Titel:
erfolgreiche Klage gegen Widerrufsbescheid des BAMF (Afghanistan)
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 4, § 73 Abs. 1 S. 1, Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3
VwGO § 114 S. 1
Leitsätze:
1. War eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe bereits im Zeitpunkt der behördlichen Widerrufsentscheidung erlassen, spricht dieser Umstand gegen eine konkrete Wiederholungsgefahr. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die allgemeine Wiedergabe der Gesetzesbegründung genügt einem objektiven, am Gesetzeszweck orientierten Abwägungsvorgang nicht. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, Afghanistan, Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, Körperverletzungsdelikte, konkrete Wiederholungsgefahr, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls (Bewährungsstrafe, Straferlass, Integrationsleistungen) verneint, fehlerhafte Ermessensbetätigung, Abwägung zwischen langjährigem Aufenthalt, Weiterbestehen der Verfolgungsgefahr und öffentlichem Interesse an der Verhinderung weiterer Straftaten, Flüchtlingseigenschaft, Widerruf, Freiheitsstrafe, unechte Rückwirkung, Wiederholungsgefahr, Ermessen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9947
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Januar 2021 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen einen Widerrufsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
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1. Der ohne Ausweispapiere in das Bundesgebiet eingereiste Kläger gibt an, im Jahr * geboren und afghanischer Staatsangehöriger zu sein.
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Nach der Einreise im Jahr 2011 beantragte er beim Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter.
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Zur Begründung trug er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 21. Dezember 2011 im Wesentlichen vor, dass er aus der Provinz Logar stamme. Dort hielte sich aber nach der Bedrohung durch die Taliban niemand mehr auf. Weitere Verwandtschaft habe in Kabul gelebt, dort sei er vor der Ausreise gewesen. Auch dorthin seien die Taliban gekommen, er habe dann das Land verlassen.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 11. Januar 2013 wurde der Asylantrag und der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt (Ziffern 1 und 2 des Bescheids), dem Kläger wurde ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuerkannt (Ziffer 3 des Bescheids). Mit der Aufhebung von Ziffer 2 dieses Bescheids verpflichtete das Verwaltungsgericht die Beklagte, beim Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft festzustellen (VG Augsburg, U.v. 7.5.2013 – Au 6 K 13.30020). Diese Feststellung erfolgte mit Bescheid des Bundesamts vom 25. Juni 2013.
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Im Rahmen der Regelüberprüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylG hat das Bundesamt mit Vermerk vom 27. Mai 2016 festgestellt, die die Voraussetzungen für einen Widerruf bzw. die Rücknahme der Zuerkennungsentscheidung nicht vorliegen.
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2. Am 4. November 2019 erhielt das Bundesamt von der zuständigen Ausländerbehörde ein Urteil des Amtsgerichts Memmingen vom 8. August 2014 (4 Ls 113 Js 3484/14 jug.) übersandt, mit dem der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten (Einzelstrafen acht Monate und ein Jahr) verurteilt worden ist.
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Mit Verfügung vom 8. Oktober 2020 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 zum beabsichtigten Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an. Eine Stellungnahme des Klägers und seiner Bevollmächtigten dazu erfolgte nicht.
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Mit Bescheid vom 19. Januar 2021 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 25. Juni 2013 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 2). Das mit Bescheid vom 11. Januar 2013 zuerkannte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wurde widerrufen (Ziffer 3) sowie das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint (Ziffer 4).
