in Kölner Kommentar zum KapMuG, 2. Aufl. 2014, § 13 Rn. 27; Rathmann in Asmus/Waßmuth, Kollektive Rechtsdurchsetzung, § 13 KapMuG Rn. 14). Das Musterverfahren ist als Passivprozess der Insolvenzmasse anzusehen; denn die im Rahmen dieses Verfahrens zu treffenden Feststellungen wirken auf die ausgesetzten Ausgangsverfahren und die darin geltend gemachten Schadensersatz- bzw. Erfüllungsansprüche im Sinne von § 1 Abs. 1 KapMuG, welche die Insolvenzmasse (§ 35 Abs. 1 InsO) betreffen, ein (vgl. Vollkommer, a. a. O.).
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b) Die nunmehr gegen den Musterbeklagten zu 7) geführten, jeweils gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Ausgangsprozesse vor dem Landgericht München I mit den Aktenzeichen …, …, … und … betreffen, falls es zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der M. Beteiligungsgesellschaft mbH kommen sollte, jeweils deren Insolvenzmasse. In allen Fällen machen die Kläger gegen den Musterbeklagten zu 7) Schadensersatzansprüche geltend, weil die M. Beteiligungsgesellschaft mbH, handelnd durch den Musterbeklagten zu 1) als ihren damaligen Geschäftsführer, rechtswidrig dazu beigetragen habe, dessen Vermögenswerte einer Zwangsvollstreckung durch dessen Gläubiger zu entziehen.
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c) Die Unterbrechung des Musterverfahrens gegen den Musterbeklagten zu 7) dauert fort, bis entweder das der M. Beteiligungsgesellschaft mbH auferlegte allgemeine Verfügungsverbot (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1, § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO) aufgehoben oder das Insolvenzverfahren über deren Vermögen eröffnet und zumindest eines der Ausgangsverfahren, durch deren Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG die M. Beteiligungsgesellschaft mbH ihre vormalige Stellung als Verfahrensbeteiligte erlangt hatte (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 KapMuG), nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften wieder aufgenommen wird (vgl. hierzu Rathmann in Asmus/Waßmuth, Kollektive Rechtsdurchsetzung, § 13 KapMuG Rn. 14) .
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Die Aufnahme erfolgt durch Zustellung eines bei dem Gericht des Ausgangsverfahrens (§ 180 Abs. 2 InsO) einzureichenden Schriftsatzes an den Insolvenzverwalter, nachdem ein Kläger, der die M. Beteiligungsgesellschaft mbH in Anspruch genommen hat, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens seine Forderung zur Insolvenztabelle angemeldet und der Insolvenzverwalter diese bestritten hat (§ 179 Abs. 1 InsO i. V. m. § 250 ZPO). Mit der Aufnahme zumindest eines Ausgangsrechtsstreits gegen den Insolvenzverwalter erfolgt nach dem Rechtsgedanken des § 8 Abs. 1 KapMuG zugleich die Aufnahme des Musterverfahrens gegen diesen als Rechtsnachfolger der ursprünglichen Musterbeklagten zu 7).
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2. Die Unterbrechung des Kapitalanleger-Musterverfahrens gegen den Musterbeklagten zu 7) führt nicht zur Unterbrechung dieses Verfahrens gegen die Musterbeklagten zu 1) bis 6) und 8) bis 11).
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Die Frage ist allerdings umstritten. Eine höchstrichterliche Entscheidung, die sich explizit mit der Frage befasst, welche Auswirkungen ein Unterbrechungstatbestand, der nur einen von mehreren Musterbeklagten betrifft, auf das erstinstanzliche Musterverfahren insgesamt hat, ist – soweit ersichtlich – noch nicht ergangen.
