Inhalt

VG Regensburg, Beschluss v. 21.03.2023 – RN 4 K 20.3243
Titel:

Widerruf einer Delegation von Aufgaben im Bereich des öffentlichen Rettungsdienstes, Zuverlässigkeit eines Rettungssanitäters, ordnungsgemäße Durchführung der delegierten Maßnahmen

Normenketten:
NotSanG § 4 Abs. 2 Nr. 2 c)
NotSanG § 4 Abs. 2 Nr. 1 c)
BayVwVfG Art. 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
Schlagworte:
Widerruf einer Delegation von Aufgaben im Bereich des öffentlichen Rettungsdienstes, Zuverlässigkeit eines Rettungssanitäters, ordnungsgemäße Durchführung der delegierten Maßnahmen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9885

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der an ihn erfolgten Delegation von Aufgaben im Bereich des öffentlichen Rettungsdienstes.
2
Mit Schreiben vom 28.1.2020 delegierte der für den Rettungsdienstbereich Landshut bestellte Ärztliche Leiter Rettungsdienst (ÄLRD), J. K., auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 des Bayerischen Rettungsdienstgesetzes (BayRDG) Aufgaben im Rahmen des § 4 Abs. 2 Nr. 2c) des Notfallsanitätergesetzes (NotSanG) an den als Notfallsanitäter im öffentlichen Rettungsdienst bei der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. RV Ostbayern tätigen Kläger.
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Am 13.8.2020 fand ein Notfalleinsatz am Landshuter Hauptbahnhof statt, bei dem der Kläger als Fahrer und sein Kollege T. S. als Transportführer eingesetzt waren.
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Im Einsatzprotokoll ist hierzu festgehalten, dass der angetroffene männliche Patient beim Eintreffen um 15.51 Uhr wach, ansprechbar und sein Kreislauf stabil gewesen sei, er sich in sitzender Position befunden und nur polnisch gesprochen habe. Er lebe augenscheinlich auf der Straße und möchte nicht in ein Krankenhaus. Weiter wurde einerseits „Exsikkose“, andererseits „leichte Exsikkose“ festgehalten. Er habe stehende Hautfalten gehabt, Atmung und Kreislauf seien unauffällig gewesen. Nach oraler Flüssigkeitszufuhr mit mineralischen Inhaltsstoffen (Mineralwasser) sei eine deutliche Vigilanzverbesserung eingetreten. Der Einsatz endete laut Protokoll um 17.20 Uhr.
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Nach dem Bericht der Bundespolizei und der Stellungnahmen des Klägers und seines Kollegen T. S. ergibt sich hierzu weiter, dass sich der Patient in augenscheinlich schlechtem physischen und psychischem Zustand befunden habe. Ein vital gefährdendes sogenanntes ABCDE-Problem oder ein akutes gesundheitliches Problem habe nicht vorgelegen. Offensichtlich habe er seit Längerem nichts gegessen und getrunken gehabt. Da nichts auf eine koronare Herzkrankheit oder einen Nierenschaden hingedeutet habe, hätten sie einen intravenösen Zugang gelegt und dem Patienten eine Jonosteril gegeben. Danach sei es ihm besser gegangen. Bis dahin hätten sie angenommen, der Patient wolle in ein Krankenhaus verbracht werden, er habe aber nicht ins Krankenhaus gewollt. Die Einsatzkräfte hätten den Patienten dann eine Transportverweigerung unterschreiben lassen. Die Besatzungsmitglieder hätten Untersuchungen des Blutzuckerwertes, der Sauerstoffsättigung, des Pulses und des Blutdrucks vorgenommen. Der Mitarbeiter der Bundespolizei habe dem Patienten zusätzlich ein Salami-Baguette und Mineralwasser besorgt. Im Hinblick auf die Sprachprobleme sei jemand gefunden worden, der auf der Wache gedolmetscht habe. Die Polizei und die Einsatzkräfte hätten mehrfach einen Transport ins Krankenhaus angeboten, was der Patient jedoch abgelehnt habe. Er habe den Wunsch geäußert, sich auf einer Liege in der Wache etwas ausruhen zu dürfen. Ein Einsatzprotokoll sei der Bundespolizei von der Besatzung des Rettungswagens nicht übergeben worden. Nachdem der Mann im weiteren Verlauf des Abends über Schmerzen im Magenbereich geklagt habe, sei erneut ein Rettungswagen gerufen worden. Die Person habe nunmehr einem Transport ins Krankenhaus zugestimmt. In dem Bericht der Bundespolizei ist hinsichtlich des ersten Einsatzes abschließend festgehalten, dass die Besatzung einen kompetenten Eindruck gemacht und den Patienten, soweit das beurteilt werden könne, sehr gut versorgt habe.
