Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 02.04.2024 – 202 ObOWi 212/24
Titel:

Anforderungen an einen kurz vor dem Termin per beA eingereichten Entbindungsantrag

Normenketten:
OWiG § 73 Abs. 2, § 74, § 80
StPO § 32a Abs. 5, § 344 Abs. 2
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsätze:
1. Für die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist auch im Antragsverfahren auf Zulassung der Rechtsbeschwerde eine (behauptete) Gehörsverletzung mit der Verfahrensrüge geltend zu machen. (Rn. 6)
2. Dies gilt auch dann, wenn die Zulassungsrechtsbeschwerde mit einem Gehörsverstoß nach einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG begründet wird. Den sich aus den §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ergebenden Darlegungsanforderungen ist deshalb regelmäßig nur genügt, wenn sich aus dem Rügevortrag auch ergibt, dass und wie sich der Betroffene bezogen auf den Tatvorwurf im Falle einer Anhörung in der Hauptverhand-lung in der Sache konkret eingelassen bzw. verteidigt hätte. (Rn. 7 – 8)
3. Maßgeblicher Eingangszeitpunkt des für die Bearbeitung durch das Gericht geeigneten elektronischen Dokuments ist nach § 32a Abs. 5 Satz 1 StPO seine Speicherung auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des zuständigen Gerichts. (Rn. 14)
4. Auch dann, wenn der Entbindungsantrag als elektronisches Dokument per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem Termin (hier: 1 Stunde und 18 Minuten) bei einer für den gerichtlichen Eingang bestehenden ‚zentralen Stelle‘ eingeht, darf der Einspruch jedenfalls dann nicht ohne vorherige Entscheidung über den Entbindungsantrag verworfen werden, wenn der Antrag mit 'offenem Visier', d.h. nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ oder „verklausuliert“ gestellt wurde. Darauf, ob der per beA übermittelte Entbindungsantrag bis zum Erlass der Entscheidung tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt oder bei der zugehörigen Geschäftsstelle eingeht, kommt es nicht an. Maßgeblich ist allein, ob der Antrag bei gehöriger gerichtsinterner Organisation recht-zeitig hätte zugeleitet werden können. (Rn. 12 – 16)
Schlagworte:
Bußgeldverfahren, Geschwindigkeitsüberschreitung, Zulassungsrechtsbeschwerde, Urteilsaufhebung, Zurückverweisung, Einspruch, Einspruchsverwerfung, Verwerfungsurteil, Hauptverhandlung, Hauptverhandlungstermin, Verhandlungsbeginn, Urteilsverkündung, Ausbleiben, Entschuldigung, Gehör, Gehörsverstoß, Gehörsrüge, Rechtsmittelrechtfertigungsschrift, Darlegungsanforderungen, Sacheinlassung, entscheidungserheblich, Erscheinenspflicht, Entbindung;, Entbindungsantrag, Verteidiger, Vertretungsvollmacht, Anwaltspostfach, beA, Dokument, elektronisch, Gerichtseingang, Gerichtsnetz, gerichtsintern, Organisation;, Speicherung, zentral, Prüfvermerk, Weiterleitung, Verzögerung, verfahrensfremd, verfahrenswidrig, Missbrauch, verfahrensmissbräuchlich, Antrag auf Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen, besonderes elektronisches Anwaltspostfach, Eingangszeitpunkt, Kenntnisnahme, Grundsatz des rechtlichen Gehörs
Fundstellen:
BeckRS 2024, 10095
LSK 2024, 10095
NStZ-RR 2024, 291

Tenor

I. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Wunsiedel vom 20. November 2023 wird zugelassen.
II. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Wunsiedel vom 20. November 2023 aufgehoben.
III. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht Wunsiedel zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Mit Bußgeldbescheid vom 01.06.2023 setzte die Zentrale Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt gegen den Betroffenen wegen einer am 12.02.2023 als Führer eines Pkws auf einer Autobahn begangenen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um (toleranzbereinigt) 26 km/h eine Geldbuße von 225 Euro fest. Den hiergegen gerichteten Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht in Abwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers mit Urteil vom 20.11.2023 nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der ordnungsgemäß geladene, von der persönlichen Erscheinenspflicht nicht entbundene Betroffene zum Hauptverhandlungstermin ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen und auch nicht durch einen mit nachgewiesener Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden sei. Im Übrigen seien Gründe für das Ausbleiben des Betroffenen weder vorgetragen noch ersichtlich. Zwar sei seitens des Verteidigers mit Schriftsatz vom 19.11.2023 beantragt worden, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden. Jedoch sei dieser Schriftsatz erst am 20.11.2023 um 11.41 Uhr elektronisch bei Gericht eingegangen. Da der elektronische Eingang „zentral“ erfolge, sei der Schriftsatz erst gegen 13.00 Uhr auf der zuständigen Geschäftsstelle eingetroffenen, sodass er der Richterin bei der Urteilsverkündung um 13.16 Uhr nicht vorgelegen und nicht habe berücksichtigt werden können.
2
Gegen dieses Verwerfungsurteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt. Der Betroffene rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere die Verletzung rechtlichen Gehörs.
II.
3
Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil wegen der formgerecht gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Auf die „zusätzlich und vorsorglich“ (unausgeführt) erhobene Sachrüge, mit welcher ohnehin nur das Fehlen von Verfahrensvoraussetzungen oder das Vorliegen von Verfahrenshindernissen zu prüfen ist, wofür keinerlei Anhalt gegeben ist, kommt es unbeschadet eines insoweit gegebenen Zulassungsgrundes nicht an.
4
Die Einspruchsverwerfung hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht über den rechtzeitig vor Verhandlungsbeginn gestellten und begründeten Antrag des Betroffenen, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, nicht entschieden und deshalb das Fernbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung zu Unrecht als nicht genügend entschuldigt angesehen hat.
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1. Die zur Beurteilung des gerügten Gehörsverstoßes notwendigen Verfahrenstatsachen werden in der gebotenen Vollständigkeit vorgetragen.
6
a) Für die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung auch im Antragsverfahren auf Zulassung der Rechtsbeschwerde eine (behauptete) Gehörsverletzung mit der Verfahrensrüge geltend zu machen, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt ist, allein anhand der Rügedarstellung zu überprüfen, ob der geltend gemachte Verfahrensverstoß vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen (vgl. u.a. schon OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.02.1999 – 5 Ss [OWi] 3/99 = NJW 1999, 2130 = ZfSch 1999, 358 = VRS 97 [1999], 55 = BeckRS 1999, 160592 u. 04.04.2011 – 3 RBs 52/11 bei juris = VRS 120 [2011], 343 = BeckRS 2011, 7304; OLG Bamberg, Beschluss vom 04.07.2011 – 3 Ss OWi 606/11 bei juris = DAR 2012, 88 = BeckRS 2011, 24701; ferner u.a. OLG Brandenburg, Beschluss vom 26.06.2014 – 53 Ss-OWi 249/14 bei juris = VRS 127 [2014], 38 = BeckRS 2014, 16542; OLG Hamm, Beschluss vom 03.01.2019 – 4 Rbs 377/18 bei juris = BeckRS 2019, 780; OLG Dresden, Beschluss vom 24.07.2013 – 21 Ss 551/13 bei juris = NZV 2013, 613 = BeckRS 2013, 22179; KG, Beschluss vom 27.07.2021 – 3 Ws [B] 194/21 – 162 Ss 93/21 bei juris = OLGSt OWiG § 74 Nr 29 = BeckRS 2021, 22670; KK/Hadamitzky OWiG 5. Aufl. § 80 Rn. 40c, 41b; Göhler/Baur OWiG 19. Aufl. § 80 Rn. 16c u. BeckOK/Bär OWiG [41. Edition, Stand: 01.01.2024] § 80 Rn. 20, 25 f., 47, 102 ff., jeweils m.w.N.).
7
b) Diese Voraussetzungen gelten auch dann, wenn der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit einem Gehörsverstoß nach einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG begründet wird (zu den Begründungsanforderungen an die Gehörsrüge im Zulassungsverfahren gegen ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG vgl. neben OLG Bamberg a.a.O. zuletzt u.a. BayObLG, Beschluss vom 02.02.2023 – 201 ObOWi 1555/22 bei juris = ZfSch 2023, 468 = BeckRS 2023, 3152; ferner u.a. KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 74 Rn. 56 ff.; KK/Hadamitzky a.a.O. § 80 Rn. 40c ff.; Göhler/Baur a.a.O. § 74 Rn. 48b i.V.m. § 80 Rn. 16c sowie BeckOK/Bär OWiG a.a.O. § 80 Rn. 25 f., jeweils m.w.N.).