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a) Nach einer Ansicht soll die Unterbrechung des Verfahrens in der Person eines Musterbeklagten zur Folge haben, dass das Musterverfahren insgesamt nicht fortgeführt werden kann. Begründet wird dies damit, dass mehrere Musterbeklagte in Bezug auf diejenigen Feststellungsziele, von denen sie in gleicher Weise betroffen seien, als notwendige Streitgenossen anzusehen seien; denn in diesem Fall könne nur eine einheitliche Sachentscheidung ergehen, wie sich bereits an der in § 22 Abs. 1 Satz 2 KapMuG angeordneten Bindungswirkung zeige. Der Gesetzgeber habe es versäumt, für den Fall, dass ein Unterbrechungstatbestand nur in Bezug auf einen von mehreren Musterbeklagten vorliege, eine abgestufte Bindung des von der Unterbrechung betroffenen Musterbeklagten vorzusehen. Sei ein Musterbeklagter aber an die Feststellungen des Musterentscheids gebunden und könnten die Feststellungen allen Musterbeklagten gegenüber nur einheitlich erfolgen, müsse jeder Musterbeklagte am gesamten Musterverfahren uneingeschränkt mitwirken können. Das Musterverfahren könne deshalb erst fortgesetzt werden, wenn der Grund für die Unterbrechung entfallen sei (vgl. Kruis in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 13 KapMuG Rn. 18, § 9 KapMuG Rn. 39).
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Einer anderen Auffassung zufolge soll die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines von mehreren Musterbeklagten zwar zunächst zur Unterbrechung des Musterverfahrens insgesamt führen (Vollkommer in Kölner Kommentar zum KapMuG, § 13 Rn. 31). Sollte es aber nicht zu einer zeitnahen Aufnahme durch den Insolvenzverwalter kommen, habe der insolvente Musterbeklagte auszuscheiden; das Musterverfahren sei mit den verbleibenden Musterbeklagten fortzusetzen. Hierzu habe das für das Musterverfahren zuständige Gericht in entsprechender Anwendung von § 8 Abs. 2 KapMuG den oder die verbliebenen Musterbeklagten zu neuen Musterbeklagten zu ernennen. Da vom Ausgang des unterbrochenen Musterverfahrens alle übrigen Ausgangsverfahren mit den übrigen Musterbeklagten abhingen, könne nicht abgewartet werden, bis das Verfahren gegen den insolventen Musterbeklagten fortgesetzt werden könne (vgl. Vollkommer, a. a. O. Rn. 32; zustimmend Rathmann in Asmus/Waßmuth, Kollektive Rechtsdurchsetzung, § 13 KapMuG Rn. 17). Sollten die Ausgangsverfahren gegen den Insolvenzverwalter des insolventen Musterbeklagten später aufgenommen und nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt werden, trete der Insolvenzverwalter als weiterer Musterbeklagter dem Verfahren bei (Vollkommer, a. a. O. Rn. 34).
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Nach einer weiteren Ansicht führt ein Unterbrechungstatbestand, der nur einen einzelnen Musterbeklagten betrifft, insbesondere die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines von mehreren Musterbeklagten, nicht zur Unterbrechung des Musterverfahrens insgesamt (Kotschy in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 13 Rn. 10; Gängel/Huth/Gansel in Gängel/Gansel, Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, 4. Aufl. 2013, § 13 Rn. 9). Denn mehrere Musterbeklagte seien im Rahmen der musterverfahrensfähigen Ersatz- und Erfüllungsansprüche nach § 1 Abs. 1 KapMuG lediglich einfache und nicht notwendige Streitgenossen im Sinne von § 62 ZPO. Das Verfahren gegen den insolventen Musterbeklagten könne nach § 145 ZPO abgetrennt werden.
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b) Der Bundesgerichtshof hat sich – soweit ersichtlich – zu der Frage, ob ein erstinstanzliches Musterverfahren durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines von mehreren Musterbeklagten insgesamt unterbrochen wird, noch nicht explizit geäußert. Entschieden wurde lediglich, wie zu verfahren ist, wenn über das Vermögen eines Musterbeklagten, der gemäß § 21 Abs. 3 KapMuG zum Musterrechtsbeschwerdeführer bestimmt worden war, das Insolvenzverfahren eröffnet wird. In diesem Fall bestimmt das Rechtsbeschwerdegericht in entsprechender Anwendung von § 21 Abs. 4, § 13 Abs. 1 Fall 2, § 9 Abs. 2 KapMuG nach billigem Ermessen einen neuen Musterrechtsbeschwerdeführer (BGH, Beschluss vom 23. November 2023, XI ZB 23/20, ZIP 2022, 75 Leitsatz, Rn. 2 ff.).
