Titel:
Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung und Geheimhaltungsinteresse
Normenketten:
VVG § 203 Abs. 2
GVG § 174 Abs. 1, Abs. 3
Leitsätze:
1. Im gerichtlichen Verfahren über eine Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung gem. § 203 Abs. 2 VVG sind grundsätzlich alle Unterlagen, die dem Treuhänder anlässlich der jeweiligen Prämienanpassung vorgelegen haben und in ihrer Gesamtheit die Berechnungsgrundlagen für die streitigen Prämienanpassungen beinhalten, Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse des Versicherers und daher geheimhaltungsbedürftig. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kann sich der Versicherer berechtigtermaßen auf sein Interesse berufen, die an den Treuhänder übergebenen Unterlagen nur solchen Personen zugänglich zu machen, welche einer strafbewehrten Geheimhaltungspflicht unterliegen, und kommt eine Herausgabe der Unterlagen nach § 174 Abs. 3 GVG nicht in Betracht, weil der sachbearbeitende Rechtsanwalt nicht zur mündlichen Verhandlung erscheint und daher mangels Anwesenheit nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet werden kann, kommt auch die Einholung eines Gutachtens zur Frage der Vollständigkeit der Unterlagen nicht in Betracht (unter Hinweis auf BGH BeckRS 2015, 20932 Rn. 18). (Rn. 15 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. In einem solchen Fall kann sich der klagende Versicherungsnehmer nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung nicht darauf berufen, der darlegungs- und beweisbelastete Versicherer habe den Nachweis der Vollständigkeit der Unterlagen nicht geführt. Denn die materiellen gesetzlichen und/oder vereinbarten Voraussetzungen einer Beitragserhöhung vermag der Versicherer nur mittels Gutachten nachzuweisen nach Vorlage derjenigen Unterlagen, welche er im Zusammenhang mit den streitgegenständlichen Beitragserhöhungen dem Treuhänder vorgelegt hatte (unter Hinweis auf BGH BeckRS 2004, 6432). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Krankenversicherung, Beitragsanpassung, Prämienanpassung, Geheimhaltungsinteresse, Treuhänder, Geschäftsgeheimnisse, Betriebsgeheimnisse
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9993
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen Prämienerhöhungen seiner privaten Krankenversicherung.
2
Die Klägerseite unterhält bei der beklagten Partei eine private Krankenversicherung.
3
Die Beklagte erhöhte die Tarife der Klägerseite regelmäßig.
4
Die Klagepartei stellt sich auf den Standpunkt, die antragsgegenständlichen Prämienerhöhungen wären materiell unwirksam. Sie bestreitet, dass die dem Treuhänder vorgelegten Unterlagen vollständig gewesen seien und dass die Limitierungsmaßnahmen für die streitgegensdtändlichen Beitragsanpassungen rechtmäßig waren. Sie hält es für zumutbar, dass die beklagte Partei sämtliche Unterlagen, die dem Treuhänder im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Beitragserhöhung nach Behauptung der beklagten Partei vorgelegt worden sein sollen, der in der Verhandlung erschienenen Prozessvertretung der Klagepartei übergeben werden, welche gleichermaßen vom Kläger Prozessvollmacht wie die Kanzlei … habe. Ein persönliches Erscheinen aller Prozessbevollmächtigter in der Verhandlung sei nicht erforderlich, um den Geheimhaltungsinteressen der beklagten Partei Genüge zu tun. Eines Gutachters bedürfe es nicht, weil die versicherungsmathematische Richtigkeit der Beitragsanpassungen nicht bestritten werde.
5
Die Klagepartei beantragt:
1) Es wird festgestellt, dass folgende Neufestsetzungen der Prämien in der zwischen der Klägerseite und der Beklagten bestehenden Kranken-/Pflegeversicherung mit der Versicherungsnummer … unwirksam sind:
a) die Erhöhung des Beitrags im Tarif … zum 01.01.2021 in Höhe von 45,95 €
b) die Erhöhung des Beitrags im Tarif … zum 01.01.2021 in Höhe von 5,26 €
c) die Erhöhung des Beitrags im Tarif … zum 01.01.2022 in Höhe von 23,95 €
d) die Erhöhung des Beitrags im Tarif … zum 01.01.2022 in Höhe von 3,24 €
e) die Erhöhung des Beitrags für gesetzl. Zuschlag … zum 01.01.2022 in Höhe von 2,40 €
und die Klägerseite nicht zur Zahlung des jeweiligen Differenzbetrages verpflichtet, sowie der Gesamtbeitrag unter Berücksichtigung der erfolgten Absenkungen um insgesamt 80,80 € zu reduzieren ist.
2) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerseite 1.745,72 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
3) Es wird festgestellt, dass die Beklagte der Klägerseite zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet ist, die sie aus dem Prämienanteil gezogen hat, den die Klägerseite auf die unter 1) aufgeführten Beitragserhöhungen gezahlt hat.
6
Die beklagte Partei beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
7
Die beklagte Partei behauptet, die gesetzlichen und vertraglich vereinbarten Voraussetzungen für die streitgegenständliche Beitragserhöhung hätten vorgelegen. Ein Treuhänder, welchem alle relevanten Unterlagen vollständig vorgelegt worden seien, habe der Prämienerhöhung zugestimmt.
8
Die beklagte Partei ist bereit, dem Gericht die Unterlagen zu überlassen, welche sie dem Treuhänder im Zusammenhang mit der Beitragserhöhung übergeben hat. Sie ist einverstanden, dass diese Unterlagen an einen vom Gericht zu bestellenden Gutachter weitergegeben und im Prozess verwendet werden, wenn die jeweils sachbearbeitenden Rechtsanwälte aus allen hauptbevollmächtigten Kanzleien bereit seien, zur Verhandlung und dortigen Verpflichtung zur Verschwiegenheit zu erscheinen. Es sei der beklagten Partei indes nicht zumutbar, dass diese Unterlagen nur einem Sachbearbeiter übergeben werden, wenn nachfolgende weitere Dokumente wie Gutachten sowie gerichtliche Hinweise und Urteile, soweit sie aus diesen Unterlagen zitieren, auch dem nicht zur Verschwiegenheit verpflichteten, weiteren Hauptbevollmächtigten zugehen können.
9
Die Beklagte beruft sich auf Verjährung.
10
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.03.2023 verwiesen.
Entscheidungsgründe
11
Die – auch im Hinblick auf die Feststellungsanträge (vgl.: BGH, Urteil vom 19.12.2018 – IV ZR 255/17) – zulässigen Klageanträge sind unbegründet. Die antragsgegenständlichen Prämienerhöhungen sind rechtmäßig.
12
Ohne Erfolg bestritt die Klagepartei, dass die Beklagte dem Treuhänder sämtliche Unterlagen vollständig vorgelegt habe, mit Hilfe derer die Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen der streitgegenständlichen Beitragserhöhungen möglich ist.
13
Zwar trifft die beklagte Partei die diesbezügliche Darlegungs- und Beweislast. Indes kann sich die Klagepartei nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung nicht darauf berufen, die beklagte Partei habe den Nachweis nicht geführt. Die materiellen gesetzlichen und/oder vereinbarten Voraussetzungen einer Beitragserhöhung vermag die beklagte Partei nur mittels Gutachten nachzuweisen nach Vorlage derjenigen Unterlagen, welche sie im Zusammenhang mit den streitgegenständlichen Beitragserhöhungen dem Treuhänder vorgelegt hatte (BGH VersR 2004, 991).
14
Die Unterlagen, die dem Treuhänder anlässlich der jeweiligen Prämienanpassung vorgelegen haben, enthalten mit der Korrespondenz zu den auslösenden Faktoren eine Kommentierung und Prognose der unternehmensinternen Schadensentwicklung im Sinne einer Herleitung der Kopfschadenprofile sowie Grundkopfschäden. In den technischen Berechnungsgrundlagen werden unter anderem mit detaillierten Informationen hinsichtlich der rechnungsmäßigen Ansätze der Abschluss-, Verwaltungs- und Schadenregulierungskosten, des Stornoverhaltens in den einzelnen Tarifsegmenten und Zahlen und Grafiken zu Rechnungsgrundlagen, Beitrag/Limitierung, Alterungsrückstellung, Anwartschaft unternemensindividuelle interne Geschäfts- und Betriebsinformationen offenbart. Das Gleiche gilt für die gesamte Korrespondenz zwischen dem Treuhänder und dem Versicherer. Somit sind grundsätzlich alle Unterlagen aus dem Anlagenkonvolut, das in seiner Gesamtheit die Berechnungsgrundlagen für die streitigen Prämienanpassungen beinhaltet, Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse und daher geheimhaltungsbedürftig. Der Versicherer hat an diesen Unterlagen ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse und sie unterliegen der Verpflichtung zur Verschwiegenheit (vgl. BGH VersR 2016, 177; KG VersR 2021, 1318). Dies ist den Prozessbevollmächtigten der Klagepartei natürlich bekannt, was sich nicht zuletzt auch aus der – insbesondere im Termin intensiv geführten und protokollierten – Diskussion ergibt, ob eine Verschwiegenheitsverpflichtung allein des Unterbevollmächtigten in Betracht kommt. Der Einzelrichter hatte das persönlichen Erscheinen der Klagepartei im Übrigen in der Terminsladung explizit zur Verpflichtung zur Verschwiegenheit angeordnet; dass der Termin der Verpflichtung zur Verschwiegenheit diente, war also klar.