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Der Transportführer gab in seiner Stellungnahme weiter an, aufgrund der vielen Gespräche und der vielen zu treffenden Entscheidungen habe er schlicht vergessen, den intravenösen Zugang und die Jonosteril zu dokumentieren. Auch die fehlende Dokumentation, dass ein Dolmetscher vor Ort gewesen sei, sei ihm entgangen. Er sehe seine Fehler ein und werde diese umgehend abstellen.
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Der Kläger führte in seiner Stellungnahme zudem aus, ihm selbst sei wohl bewusst, dass diese Maßnahmen nicht regelkonform gewesen seien. Er habe die Entscheidung des transportführenden Kollegen mitgetragen und dahingehend einen Fehler begangen. In welcher Form und wie die Dokumentation erfolgt sei, könne er nicht genau sagen, da er an diesem Tag nicht als Transportführer zuständig gewesen sei und die Dokumentation nicht durchgeführt habe.
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Die Geschehnisse wurden bei einem Gespräch am 6.11.2020, an dem insbesondere der Kläger, sein transportführender Kollege und der ÄLRD teilgenommen haben, erörtert. Vom ÄLRD wurde hierüber eine Notiz angefertigt. Hinsichtlich des Klägers ist zu diesem Gespräch festgehalten, dass er keine Maßnahmen unternommen habe, auf die erforderlichen Regularien und Vorgaben hinzuweisen. Ohne vitale Gefährdung habe keine Berechtigung für einen intravenösen Zugang und Gabe von zwei Infusionen vorgelegen. Es handele sich um keinen rechtfertigenden Notstand und keine unmittelbare Gefahr. Es habe ein Erfordernis der Notarztnachalarmierung bei einer nicht indizierten „1c-Maßnahme“ bestanden. Positiv angerechnet werde dem Team, dass der Patient vermutlich keinen erkennbaren Schaden davongetragen habe und er laut Aussage der Bundespolizei sehr gut versorgt worden sei. Es würde daher durch den ÄLRD und den ZRF erwogen, dem Notfallsanitäter S* … die sogenannte „2c-Delegation“ für vier Monate zu entziehen, eine Nachschulung und ein persönliches Gespräch zur Delegation mit dem ÄLRD durchzuführen mit der dann wieder möglichen „2c-Delegation“ auf Antrag. Für den Kläger ist in der Gesprächsnotiz die gleiche Lösung erwogen, lediglich mit einem verkürzten Entzug der „2c-Delegation“ für zwei Monate.
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Mit Bescheid vom 16.12.2020 wurde gegenüber dem Kläger die Delegation von Aufgaben im Rahmen des § 4 Abs. 2 Nr. 2 c) NotSanG zum 1.1.2021 widerrufen (Nr. 1). Zudem erfolgte die Aufforderung an den Kläger, die Delegationsurkunde vom 28.1.2020 bis zum 1.1.2021 an den ÄLRD im Original zurückzugeben (Nr. 2). In Nr. 3 wurde die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des Bescheids angeordnet. Ferner wurde geregelt, dass ein Zwangsgeld in Höhe von 200,00 € zur Zahlung fällig wird, falls der Kläger der Pflicht zur Rückgabe der Delegationsurkunde nicht bis zum 1.1.2021 nachkommt (Nr. 4).