8
c) Diesen aus den §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO resultierenden Darlegungsanforderungen wird der Rügevortrag gerecht. Insbesondere ergibt sich aus der Rechtfertigungsschrift vom 28.12.2023 und dem dort vollständig mitgeteilten Verteidigerschriftsatz vom 19.11.2023, dass und wie sich der Betroffene bezogen auf den durch den Bußgeldbescheid vom 01.06.2023 umschriebenen Tatvorwurf im Falle seiner Anhörung in dem mit Verfügung vom 07.09.2023 auf den 20.11.2023, 13.00 Uhr, festgesetzten Termin zur Hauptverhandlung, gegebenenfalls vertreten durch seinen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger als Vertreter im Sinne von § 73 Abs. 3 OWiG, in der Sache konkret eingelassen bzw. verteidigt hätte. Schriftsätzlich wurde namentlich das Fehlen einer den Tatvorwurf rechtfertigenden korrekten Beschilderung an der verfahrensgegenständlichen Messstelle geltend gemacht. Insofern handelt es sich um eine entscheidungserhebliche Sacheinlassung, die durch die Verwerfung des Einspruchs unberücksichtigt geblieben ist.
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d) Anhaltspunkte für mit dem Verteidigerschriftsatz vom 19.11.2023 mit vorangestelltem, fett formatierten Zusatz „Eilt!!“ dem Amtsgericht elektronisch per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (im Folgenden: beA) übermittelte Antragstellung auf Entbindung von der Erscheinenspflicht zugleich oder gar vorrangig verfolgte verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke, die im Einzelfall zur Unzulässigkeit der verfahrensrechtlichen Beanstandung unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs prozessualer Rechte führen könnten, fehlen vollständig (vgl. in diesem Sinne etwa OLG Zweibrücken, Beschluss vom 17.11.2017 – 1 OWi 2 SsBs 40/17 = ZfSch 2018, 50 = NZV 2018, 687 = BeckRS 2017, 138891 m.w.N.). Vielmehr hat der Betroffene in dem eineinhalbseitigen, klar gegliederten und keine weiteren, gegebenenfalls den Blick auf das Entbindungsbegehren verstellenden Prozesserklärungen enthaltenden, bei Gericht laut Prüfvermerk vom selben Tag am 20.11.2023 um 11.41 Uhr eingegangenen Entbindungsantrag vom 19.11.2023 seine Fahrereigenschaft zur Tatzeit am 12.02.2023 um 14.22 Uhr unmissverständlich ‚eingeräumt‘ und erklärt, „in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen“ zu leben und eine (etwaige) „Geldbuße ohne Ratenzahlung begleichen“ zu können. Darüber hinaus enthält die Antragsbegründung die abschließende Erklärung, dass der Betroffene im Termin „darüber hinaus weitere Angaben zur Sache und zur Person nicht machen“ wird. Die für einen wirksamen Entbindungsantrag erforderliche schriftliche besondere Vertretungsvollmacht für den Verteidiger lag vor und wurde als Anlage zusammen mit dem Entbindungsantrag vom 19.11.2023 zum oben genannten Zeitpunkt eingereicht und auch nochmals mit der Rechtsmittelrechtfertigungsschrift vom 28.12.2023 vorgelegt (zur entsprechenden Auslegung einer ausdrücklich nur die besondere strafprozessuale Vertretungsvollmacht nennenden Erklärung vgl. schon OLG Bamberg, Beschluss vom 29.05.2006 – 3 Ss OWi 430/06 bei juris = NStZ 2007, 180 = BeckRS 2006, 9490 m.w.N.).