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Zur Begründung ist ausgeführt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen sei. Es sei der Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfüllt. Gegen den Kläger sei mit dem Urteil vom 8. August 2014 wegen gefährlicher Körperverletzung eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt worden. Die Tat sei mit „Gewalt“ ausgeführt worden. Die Verurteilung zu einer mindestens einjährigen Jugend- oder Freiheitsstrafe führe nicht automatisch zum Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung. Vielmehr müsse im Zeitpunkt der Entscheidung im Einzelfall weiterhin eine Gefährdung der Allgemeinheit durch den Ausländer zu besorgen sein. Bei dieser Prognoseentscheidung seien die Umstände des Einzelfalls zur berücksichtigen. Im Falle des Klägers bestehe die konkrete Wiederholungsgefahr für Straftaten vergleichbarer Schwere. Die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung sei zwar ein Indiz gegen das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr. Jedoch sei das Bundesamt bei der Bewertung aller Umstände an die Strafaussetzung nicht gebunden. Vielmehr stünden ordnungsrechtliche Überlegungen im Mittelpunkt der Bewertung. Aus dem objektiven Tatbild und den daraus zu schließenden Rückschlüssen auf die Persönlichkeit des Klägers lasse sich eine konkrete Wiederholungsgefahr ableiten. In die über die Gefahrprognose hinaus notwendige Ermessenentscheidung stelle das Bundesamt die Länge des bisherigen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet ein. In Abwägung mit diesem Bleibeinteresse werde dem öffentlichen Interesse der Gefahrenabwehr das höhere Gewicht eingeräumt. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor, insoweit werde auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG verwiesen. Der Widerruf des Vorliegens eines Abschiebungsverbots beruhe auf § 73c Abs. 2 AsylG, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht mehr vor. Der Kläger habe keine Unterlagen zur Notwendigkeit einer weiteren ärztlichen Behandlung vorgelegt. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sei zu verneinen, der Kläger könne durch einfache Tätigkeiten und die im Bundesgebiet erworbenen Fähigkeiten seinen Lebensunterhalt in Afghanistan, auch unter Berücksichtigung der Umstände der Corona-Pandemie, in ausreichender Weise sichern.
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3. Der Kläger ließ dagegen am 4. Februar 2021 Klage erheben.
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Zur Begründung wurde im Verfahren auf die weitere Behandlungsbedürftigkeit der psychischen Erkrankungen des Klägers hingewiesen. Die gegen den Kläger verhängten Freiheitsstrafen seien zwischenzeitlich erlassen.
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Der Kläger lässt (schließlich) beantragen,
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den Bescheid des Bundesamts vom 19. Januar 2021 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, beim Kläger das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und die Behördenakte des Asylverfahrens und des Widerrufsverfahrens auf elektronischem Weg vorgelegt.
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Mit Beschluss vom 7. November 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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In der Sache wurde am 14. Dezember 2022 und am 15. Februar 2023 mündlich vor Gericht verhandelt. Auf die dabei gefertigten Protokolle wird im Einzelnen Bezug genommen, ebenso wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten des Bundesamts. Zum Verfahren beigezogen wurde eine Kopie der Behördenakte der Ausländerbehörde. Dem Gericht lagen auch die Strafakten des Verfahrens 113 Js 3484/14 jug. einschließlich der dazu verbundenen Strafakten vor.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlungen vom 14. Dezember 2022 und vom 15. Februar 2023 entschieden werden, ohne dass jeweils ein Vertreter der Beklagten daran teilgenommen hat. Die Beklagte wurde mit der Ladung auf diese Möglichkeit nach § 102 Abs. 2 VwGO hingewiesen.
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Die Klage hat mit dem Hauptantrag Erfolg. Der Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 73 AsylG Rn. 32).
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Da für die vorliegende gerichtliche Entscheidung im asylrechtlichen Verfahren nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 15. Februar 2023 abzustellen ist, gilt für die rechtliche Beurteilung des Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft die Regelung des § 73 AsylG in der Fassung (n.F.), die die Vorschrift durch die Art. 1 Nr. 17, Art. 4 des Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren vom 21. Dezember 2022 (BGBl I S. 2817) mit der Wirkung zum 1. Januar 2023 erhalten hat.
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2. Der Widerruf der mit dem Bescheid des Bundesamts vom 25. Juni 2013 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft ist rechtswidrig, weil entgegen der Auffassung der Beklagten eine Allgemeingefahr i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG beim Kläger nicht vorliegt (dazu nachfolgend zu b). Unabhängig davon hat die Beklagte jedenfalls ihr Ermessen bei der Ausübung der Befugnis zum Widerruf der Flüchtlingseigenschaft rechtsfehlerhaft ausgeübt (dazu nachfolgend zu c).
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a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Widerruf nach (nunmehr) § 73 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 AsylG n.F. und § 3 Abs. 4 AsylG n.F. i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG liegen vor. Der Kläger wurde wegen zweier Körperverletzungsdelikte, also Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, wobei die wegen der einen Tat verhängte (Einzel-)Strafe ein Jahr betragen hat (S. 2, 6 f. des Urteils des AG Memmingen vom 8.8.2014 – 4 Ls 113 Js 3484/14 jug; Bl. 10 ff. der Behördenakte des Bundesamts im Widerrufsverfahren). Hinsichtlich der Art der begangenen Anlassstraftaten, der konkreten Tatbegehung und des Strafmaßes sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausschlussregelung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfüllt.