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Zur Begründung führt der Bescheid im Wesentlichen aus, dass das Vertrauen des ÄLRD in die Zuverlässigkeit des Klägers zur ordnungsgemäßen Durchführung der delegierten „2c-Maßnahme“ nachhaltig beeinträchtigt und damit die Grundlage für die Delegationserteilung nachträglich weggefallen sei. Das Legen eines intravenösen Zugangs durch den Transportführer sei nicht von der durch den ÄLRD erteilten Delegation gedeckt und auch nicht medizinisch indiziert gewesen. Ferner sei nach Abschluss des Einsatzes kein Notarzt nachalarmiert worden. Darüber hinaus seien die vorgeschriebenen Dokumentationspflichten nicht eingehalten worden. Dem Kläger werde vorgeworfen, dass er trotz des entsprechenden Wissens bei einer fehlerhaften Maßnahme seines Kollegen nicht eingegriffen und bei Aufarbeitung des Vorfalls kaum Einsicht gezeigt habe. Daher bestehe aus Sicht des Beklagten keine positive Prognose hinsichtlich der künftigen ordnungsgemäßen Ausführung der delegierten Maßnahmen. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 31.12.2020, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, ließ der Kläger Klage erheben und zudem um vorläufigen Rechtsschutz nachsuchen (Az. RN 5 S 20.3242). Zur Begründung macht der Kläger im Wesentlichen geltend, der Transportführer und nicht er als eingeteilter Fahrer trage die Verantwortung für den gesamten Einsatzablauf. Weiter sei die Infusion bei dem vorliegenden Krankheitsbild regelmäßig medizinisch indiziert. Auch hätte ein Notarzt nicht nachalarmiert werden müssen, weil der Patient nicht vital gefährdet gewesen sei. Sein Kollege habe die Dokumentation der Infusion schlicht vergessen. Unzutreffend werde in dem Bescheid ausgeführt, dass der Kläger seine Fehler nicht eingeräumt habe. In der Stellungnahme des Klägers sei ausdrücklich festgehalten, dass er „dahin-gehend einen Fehler begangen“ habe. Der Kläger werde durch den Delegationswiderruf für sein weiteres Berufsleben unerträglich diskriminiert.
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Unter dem 11.1.2021 wurde das Verfahren von der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Regensburg übernommen und unter dem neuen Az. RN 5 K 20.3243 geführt.
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Mit Beschluss vom 22.2.2021 hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Regensburg den Antrag des Klägers im einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt (Az. RN 5 S 20.3242). Mit Beschluss vom 21.4.2021 (Az. 12 CS 21.702) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22.2.2021 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nrn. 1 und 2 des Bescheids vom 16.12.2020 wiederhergestellt.
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Unter dem 30.4.2021 hat die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Regensburg das gegenständliche Verfahren übernommen. Seitdem wird dieses unter dem Az. RN 4 K 20.3243 geführt.
15
Mit Beschluss vom 28.4.2022 hat das Gericht ein Gutachten zu verschiedenen sowohl medizinischen als auch rettungsdienstlichen Fragen betreffend den streitgegenständlichen Einsatz am 13.8.2020 in Auftrag gegeben. Der Sachverständige für Rettungsdienst und Fachgutachter für Notfallmedizin, Dr. med. … …, …, hat mit bei Gericht am 22.12.2022 eingegangenem Schreiben das Sachverständigengutachten vom 19.12.2022 vorgelegt. Auf das Sachverständigengutachten vom 19.12.2022 wird Bezug genommen.
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Die Hauptbeteiligten stimmen durch die in der mündlichen Verhandlung am 21.3.2023 zu Protokoll gegebenen Erklärungen in der Erledigung der Hauptsache überein.
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Hinsichtlich des übrigen Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze, den Inhalt der vorgelegten Behörden- und der Gerichtsakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 21.3.2023 Bezug genommen. Die Akte des Verfahrens RN 5 S 20.3242 wurde bei-gezogen.
II.
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Aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen war das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen. Über die Kosten des Verfahrens ist gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden.
19
Der Billigkeit entsprach es vorliegend, die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufzuheben, da die Erfolgsaussichten der Klage im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses als offen zu bewerten waren.
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1. Unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes bleibt offen, ob der Kläger zu den im Bescheid getroffenen Maßnahmen vor Bescheidserlass im Sinne des Art. 28 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) ausreichend angehört worden ist, der Bescheid vom 16.12.2020 mithin formell rechtmäßig ist. Dass eine schriftliche Anhörung stattgefunden hätte oder nachgeholt worden wäre, ist nicht ersichtlich. Ferner ist unklar, ob das Gespräch am 6.11.2020 den Anhörungserfordernissen vollständig Rechnung getragen hat. Insbesondere ist fraglich, ob dem Kläger im Gespräch vom 6.11.2020 erläutert wurde, dass der streitgegenständliche Delegationswiderruf beabsichtigt sei. Die Notiz des ÄLRD über das Gespräch am 6.11.2020 enthält zwar am Ende eine Zusammenfassung der beabsichtigten Maßnahmen. Ob diese dem Kläger aber bereits in der im Bescheid aufgenommenen Form mitgeteilt wurden oder ob diese Maßnahmen erst im Nachgang zur Besprechung erwogen wurden, ist nach Aktenlage nicht geklärt. Auch ist unklar, inwieweit dem Kläger am 6.11.2020 eine zeitliche Dimension des beabsichtigten Delegationswiderrufs mitgeteilt wurde.