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2. Die Verfahrensrüge ist auch begründet, weil das Amtsgericht verpflichtet gewesen wäre, über den am Terminstag per beA elektronisch um 11.41 Uhr, mithin rechtzeitig vor dem auf 13.00 Uhr angesetzten Beginn der Hauptverhandlung erfolgreich übermittelten Entbindungsantrag zu entscheiden. Dies ist rechtsfehlerhaft unterblieben und ‚sperrte‘ damit eine Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG. Durch die gleichwohl erfolgte Verwerfung des Einspruchs ist der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden.
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a) Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht nicht im Ermessen des Gerichtes, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (st.Rspr., vgl. zuletzt OLG Brandenburg, Beschluss vom 21.02.2024 – 1 ORbs 19/24 bei juris = BeckRS 2024, 4600 m.w.N.).
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b) Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag und erst kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der keiner besonderen Form bedürfende Antrag (OLG Brandenburg a.a.O.) – wie hier – mit ‚offenem Visier‘, also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ (vgl. hierzu z.B. OLG Hamm, Beschluss vom 19.05.2015 – 5 RBs 59/15 = NStZ-RR 2015, 259 = NZV 2016, 98) oder „verklausuliert“ (vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 15.04.2015 – 21 Ss OWi 45/15 = NJW 2015, 1770 m. zust. Anm. Leitmeier = NStZ-RR 2015, 289 = NZV 2015, 515; vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.04.2017 – 2 RBs 49/17 bei juris [„Gehörsrügefalle“]) eingereicht und bei einer Übermittlung per beA gemäß § 32a Abs. 5 StPO rechtzeitig bei Gericht eingegangen ist.
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aa) Ein elektronisches Dokument ist nach § 32a Abs. 5 Satz 1 StPO „eingegangen, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung […] des Gerichts gespeichert ist“, worüber nach § 32a Abs. 5 Satz 2 StPO „dem Absender […] eine automatisierte Bestätigung über den Zeitpunkt des Eingangs zu erteilen“ ist.
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bb) Maßgeblich für den Eingangszeitpunkt des für die Bearbeitung durch das Gericht geeigneten Dokuments ist damit kraft Gesetzes allein die Speicherung des Dokuments auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung gerade des zuständigen Gerichts. Gerichtsinterne Verzögerungen bei der Weiterleitung oder ob das fragliche Dokument rechtzeitig an andere Rechner innerhalb des Gerichtsnetzes weitergeleitet oder von solchen Rechnern abgeholt bzw. abgerufen werden konnte, sind demgegenüber irrelevant mit der Folge, dass es dem Absender grundsätzlich ermöglicht ist, Fristen bis kurz vor ihrem Ablauf zu nutzen. Auf etwaige nachfolgende Verarbeitungsschritte, wie das Zuweisen der Nachricht zu einem vorhandenen oder neu anzulegenden Verfahren, der Ausdruck oder die Speicherung zu einer konkreten elektronischen Akte sind diesbezüglich ebenso unerheblich wie der Zeitpunkt eines anschließenden Ausdrucks für eine nach wie vor in Papierform geführte Akte (vgl. u.a. [jew. zu § 130a Abs. 5 Satz 1 ZPO] BGH, Urt. v. 14.05.2020 – X ZR 119/18 bei juris = GRUR 2020, 980 = ZA 2020, 1199 = MDR 2020, 1272 = MMR 2021, 57 = WM 2021, 463; BGH, Beschluss vom 11.05.2021 – VIII ZB 9/20 bei juris = AnwBl Online 2021, 750 = BB 2021, 1681 = NJW 2021, 2201 = MDR 2021, 896 = MMR 2022, 127 = GI aktuell 2023, 102; BGH, Beschluss vom 30.11.2022 – IV ZB 17/22 bei juris = AnwBl Online 2023, 77 = ZInsO 2023, 138 = VersR 2023, 200 = K& R 2023, 139 = MDR 2023, 184 = BRAK-Mitt 2023, 56 = FamRZ 2023, 298 = RuS 2023, 191 = GI aktuell 2023, 49 = NJW-RR 2023, 351 = InsbürO 2023, 170 = BeckRS 2022, 36535, jeweils m.w.N.; ferner Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler StPO 66. Aufl. § 32a Rn. 6; BeckOK-StPO/Valerius [50. Edit., Stand: 01.01.2024] § 32a Rn. 15 f.; KK-StPO/Graf 9. Aufl. § 32a Rn. 19; MüKoStPO/Beller/Gründler/Kindler/Rochner 2. Aufl. § 32a Rn. 45, jeweils m.w.N.). Bei einem deutlich mehr als eine Stunde vor dem auf 13.00 Uhr bestimmten Verhandlungstermin per beA beim zuständigen Gericht eingegangenen Entbindungsantrag mit dem vorgenannten Inhalt durften der Antragsteller und seine Verteidigung deshalb darauf vertrauen, dass der Antrag der zuständigen Bußgeldrichterin auch dann rechtzeitig vor Aufruf der Sache vorgelegt wird, wenn der beA-Eingang bei dem fraglichen Gericht „zentral“ erfolgt.