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Dass die Regelung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erstmals zum 17. März 2016 (Art. 1 Nr. 3, Art. 3 des Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11.3.2016, BGBl I S. 394) und somit nach der Begehung der tatbestandlichen Straftaten im Februar 2014 durch den Kläger in Kraft getreten ist, lässt deren Anwendbarkeit unberührt. Dem auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG gestützten Widerruf der Flüchtlingseigenschaft steht das verfassungsrechtliche Verbot der echten Rückwirkung nicht entgegen. Denn es wird lediglich tatbestandlich (auch) an Ereignisse vor Inkrafttreten der Vorschrift angeknüpft, die Rechtsfolgen gelten aber erst zukünftig ab dem Inkrafttreten, so dass eine grundsätzlich zulässige unechte Rückwirkung vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 25.9.2017 – 20 ZB 17.30282 – juris Rn. 6 mit Verweis auf die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/7538 S. 18 f.; vgl. zur Frage der Rückwirkung auch BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 6 C 24/06 – BayVBl 2008, 216 ff. – juris Rn. 41 ff.).
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b) Neben den tatbestandlichen Anlassdelikten, der konkreten Tatbegehung mit Gewalt und des verhängten Strafmaßes muss durch die Verwirklichung der Straftaten der Ausländer auch die Schwelle zur Gefahr für die Allgemeinheit überschreiten (§ 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG: „wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet“).
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aa) Diese Einschätzung erfordert eine Prognose, dass der Ausländer sein die Allgemeinheit gefährdendes und strafbewährtes Fehlverhalten in Zukunft mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit fortsetzen wird. Insoweit nimmt die Regelung Bezug auf Art. 33 Abs. 2 des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK; vgl. Thym NVwZ 2016, 412/415 zu VI.1), wonach der Ausschluss vom internationalen Schutzstatus eine auf die Zukunft gerichtete Prognoseentscheidung erfordert, in deren Ergebnis eine Wiederholungsgefahr im Einzelfall feststellbar sein muss (Koch in Kluth/Hausch, BeckOK, Ausländerrecht, 36. Edition, Stand 1.7.2020, Rn. 57). Diese Prognose stellt nicht allein maßgeblich auf das Strafmaß nach nationalem Recht ab, vielmehr sind – unter Berücksichtigung der unions- und völkerrechtlichen Vorgaben – alle besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (EuGH, U.v. 13.9.2018 – C-369/17 – NVwZ-RR 2019, 119 Rn. 58; vgl. im Einzelnen auch OVG Hamburg, U.v. 8.11.2021 – 2 Bf 539/19.A – AuAs 2022, 43 ff. = juris Rn. 42 ff.).
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Dabei ist die der Ausschlussregelung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zugrundeliegende gesetzgeberische Wertung zu beachten, dass schon die besondere Art der Begehung der Straftat die Annahme stützt, dass es sich bei dem Ausländer um einen besonders gefährlichen Täter handelt, der eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet (VG Aachen, B.v. 17.2.2021 – 5 L 766/20.A – juris Rn. 54). Dabei kommt es auch nicht alleine maßgeblich darauf an, ob die Freiheits- oder Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist, auch wenn bei einer Strafaussetzung zur Bewährung eine negative Prognose eher „selten in Betracht kommen“ wird (Koch in Kluth/Hausch, BeckOK, Ausländerrecht, Rn. 57; VG Freiburg, B.v. 8.8.2019 – A 14 K 2915/19 – juris Orientierungssatz 2 und Rn. 15; vgl. auch Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 63, der die Verhängung einer Bewährungsstrafe allerdings erst auf der Ebene der Ermessensbetätigung berücksichtigt).
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Das Gericht hat in diesem Rahmen (ebenso wie das Bundesamt) eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Es ist dabei an die Feststellungen der Strafgerichte nicht gebunden. Die dem Gefahrenabwehrrecht zuzuordnende Prognoseentscheidung stellt nicht auf die strafrechtliche Beurteilung der verwirklichten Delikte und dem daraus abgeleiteten Strafmaß bzw. der Möglichkeit der Verhängung einer Bewährungsstrafe ab (VG Freiburg, B.v. 8.8.2019 A 14 K 2915/19 – juris Rn. 15; vgl. auch Koch in Kluth/Hausch, BeckOK, Ausländerrecht, Rn. 53 zur Parallelvorschrift des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG).