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2. Ebenfalls ist im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses offen, ob der Delegationswiderruf in materieller Hinsicht zu Recht ergangen ist, namentlich, ob die Prognose der künftigen Unzuverlässigkeit des Klägers gerechtfertigt war.
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Nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft nur widerrufen werden, wenn die Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde. Vorliegend stützte der Beklagte den Widerruf der Delegation darauf, dass die Zuverlässigkeit des Klägers im Hinblick auf die Ausführung der delegierten Maßnahmen nachträglich weggefallen sei. Aus Sicht des Gerichts war im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses nicht absehbar, ob die von der Beklagtenseite geltend gemachten Vorwürfe den Wegfall der erforderlichen Zuverlässigkeit rechtfertigen. Insbesondere ist einerseits offen, ob die dem Kläger gemachten Vorwürfe berechtigt waren und – falls dies zu bejahen wäre – andererseits, ob diese die Schlussfolgerung der Unzuverlässigkeit tragen würden.
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a) Es konnte bereits nicht geklärt werden, auf welcher rechtlichen Grundlage das Legen des intravenösen Zugangs am 13.8.2020 schlussendlich erfolgte. Während klägerseits auf eine sogenannte „1c-Maßnahme“ abgestellt wurde, ging die Beklagtenseite jedenfalls auch von einer sogenannten „2c-Maßnahme“ aus.
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Nach Aktenlage spricht Vieles dafür, dass es sich bei dem Legen des intravenösen Zugangs am 13.8.2020 nicht um eine sogenannte „2c-Maßnahme“, sondern vielmehr um eine „1c-Maßnahme“ gehandelt hat. Gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 c) NotSanG soll die Ausbildung insbesondere zum eigenständigen Durchführen von heilkundlichen Maßnahmen, die vom ÄLRD oder entsprechend verantwortlichen Ärztinnen oder Ärzten bei bestimmten notfallmedizinischen Zustandsbildern und -situationen standardmäßig vorgegeben, überprüft und verantwortet werden, befähigen. Weiter soll die Ausbildung nach dem Wortlaut von § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) NotSanG zum eigenverantwortlichen Durchführen medizinischer Maßnahmen der Erstversorgung bei Patientinnen und Patienten im Notfalleinsatz und dabei zum Anwenden von in der Ausbildung erlernten und beherrschten, auch invasiven Maßnahmen, befähigen, um einer Verschlechterung der Situation der Patientinnen und Patienten bis zum Eintreffen der Notärztin oder des Notarztes oder dem Beginn einer weiteren ärztlichen Versorgung vorzubeugen, wenn ein lebensgefährlicher Zustand vorliegt oder wesentliche Folgeschäden zu erwarten sind. Der Beklagte warf dem Kläger vorliegend vor, dass das Legen des intravenösen Zugangs am 13.8.2020 nicht von der Delegation nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 c) NotSanG gedeckt sei, da hierfür kein Algorithmus vorgesehen sei. Weshalb beklagtenseits jedoch davon ausgegangen wurde, dass eine sog. „2c-Maßnahme“ vorliegt, während der Kläger darauf beharrt, eine solche sei nie in Betracht gekommen, ist nach Aktenlage unklar. Im Anschluss an diese Fragestellung wäre – sollte tatsächlich eine „1c-Maßnahme beabsichtigt gewesen sein – weiter aufzuklären gewesen, ob ein Verstoß gegen § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) NotSanG den Widerruf der Delegation nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 c) NotSanG aufgrund negativer Prognose im Hinblick auf die Zuverlässigkeit rechtfertigen kann.