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Der vorgenannten Entscheidung lässt sich entnehmen, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des zum Musterrechtsbeschwerdeführer bestimmten Musterbeklagten der Fortführung des Musterrechtsbeschwerdeverfahrens nicht entgegensteht. Der Insolvenzverwalter, der mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Rechtsnachfolger des insolventen Musterbeklagten Verfahrensbeteiligter kraft Amtes geworden ist, ist weiter am Rechtsbeschwerdeverfahren zu beteiligen, ohne dass es hierzu einer Verfahrenshandlung des Insolvenzverwalters bedürfe, allerdings nur noch als weiterer Rechtsbeschwerdeführer (BGH, a. a. O. Rn. 14, 15).
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Diese Ausführungen lassen sich allerdings nicht auf das erstinstanzliche Musterverfahren übertragen. Denn im Musterrechtsbeschwerdeverfahren bleiben zwar die Parteirollen des erstinstanzlichen Musterverfahrens erhalten, die Regelung des § 21 KapMuG konzentriert die Rollen des Rechtsmittelführers und des Rechtsmittelgegners aber auf jeweils einen Beteiligten. Aufgrund des Konzentrationsprinzips ist eine Streitgenossenschaft sowohl auf der Aktivwie auf der Passivseite grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. Rimmelspacher in Kölner Kommentar zum KapMuG, § 20 Rn. 49, 50). Legen mehrere Musterbeklagte Rechtsbeschwerde gegen den Musterentscheid ein, wird derjenige Musterbeklagte, welcher als erster das Rechtsmittel eingelegt hat, vom Rechtsbeschwerdegericht zum Musterrechtsbeschwerdeführer bestimmt (§ 21 Abs. 3 Satz 1 KapMuG). Die weiteren Rechtsbeschwerden der anderen Musterbeklagten sind nach dem Rechtsgedanken des § 140 BGB in eine Beitrittserklärung zum Rechtsbeschwerdeverfahren im Sinne von § 20 Abs. 3 Satz 1 KapMuG umzudeuten (Reuschle in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 21 KapMuG Rn. 19; Rimmelspacher, a. a. O. § 21 Rn. 36). Durch einen solchen Beitritt erlangt der Beitretende gemäß § 20 Abs. 4 Satz 2 KapMuG für das Musterrechtsbeschwerdeverfahren die an die Figur der Nebenintervention angelehnte Rechtsstellung eines Beigeladenen im Sinne von § 14 KapMuG (vgl. Reuschle in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 20 KapMuG Rn. 28; Rimmelspacher in Kölner Kommentar zum KapMuG, § 20 Rn. 74). Da der weitere Musterrechtsbeschwerdeführer somit kein eigenes Rechtsmittel führt, kann ein in seiner Person eintretender Unterbrechungstatbestand nicht zur Unterbrechung des Musterrechtsbeschwerdeverfahrens führen.
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c) Der Senat schließt sich der Ansicht an, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines von mehreren Musterbeklagten nicht zur Unterbrechung des Musterverfahrens insgesamt führt.
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aa) Zwischen mehreren Musterbeklagten besteht im Regelfall nur eine einfache Streitgenossenschaft, soweit zwischen ihnen nicht unabhängig von der Einleitung eines Kapitalanleger-Musterverfahrens nach allgemeinen Grundsätzen eine notwendige Streitgenossenschaft im Sinne von § 62 ZPO anzunehmen ist. Wird über das Vermögen eines einfachen Streitgenossen das Insolvenzverfahren eröffnet, tritt die Unterbrechung nur in Bezug auf diesen ein, so dass gegen den anderen Streitgenossen trotz der Gefahr widersprechender Entscheidungen grundsätzlich ein Teilurteil (§ 301 ZPO) ergehen kann (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2023, II ZR 169/22, WM 2023, 535 Rn. 21 m. w. N.).