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bb) Nach diesen Maßgaben ist unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des konkreten Einzelfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) eine Sicherheitsgefährdung durch den Kläger nach der Auffassung des Gerichts zu verneinen. Das Gericht gelangt aufgrund der Erkenntnisse aus dem Strafverfahren sowie der Ausländerakte zur Überzeugung, dass die Annahme, der Kläger werde zukünftig ein straffreies Leben führen und von der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Integrität Abstand nehmen, gerechtfertigt ist.
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(1) Nach den rechtskräftigen Feststellungen des Amtsgerichts Memmingen im Urteil vom 8. August 2014 hat der Kläger im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit drei weiteren Angeklagten und einer fünften Person auf den Geschädigten eingeschlagen. Der Tatbeitrag des Klägers war insoweit nicht nachrangig, alle Angeklagten zusammen haben den Geschädigten verletzt. Nachdem der Geschädigte sich den Schlägen entziehen konnte, haben der Kläger und die weiteren Angeklagten mit einem neuen, weiteren Tatentschluss den Geschädigten in dessen Zimmer in der Asylbewerberunterkunft aufgesucht und auf diesen erneut eingeschlagen. Der Kläger hat dabei den Geschädigten festgehalten, so dass sich dieser nicht wehren konnte, die anderen Angeklagten haben mit Fäusten und Füßen zugeschlagen bzw. getreten. Einer der Angeklagten hat dabei auch ein Messer benutzt.
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Diese Tatbegehung, bei der der Kläger als Mittäter verurteilt worden ist, zeigt eine erhebliche Gefährlichkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber der körperlichen Unverletztheit anderer Personen. Allerdings ist nach den rechtskräftigen strafrechtlichen Feststellungen auch zu berücksichtigen, dass das von der Beklagten ihrer Prognoseentscheidung maßgeblich auch zugrundgelegte zweite Körperverletzungsdelikt, die Benutzung von Füßen und einem Messer gegenüber dem Geschädigten, von den weiteren Angeklagten ausgeführt worden ist, der Kläger insoweit das Opfer festgehalten und nicht selbst verletzend tätig geworden ist.
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(2) Weiter hat die Beklagte im Rahmen ihrer Prognoseentscheidung unbeachtet gelassen, dass die gegen den Kläger verhängte Freiheitsstrafe bereits mit Wirkung zum 30. August 2018 (Ziffer 1 der Auskunft aus dem Zentralregister, Bl. 63 der Behördenakte des Widerrufsverfahrens), und damit im Zeitpunkt der behördlichen Widerrufsentscheidung vom 19. Januar 2021 erlassen war. Neben der Verhängung einer Bewährungsstrafe spricht dieser Umstand gegen eine konkrete Wiederholungsgefahr. Die Verurteilung hat den Kläger erkennbar davon abgehalten, innerhalb der Bewährungszeit erneut einschlägig in relevanter Weise strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Im Gegenteil ergeben sich aus der beruflichen Tätigkeit des Klägers in den Jahren 2015 bis 2020 als Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes, der in ordnungsrechtlichen Zusammenhängen und unter schwierigen Situationen ohne weitere Auffälligkeiten eingesetzt war (vgl. Arbeitszeugnis vom 31.10.2020), sowie der in dem Zeitraum nach der Haftentlassung im August 2014 erfolgten Fortbildung im Rahmen der Integrationskurse (vgl. Zertifikat vom 22.3.2019 des „Deutsch-Test für Zuwanderer“; Teil 3 der Ausländerakte – ohne Nummerierung), dass vom Kläger keine fortgesetzte Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht.
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(3) Dieses Ergebnis ist auch unter Berücksichtigung der weiteren Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht Augsburg (AG Augsburg, U.v. 25.9.2019 – 10 Ds 2017 Js 112963/19) nicht anders zu beurteilen. Soweit der Kläger darin wegen des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung verurteilt worden ist (die weitere Verurteilung wegen Beleidigung erfüllt nicht die Katalogtaten des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG), liegen darin zwar ebenfalls hinreichende Anlasstaten im Sinne der Widerrufsvorschrift. Aber auch insoweit ist zum einen die Verhängung einer Bewährungsstrafe bei der Bewertung der Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen, insbesondere aber auch der insoweit mit Wirkung zum 7. Dezember 2022 erfolgte Straferlass (vgl. Mitteilung der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 13.12.2022 an die Ausländerbehörde; Teil 4 der Ausländerakte – ohne Nummerierung).
