Titel:
erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung (Asyl)
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Die Frage, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums vorliegt, ist einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, sondern bedarf stets einer Würdigung des konkreten Einzelfalls. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, Familienverband, Abschiebungsverbot, humanitäre Verhältnisse, rechtliches Gehör
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 05.12.2022 – RO 13 K 20.30837
Fundstelle:
BeckRS 2023, 994
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe sind schon nicht ausreichend dargelegt (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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a) Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
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Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung (entscheidungserheblich) war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72).
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aa) Die Kläger werfen im Rahmen dieses Zulassungsgrunds „die rechtliche und tatsächliche Frage“ auf:
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„Ist nicht davon auszugehen, dass ein Kläger mit Erreichen der Volljährigkeit aus dem Familienverband ausscheidet? Ist dadurch die Annahme einer Rückkehr des Klägers zu 3 mit den restlichen Familienmitgliedern in den Irak nicht ausgeschlossen?“
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Diese Frage ist nicht grundsätzlich bedeutsam, da sie sich nicht allgemein - für jedermann gültig - beantworten lässt. Vielmehr ist hierfür eine Prognose im Hinblick auf den jeweiligen Betroffenen und seine Familie erforderlich. Mit ihrer Kritik an der Aussage des Verwaltungsgerichts, dass es im vorliegenden Fall davon ausgehe, dass der Kläger zu 3 mit seiner Familie in den Irak zurückkehren werde, machen die Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts geltend. Dieser Zulassungsgrund ist in asylrechtlichen Streitverfahren nicht gegeben (vgl. § 78 Abs. 3 AsylG).
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bb) Auch die von den Klägern weiter aufgeworfene Frage, ob bei einem kurdisch-stämmigen Rückkehrer in den Irak nicht aufgrund der sich zuspitzenden humanitären Lage davon auszugehen ist, dass dieser sich in der Regel auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG berufen kann, ist nicht grundsätzlich bedeutsam.
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Zur Begründung verweisen die Kläger auf den Gesundheitszustand des Klägers zu 1 und die Absicht des Klägers zu 3, in Deutschland zu bleiben und einen Ausbildungsplatz zu suchen, sodass dieser seine Familie im Irak nicht unterstützen könne. Ferner verweisen sie unter Bezugnahme auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart auf die schlechten humanitären Verhältnisse im Irak.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können schlechte humanitäre Verhältnisse (nur) in ganz außergewöhnlichen Fällen Art. 3 EMRK verletzen (U.v. 28.6.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 278). Die Frage, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums vorliegt, hängt neben den konkreten Verhältnissen in der Herkunftsregion der betroffenen Person oder einer anderen Region, in der die Person Zuflucht finden kann, von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, der finanziellen Situation und den familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab (vgl. nur OVG Saarl, B.v. 12.3.2020 - 2 A 160/19 - juris Rn. 12). Sie ist einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, sondern bedarf stets einer Würdigung des konkreten Einzelfalls. Weder die allgemeine Sicherheitssituation im Irak noch die aktuelle Versorgungslage können entgegen der Zulassungsbegründung generell zu einem allgemeinen Abschiebungsverbot in den Irak nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für Kurden führen.
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b) Die Berufung ist auch nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO wegen eines Verfahrensmangels - hier wegen der gerügten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 138 Nr. 3 VwGO - zuzulassen.
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Das rechtliche Gehör sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Das rechtliche Gehör gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandards, dass ein Kläger die Möglichkeit hat, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nur vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG, B.v. 29.10.2015 - 2 BvR 1493/11 - NVwZ 2016, 238/241).
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Die Kläger tragen vor, das Verwaltungsgericht habe den ausdrücklichen Vortrag des Klägers zu 3, er suche - in Deutschland - einen Ausbildungsplatz und den Hinweis des Klägerbevollmächtigten, dass eine Rückkehr des Klägers zu 3 aufgrund seiner Volljährigkeit nicht zu erwarten sei, nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Darüber hinaus habe das Verwaltungsgericht die Schilderungen des Klägers zu 1 in der mündlichen Verhandlung zu seinem Gesundheitszustand in seinem Urteil nicht berücksichtigt.
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Aus diesem Vortrag ergibt sich keine Verletzung des Anspruchs der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
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Wie die Kläger in der Zulassungsbegründung selbst ausführen und sich aus der Niederschrift des Verwaltungsgerichts über die mündliche Verhandlung am 25. November 2022 ergibt, hat das Verwaltungsgericht den klägerischen Vortrag im Einzelnen in die Niederschrift aufgenommen und damit auch zur Kenntnis genommen. Wenn in den Urteilsgründen ausgeführt ist, dass das Gericht davon ausgehe, dass der Kläger zu 3 im Familienverband verbleibe und jedenfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt davon auszugehen sei, dass er ggf. mit der Familie in den Irak zurückkehren werde, stellt das eine Prognose dar, die das Gericht im Rahmen der Sachverhalts- und Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO vorgenommen hat. Eine Verletzung des Anspruchs der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs kann damit nicht dargelegt werden. Angebliche Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und rechtfertigen nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG (vgl. BayVGH, B.v. 17.5.2018 - 14 ZB 17.30263 - juris Rn. 7).
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Gleiches gilt für den Vortrag der Kläger in der Zulassungsbegründung, das Verwaltungsgericht habe den Vortrag des Klägers zu 1 zu seinem Gesundheitszustand nicht zur Kenntnis genommen. Das Verwaltungsgericht ist auf den klägerischen Vortrag auch in seinen Entscheidungsgründen eingegangen, ist aber im Wege der Sachverhalts- und Beweiswürdigung zu dem Schluss gekommen, dass sich unter Würdigung des vorgelegten ärztlichen Attests und der im Verfahren eingeführten Auskünfte ergibt, dass der Kläger zu 1 nicht als erwerbsunfähig einzustufen sei (UA S. 12) und dass etwaig benötigte Medikamente im Irak erhältlich seien UA S. 14).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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3. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).