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§ 62 ZPO enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 61 ZPO, dass Handlungen eines Streitgenossen den übrigen weder zum Vorteil noch zum Nachteil gereichen (Althammer in Zöller, ZPO, § 62 Rn. 2). Eine notwendige Streitgenossenschaft, bei der das streitige Rechtsverhältnis allen Streitgenossen gegenüber nur einheitlich festgestellt werden kann, kann aus prozessualen oder materiell-rechtlichen Gründen bestehen. Aus prozessualen Gründen ist die Streitgenossenschaft eine notwendige, wenn die Rechtskraft der gegenüber nur einem Streitgenossen ergangenen Entscheidung sich auch auf den anderen Streitgenossen erstrecken würde (Althammer in Zöller, ZPO, § 62 Rn. 2 m. w. N.). Das ist nicht der Fall, wenn gegenüber mehreren Streitgenossen lediglich über eine einheitliche Vorfrage zu befinden ist, so bei Klagen gegen mehrere Gesamtschuldner (BGH, Urt. v. 1. März 2010, II ZR 213/08, WM 2010, 796 Rn. 22 m. w. N.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 31. Januar 2023, II ZR 169/22, WM 2023, 535 Rn. 22; Althammer in Zöller, ZPO, § 62 Rn. 10 m. w. N.). Aus materiell-rechtlichen Gründen besteht eine notwendige Streitgenossenschaft in den Fällen, in denen die Klage nur Erfolg haben kann, wenn sie durch oder gegen mehrere Parteien erhoben wird, eine Klage durch oder gegen nur eine Partei also mangels Prozessführungsbefugnis unzulässig wäre (Althammer in Zöller, ZPO, § 62 Rn. 11 m. w. N.).
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Die Stimmen in der Literatur, die von einer regelmäßig notwendigen Streitgenossenschaft der Musterbeklagten im Musterverfahren ausgehen, verkennen deren Voraussetzungen. Sie stellen maßgeblich darauf ab, dass über die Feststellungsziele im Musterverfahren nur eine einheitliche Entscheidung ergehen kann, und nehmen infolgedessen eine notwendige Streitgenossenschaft immer an, wenn ein Feststellungsziel mehrere Musterbeklagte betrifft. Der Umstand, dass über ein Feststellungsziel in mehreren Prozessrechtsverhältnissen zu entscheiden und die Entscheidung mithin grundsätzlich einheitlich zu treffen ist, reicht aber für sich genommen nicht aus, um eine notwendige Streitgenossenschaft – sei es aus prozessualen oder materiell-rechtlichen Gründen – der von diesem Feststellungsziel betroffenen Musterbeklagten zu begründen.
26
Das Musterverfahren bildet einen Abschnitt der von den Prozessgerichten ausgesetzten Ausgangsverfahren (BGH, Beschluss vom 22. November 2016, XI ZB 9/13, BGHZ 213, 65 Rn. 52 m. w. N.). Für Folgeprozesse, denen lediglich parallele Fallgestaltungen zugrunde liegen, kommt den Feststellungen des Musterentscheids keine Bindungswirkung zu (BGH, a. a. O.). Die Natur der Streitgenossenschaft zwischen mehreren Musterbeklagten ist deshalb allein anhand der Rechtsverhältnisse des jeweiligen Ausgangsverfahrens zu bestimmen. Denn gemäß § 9 Abs. 5 KapMuG erlangen die Musterbeklagten ihre Stellung im Musterverfahren ausschließlich durch ihre Beklagteneigenschaft in den nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Verfahren. Das Musterverfahren kann daher nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets nur als Teil der ausgesetzten Verfahren. Besteht in den Ausgangsverfahren zwischen den in Anspruch genommenen Beklagten keine notwendige Streitgenossenschaft, können sie auch im Musterverfahren als Musterbeklagte nur einfache Streitgenossen sein.
