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VGH München, Beschluss v. 26.01.2023 – 6 AS 22.31155
Titel:

Unzulässiger Asylantrag, Abschiebungsandrohung, Zweitantrag, unionsrechtlich ermöglichtes Folgeantragkonzept, Mitgliedstaatübergreifende Anwendung (kein acte clair)

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 7
RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. d)
RL 2013/32/EU Art. 2 Buchst. q)
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5
AsylG § 34 Abs. 1
AsylG § 71a
Schlagworte:
Unzulässiger Asylantrag, Abschiebungsandrohung, Zweitantrag, unionsrechtlich ermöglichtes Folgeantragkonzept, Mitgliedstaatübergreifende Anwendung (kein acte clair)
Vorinstanzen:
VG Regensburg, Beschluss vom 27.06.2022 – RO 14 S 22.3047
VG Regensburg, Beschluss vom 07.02.2020 – RO 5 S 20.30188
Fundstelle:
BeckRS 2023, 995

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller in der Hauptsache erhobenen Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. Januar 2020 - 7711992-232 - wird unter Abänderung der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. Februar 2020 - RO 5 S 20.30188 - und vom 27. Juni 2022 - RO 14 S 22.30477 - angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1
Der Antrag, die aufschiebenden Wirkung der Hauptsacheklage unter Änderung der ablehnenden Beschlüsse des Verwaltungsgerichts anzuordnen, über den der Senat nach Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung im Hauptsacheverfahren (6 ZB 22.3114) als nunmehr zuständiges Gericht der Hauptsache im Sinn von § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO entscheidet, hat im Ergebnis Erfolg.
2
Zwar dürften sich seit der letzten Entscheidung des Verwaltungsgerichts (Beschluss vom 27.6.2022) die maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände nicht im Sinn von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO verändert haben. Nach Satz 1 dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache jedoch auch ohne veränderte Umstände Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit von Amts wegen ändern oder aufheben. Davon macht der Senat Gebrauch, weil nach der aktuellen Sach- und Rechtslage die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des angefochtenen Bescheids geboten ist.
3
Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit der Ablehnung des Zweitantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG verbunden und auf § 71a i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG gestützt hat. Die behördliche Anordnung beruht auf der Annahme, der vom Antragsteller am 23. Januar 2019 in Deutschland gestellte Asylantrag sei als Zweitantrag im Sinn von § 71a Abs. 1 Satz 1 Asyl einzustufen, weil der Antragsteller bereits zuvor in Frankreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, der von den französischen Behörden abgelehnt worden sei.
4
Der Antragsteller hat mit seinem fristgerechten Zulassungsantrag im Hauptsacheverfahren (6 ZB 22.31134) als entscheidungserheblich und grundsätzlich bedeutsam die Rechtsfrage aufgeworfen, ob eine nationale Regelung wie § 71a AsylG, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt werden kann, mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) und Art. 2 Buchst. q) RL 2013/32/EU vereinbar ist, wenn das erfolglose erste Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, hier in Frankreich, durchgeführt wurde.
5
Diese Frage ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 - BVerwGE 157, 18 Rn. 26) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) bislang offen gelassen worden (vgl. Hage, NVwZ 2022, 391/393). Der EuGH hat zwar mit Urteil vom 22. September 2022 - C-497/21 - die Frage für den Fall (verneinend) beantwortet, dass der frühere Antrag in dem Mitgliedstaat Dänemark gestellt und abgelehnt wurde; das hat er allerdings damit begründet, dass nach dem Abkommen zwischen der Union und Dänemark (ABl. 2006, L 66, S. 38) die RL 2011/95/EU auf Dänemark keine Anwendung findet und dort deshalb kein „Antrag“ im Sinn von Art. 2 Buchst. b) RL 2013/32/EU gestellt und keine „bestandskräftige Entscheidung“ im Sinn von Art. 2 Buchst. e) RL 2013/32/EU getroffen werden kann (juris Rn. 43 ff.). Die im vorliegenden Fall entscheidende Frage, ob der Begriff „Folgeantrag“ auf einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz anwendbar ist, der in einem Mitgliedstaat gestellt wird, nachdem ein anderer Mitgliedstaat als Dänemark einen früheren Antrag eine bestandskräftige Entscheidung abgelehnt hat, hat der EuGH jedoch erneut ausdrücklich offen gelassen (Rn. 46 des Urteils; zuvor bereits U.v. 20.5.2021 - C-8/20 - juris Rn. 40).
6
Diese Frage nach einer mitgliedstaatsübergreifenden Anwendbarkeit des § 71a AsylG dürfte sich auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des EuGH auch nicht ohne weiteres (als „acte clair“) im Sinn des Verwaltungsgerichts beantworten lassen (vgl. OVG NW, B.v. 31.3.2022 - 1 B 375/22.A - juris Rn. 7 ff.). Denn die Europäische Kommission hat in einem früheren Verfahren vor dem EuGH die Auffassung vertreten, dass der weitere Antrag auf internationalen Schutz nur dann als „Folgeantrag“ eingestuft werden könne, wenn er in demjenigen Mitgliedstaat gestellt werde, dessen zuständige Stellen einen früheren Antrag desselben Antragstellers mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt hätten (vgl. EuGH, U.v. 20.5.2021 - C-8/20 - juris Rn. 29).
7
Die Entscheidung über den Zulassungsantrag des Antragstellers bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
8
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.