15
Vor diesem Hintergrund hat sich die beklagte Partei berechtigtermaßen auf ihr Interesse berufen, die an den Treuhänder übergebenen Unterlagen nur solchen Personen zugänglich zu machen, welche einer strafbewehrten Geheimhaltungspflicht unterliegen. Dabei ist eine Verpflichtung der Geheimhaltung nur in Bezug auf Personen möglich, welche in der Verhandlung selbst zugegen sind (MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, GVG § 174 Rn. 14). So ist schon nach dem Wortlaut des § 174 Abs. 3 GVG eine Verpflichtung zur Geheimhaltung nur von „anwesenden Personen“ statthaft. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Norm, denn § 174 Abs. 3 GVG knüpft an den Ausschluss der Öffentlichkeit in § 174 Abs. 1 GVG an; soweit für die patentrechtliche Praxis eine andere Auffassung vertreten wird, spielt diese für die vorliegende Konstellation schon deshalb keine Rolle, weil insoweit in § 145a PatG eine speziellere – und von § 174 Abs. 3 GVG abweichende – Regelung vorgesehen ist. Insoweit kommt auch keine erweiternde Auslegung in Betracht, denn der Geheimhaltungsbeschluss gem. § 174 Abs. 3 GVG ist Grundlage einer Strafnorm (§ 353d StGB) und als solche einer erweiternden Auslegung kraft des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes gem. Art. 103 Abs. 2 GG entzogen (vgl. auch BeckOK GVG/Allgayer, 16. Ed. 15.8.2022, GVG § 174 Rn. 16 sowie BGH NJW-RR 2016, 606 ff. und VersR 2021, 1120 ff.).
16
Dem berechtigten Geheimhaltungsinteresse der beklagten Partei kann auch nicht dadurch Genüge getan werden, dass nur die erschienene Rechtsanwältin die Unterlagen entgegen nimmt und bei sich verwahrt, ohne sie an den weiteren Hauptbevollmächtigten weiterzureichen. Denn geheimhaltungsbedürftige Informationen befinden sich nicht nur in den beklagtenseits zu übergebenden Unterlagen selbst, sondern auch in dem einzuholenden Gutachten sowie dem nachfolgend zu erlassenden gerichtlichen Urteil, welche auf diese Unterlagen Bezug zu nehmen und sie – zu ihrer Begründung – auszugsweise zitieren.
17
Die Beklagtenvertreterin hat daher zutreffend darauf hingewiesen, dass die sachbearbeitenden Rechtsanwälte aus allen hauptbevollmächtigten Kanzleien zu einem entsprechenden Termin persönlich zu erscheinen haben. Ohne eine Verschwiegenheitsverpflichtung dieser kommt weder die Einholung eines Gutachtens zur Frage der Vollständigkeit der Unterlagen in Betracht (BGH NJW-RR 2016, 606 (608; Rn. 18)), noch eine Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Beitragsanpassungen in einem gerichtlichen Urteil, welches sich ebenfalls mit den Unterlagen auseinanderzusetzen hätte und daher geheimhaltungsbedürftige Informationen zum Gegenstand hätte. Zuletzt kommt nicht einmal ein konkreterer Schriftsatz der Beklagten zu diesen Themen in Betracht, denn auch ein solcher wäre allen hauptbevollmächtigten Rechtsanwälten zu übersenden.
18
Dem Geheimhaltungsinteresse der Beklagten wäre nur dann Genüge getan, wenn der früher alleinige Hauptbevollmächtigte entweder zur Verschwiegenheitsverpflichtung persönlich erschienen wäre oder seine Vertretungstätigkeit in dem vorliegenden Fall beendet hätte. Auf ausdrückliche Frage in der mündlichen Verhandlung vom 21.03.2023 hat die Klägervertreterin jedoch erklärt, dass die Kanzlei … das Mandat fortführe.
19
Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.