27
Die M. Beteiligungsgesellschaft mbH war in sämtlichen gegen sie geführten und nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten die einzige Beklagte.
28
Die jeweiligen Kläger begehren Schadensersatz, weil die M. Beteiligungsgesellschaft mbH – vertreten durch den Musterbeklagten zu 1) als ihren damaligen Geschäftsführer – Letzterem dazu Beihilfe geleistet habe, dessen Gläubigern Vermögensgegenstände zu entziehen und dadurch die Vollstreckung von Schadensersatzansprüchen gegen den Musterbeklagten zu 1), deren tatbestandliche Voraussetzungen den Gegenstand von Feststellungszielen des vorliegenden Musterverfahrens bilden, zu vereiteln.
29
Nach allgemeinen Grundsätzen sind die M. Beteiligungsgesellschaft mbH, deren Rechtsnachfolger der nunmehrige Musterbeklagte zu 7) ist, und der Musterbeklagte zu 1) somit weder aus prozessualen noch aus materiell-rechtlichen Gründen notwendige Streitgenossen. Der Schadensersatzanspruch gegen den Musterbeklagten zu 1), bezüglich dessen die M. Beteiligungsgesellschaft mbH nach Darstellung der Kläger Beihilfe zur Vollstreckungsvereitelung geleistet haben soll, bildet lediglich eine Vorfrage des gegen den Musterbeklagten zu 7) geltend gemachten Anspruchs. Der Umstand, dass dieselbe Sach- oder Rechtsfrage für verschiedene Schuldverhältnisse von Bedeutung ist, begründet für sich genommen keine notwendige Streitgenossenschaft zwischen den Gläubigern oder Schuldnern dieser Schuldverhältnisse.
30
bb) Mit der ratio des Kapitalanleger-Musterverfahrens wäre es unvereinbar, dass dieses insgesamt unterbrochen wird, wenn über das Vermögen eines oder einzelner von mehreren Musterbeklagten das Insolvenzverfahren eröffnet wird, ohne dass – unabhängig von der Einleitung des Musterverfahrens – die Voraussetzungen einer notwendigen Streitgenossenschaft zwischen dem von dem Unterbrechungstatbestand betroffenen und den übrigen Musterbeklagten vorliegen. Der Gesetzgeber hat die Gefahr einer Unterbrechung des Musterverfahrens nach § 240 ZPO infolge Insolvenzeröffnung – wenn auch nur in Bezug auf den Musterkläger – gesehen und zur Vermeidung der damit verbundenen Verfahrensverzögerungen in § 13 Abs. 1 Fall 2 KapMuG angeordnet, dass das für das Musterverfahren zuständige Gericht einen neuen Musterkläger zu bestimmen hat, wenn über das Vermögen des bisherigen Musterklägers das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Die Gesetzesbegründung betont in diesem Zusammenhang das Interesse an einer zügigen Durchführung des Musterverfahrens, weshalb zur Vermeidung unerwünschter Verfahrensverzögerungen in einem solchen Fall unverzüglich ein neuer Musterkläger zu bestimmen sei (vgl. BR-Drs. 2/05 S. 61 f.; BGH, ZIP 2022, 75 Rn. 4).
31
cc) Die in § 22 Abs. 1 Satz 2 KapMuG angeordnete Bindungswirkung des Musterentscheids in allen nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Verfahren steht einer Fortsetzung des Musterverfahrens gegen die nicht von einem Unterbrechungstatbestand betroffenen Musterbeklagten nicht entgegen. Das gilt insbesondere für den Unterbrechungstatbestand der Insolvenzeröffnung.