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c) Es kommt daher auch nicht darauf an, dass der vom Verteidiger des Betroffenen verfasste Entbindungsantrag ausweislich des in den Akten niedergelegten Vermerks vom 20.11.2023 tatsächlich „erst gegen 13.30 Uhr auf der Geschäftsstelle eingetroffen“ und damit erst nach Urteilserlass dem Gericht vorgelegt werden konnte, mithin der Einspruch des Betroffenen in Unkenntnis des Antrags auf Entbindung ohne Sachprüfung verworfen worden ist. Maßgeblich ist allein, dass nach Aktenlage der Antrag beim Amtsgericht am 20.11.2023 um 11.41 Uhr und damit 1 Stunde und 18 Minuten vor Sitzungsbeginn tatsächlich einging und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation der Bußgeldrichterin rechtzeitig zugeleitet oder sonst zur Kenntnis hätte gebracht werden können. Denn vor einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass das Gericht sich vor der Urteilsverkündung bei seiner Geschäftsstelle oder – wie hier – einer zentralen Eingangsstelle für elektronisch übermittelte Dokumente informiert, ob dort eine Entschuldigungsnachricht oder ein Entbindungsantrag des Betroffenen vorliegt, zumal entsprechende schriftliche oder auch telefonische Mitteilungen bzw. Gesuche erfahrungsgemäß schon vor Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs häufig erst am Terminstag dem Gericht übermittelt wurden (st.Rspr., vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 23.05.2017 – 3 Ss OWi 654/17 = StraFo 2017, 510 = OLGSt OWiG § 73 Nr 18; vgl. auch Rueber-Unkelbach, jurisPR-VerkR 2/2018 Anm. 5; ferner u.a. OLG Bamberg, Beschluss vom 30.10.2007 – 2 Ss OWi 1409/07 = NStZ-RR 2008, 86 = NZV 2008, 259; 27.01.2009 – 2 Ss OWi 1613/08 = NStZ-RR 2009, 149 = ZfSch 2009, 290 = NZV 2009, 355 = OLGSt OWiG § 74 Nr. 2 und 29.12.2010 – 2 Ss OWi 1939/10 = NZV 2011, 409, jeweils m.w.N.; siehe auch OLG Naumburg, Beschluss vom 25.08.2015 – 2 Ws 163/15 bei juris sowie KG, Beschluss vom 10.11.2011 – 2 Ss 286/11 bei juris und 28.08.2014 – 122 Ss 132/14 = StraFo 2014, 467 = VRS 127 [2014], 181). Eine sich aufdrängende Erkundigungspflicht des Gerichts oder eine Verpflichtung zu einem weiteren Zuwarten vor Erlass des Verwerfungsurteils bestand im Übrigen auch deshalb, weil unbeschadet des bereits auf 13.00 Uhr bestimmten Termins bis zum tatsächlichen Sitzungsbeginn um 13.15 Uhr weder der Betroffene noch sein Wahlverteidiger erschienen waren.
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Nach alledem hätte der Entbindungsantrag durch das Amtsgericht zur Kenntnis genommen und beschieden werden müssen. Dadurch, dass dies nicht geschah, ist der Betroffene in seinem grundrechtlich gewährleisteten Recht, vor Gericht gehört zu werden (Art. 103 Abs. 1 GG), verletzt.
III.
17
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Wunsiedel zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG). Gründe, die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts oder ein anderes Amtsgericht zurückzuverweisen, sind nicht gegeben.
IV.
18
Die Entscheidung ergeht durch Beschluss nach § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
V.
19
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.