34
(4) Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ist das Gericht damit im Ergebnis davon überzeugt, dass vom Kläger keine konkrete Wiederholungsgefahr i.S.d. Regelung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ausgeht und verneint deshalb das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit.
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c) Unabhängig vom Fehlen einer Allgemeingefahr in der Person des Klägers hat das Bundesamt das ihr in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eingeräumte Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO).
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aa) Neben dem Vorliegen der tatbestandlichen Allgemeingefahr (hier vorliegend zu verneinen – s.o. zu b) erfordert die Widerrufsentscheidung eine Ermessenbetätigung des Bundesamts (Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 60 AuslG Rn. 61; vgl. auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/7538 S. 6 und 9). Im Rahmen dieser hat die Beklagte das Interesse des Klägers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet mit dem öffentlichen Interesse an der Abwehr von Gefahren für die Öffentlichkeit durch den Widerruf des Schutzstatus im Einzelfall abzuwägen.
37
bb) Vorliegend hat das Bundesamt dem öffentlichen Interesse am Schutz der Allgemeinheit vor straffällig gewordenen Asylbewerbern den Vorrang eingeräumt. In diese Abwägungsentscheidung hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid zugunsten des Klägers (nur) dessen langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet eingestellt und weitere Umstände des Einzelfalls, die in Abwägung einzustellen sind, verneint (S. 7 des Bescheids vom 19.1.2021).
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(1) Diese Ermessensbetätigung berücksichtigt zum einen nicht, dass die Beklagte aufgrund der vom Bundesamt vorgenommen Regelüberprüfung des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylG a.F. selbst davon ausgeht, dass ein Wegfall der Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht feststellbar und ein Widerruf der Zuerkennung des Schutzstatus deshalb ausgeschlossen ist (Vermerk vom 27.5.2016; Bl. 249 der Bundesamtsakte des Asylverfahrens). In dieser Situation ist zugunsten des Klägers, über den langjährigen Aufenthalt hinaus, in die Abwägung dessen weitere Gefährdung bei einer Rückkehr nach Afghanistan einzustellen. Dies hat der angefochtene Bescheid unterlassen, eine vollständige Ermittlung des Sachverhalts, auf dessen Grundlage eine Abwägungsentscheidung getroffen wird, liegt nicht vor.
39
Diese Unvollständigkeit führt zur Aufhebung der Ermessenentscheidung der Beklagten (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 24 f.).
40
(2) Darüber hinaus verkennt der angefochtene Bescheid, dass mit der Bejahung der Allgemeingefahr beim straffällig gewordenen Asylbewerber nicht in quasi zwingender Weise ein Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Versagung der Zuerkennung des internationalen Schutzes anzunehmen ist. Soweit insoweit auf die Gesetzesbegründung abgestellt und ausgeführt wird, dass das in der Regelung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zum Ausdruck gebrachte besondere öffentliche Interesse zur Versagung der (weiteren) rechtlichen Anerkennung als Flüchtling (S. 7 des Bescheids vom 19.1.2021) führt, stellt dies nur eine formelhafte Ausübung des eingeräumten Ermessens dar. Die allgemeine Wiedergabe der Gesetzesbegründung genügt einem objektiven, am Gesetzeszweck orientierten Abwägungsvorgang nicht (vgl. VG Freiburg, B.v. 8.8.2019 – A 14 K 2915/19 – juris Rn. 18). Insoweit wird von der Beklagten dem öffentlichen Interesse ein einseitiges Übergewicht eingeräumt, das nicht mit dem unter Berücksichtigung der unions- und völkerrechtlichen Vorgaben (vgl. zur Herleitung im Einzelnen oben zu b) aa)) abzuwägenden privaten Interesse des Asylbewerbers in einen am Zweck der Vorschrift orientierten Ausgleich gebracht wird.
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cc) Die vorliegenden Ermessensfehler führen zur Aufhebung, da der angefochtene Bescheid vom 19. Januar 2021 darauf beruht (vgl. Ruthig in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 114 Rn. 6a).
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3. Mit dem Erfolg in der Hauptsache war über den Hilfsantrag nicht mehr zu entscheiden.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
44
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.