32
Zum einen ist der Insolvenzverwalter, wie oben unter Ziffer II dargelegt, verfahrensrechtlich bereits mit Erwerb der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Insolvenzschuldners – nicht erst mit der Aufnahme des Rechtsstreits – als Rechtsnachfolger des Schuldners Partei kraft Amtes. Aus diesem Grunde kann er etwa ein Rechtsmittel einlegen, um ein gegen § 240 ZPO verstoßendes Urteil aus der Welt zu schaffen, ohne die Unterbrechung durch Aufnahme des Verfahrens zu beenden (vgl. BGH, NJW 1997, 1445 [juris Rn. 10] m. w. N.).
33
Zum anderen enthält § 22 Abs. 3 KapMuG eine Regelung zur Einschränkung der Bindungswirkung des Musterentscheids für die Beigeladenen, deren Rechtsgedanke einer entsprechenden Anwendung auf Musterbeklagte, die wegen eines in ihrer Person vorliegenden Unterbrechungstatbestands zeitweise an der Mitwirkung am Musterverfahren verhindert waren, zugänglich sein dürfte. Gemäß § 22 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG können die Beigeladenen nach rechtskräftigem Abschluss des Musterverfahrens in ihrem jeweiligen Rechtsstreit unter anderem einwenden, dass sie durch die Lage des Musterverfahrens zur Zeit der Aussetzung des von ihnen geführten Rechtsstreits verhindert gewesen seien, Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend zu machen. Dieser Einwand dürfte auch einem Musterbeklagten zuzubilligen sein, gegen den ein zeitweilig unterbrochenes Musterverfahren vor Erlass des Musterentscheids wieder aufgenommen worden ist, soweit er infolge der Unterbrechung daran gehindert war, Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend zu machen.
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3. Eine Abtrennung des unterbrochenen Kapitalanleger-Musterverfahrens gegen den Musterbeklagten zu 7) von Amts wegen ist weder erforderlich noch möglich, weil sich keines der verfahrensgegenständlichen Feststellungsziele nur auf die M. Beteiligungsgesellschaft mbH bezieht. Handlungen ihrer Organe, welche dieser Gesellschaft zuzurechnen wären, werden in den Feststellungszielen nicht thematisiert.
35
Die Abtrennung des gegen den Musterbeklagten zu 7) unterbrochenen Musterverfahrens gemäß § 3 EGZPO in Verbindung mit § 145 ZPO hätte deshalb zur Folge, dass zwei Musterverfahren mit identischen Feststellungszielen vorlägen, was mit dem Sinn und Zweck des Kapitalanleger-Musterverfahrens unvereinbar wäre. Gemäß § 7 Satz 1 KapMuG ist mit dem Erlass eines Vorlagebeschlusses nach § 6 Abs. 1 KapMuG die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG auszusetzenden Verfahren unzulässig. Die Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses soll identische Vorlagebeschlüsse verhindern und damit der Gefahr widersprechender Musterentscheidungen vorbeugen (vgl. Reuschle in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 7 KapMuG Rn. 1; Kruis in Kölner Kommentar zum KapMuG, § 7 Rn. 1 f.).
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Unabhängig davon ist für eine Abtrennung des Musterverfahrens gegen den Musterbeklagten zu 7) – jedenfalls im gegenwärtigen Verfahrensstadium – auch kein Bedürfnis ersichtlich. Es ist damit zu rechnen, dass mindestens einer der Beigeladenen, welche die M. Beteiligungsgesellschaft mbH in Anspruch genommen haben, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über deren Vermögen die Aufnahme der Ausgangsverfahren gegen den Insolvenzverwalter betreiben wird.
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Bei einem Klageverfahren gegen mehrere (einfache) Streitgenossen ist es vor allem das Interesse an einer vollständigen Kostenentscheidung, das eine Prozesstrennung nach § 145 ZPO sachdienlich erscheinen lassen kann, wenn in der Person einzelner Streitgenossen ein Unterbrechungstatbestand eintritt. Eine Kostenentscheidung ergeht im erstinstanzlichen Musterverfahren aber nicht (§ 16 Abs. 2 KapMuG).