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b) Weiter war nach Aktenlage nicht abschließend geklärt, ob – ausgehend von einem Tätigwerden der Rettungssanitäter auf Grundlage von § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) NotSanG – wie von der Norm gefordert beim Patienten ein lebensgefährlicher Zustand vorlag oder wesentliche Folgeschäden zu erwarten waren. Ausweislich des gerichtlich in Auftrag gegebenen Gutachtens des Sachverständigen Dr. med. … … habe sich der Patient zwar nicht in einem unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand mit erkennbarer Einschränkung lebenswichtiger Körperfunktionen befunden. Allerdings sei aus Sicht des Sachverständigen davon auszugehen gewesen, dass sich der Zustand des Patienten ohne Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit eher verschlechtern werde, sodass nicht erkennbar gewesen wäre, dass für den Patienten keine Folgeschäden zu erwarten gewesen seien. Die durch den Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Stellungnahme des Dr. med. …1 …1a zum Fragenkatalog des Verwaltungsgerichts Regensburg an den Sachverständigen Dr. med. … … vom 20.3.2023 kommt zu keinem anderen Ergebnis. Auch nach Ansicht des Herrn Dr. med. …1awar der Verlauf nicht absehbar und hätte auch dramatische Formen annehmen können.
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Dies zugrunde gelegt hätte für eine vollumfängliche und abschließende Beurteilung des Tatbestands des § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) NotSanG jedoch weiter aufgeklärt werden müssen, um welche zu erwartenden Schäden es sich vorliegend gehandelt hätte und ob diese auch zu erwarten gewesen wären, wenn der Patient „nur“ mittels oraler Flüssigkeitszufuhr behandelt worden wäre. Weiter kann – da es maßgeblich auf deren ex-ante-Betrachtung im Zeitpunkt des Einsatzes ankommt – ohne Befragung des Klägers und seines Kollegen T. S. nicht beurteilt werden, ob diese im Zeitpunkt des Legens des intravenösen Zugangs davon ausgingen, dass sich der Patient in einem lebensgefährlichen Zustand befand oder wesentliche Folgeschäden zu erwarten waren, zumal in der Klagebegründung vorgetragen wurde, der Patient sei vital nicht gefährdet gewesen, weshalb er auch die Infusion nicht zwingend zum Überleben gebraucht hätte, und der Kläger sowie sein Kollege T. S. in ihren Stellungnahmen angaben, ein akutes gesundheitliches Problem habe augenscheinlich nicht vorgelegen. Die Unsicherheiten bestehen nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass im Einsatzprotokoll zum einen „Exsikkose“, zum anderen „leichte Exsikkose“ festgehalten wurde – was aus Sicht des Gerichts auch einen Unterschied im Hinblick auf die Schwere der Folgeschäden haben dürfte – und des – insofern inkonsequenten – Vorbringens in der Klagebegründung „Wenn, dann wurde hier eine „1c-Maßnahme“ durchgeführt […].“ (Bl. 124 d. GA), was impliziert, dass nicht einmal endgültig sicher geklärt ist, ob der Kläger und sein transportführender Kollege überhaupt nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) NotSanG vorgehen wollten. Somit fehlen der Kammer für die abschließende Beurteilung Informationen über den tatsächlichen Zustand des Patienten und der ex-ante-Einschätzung des Klägers und seines Kollegen T. S..
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c) Davon ausgehend, dass eine sogenannte „1c-Maßnahme“ beabsichtigt war, spricht vorliegend nach Aktenlage Einiges dafür, dass der Vorwurf der nicht erfolgten Notarztnachalarmierung grundsätzlich berechtigt ist. Aus dem Wortlaut ergibt sich für das Gericht, dass das Legens des intravenösen Zugangs von § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) NotSanG nur bis zum Eintreffen des Notarztes oder dem Beginn einer weiteren ärztlichen Versorgung legitimiert wird. Daher erfordert die Rechtmäßigkeit einer sog. „1c-Maßnahme“ ihrem Wortlaut nach entweder ein Verbringen in ein Krankenhaus oder – wie etwa in Fällen, wie dem vorliegendem, in welchen der Patient den Transport in ein Krankenhaus verweigert – eine Notarztnachalarmierung. Ob der Kläger und sein Kollege T. S. vorliegend selbst davon ausgingen, dass eine ärztliche Abklärung erfolgen muss und weshalb im Nachgang kein Notarzt nachalarmiert wurde ist nach Aktenlage nicht abschließend beurteilbar. Insbesondere bleibt offen, ob zwischen dem Kläger und dem Transportführer Gespräche über die Notarztalarmierung erfolgten. Bei der Notarztnachalarmierung handelt es sich auch um einen vorgeschriebenen Handlungsschritt betreffend den Rettungseinsatz selbst, sodass das Gericht nach Aktenlage davon ausgeht, dass dem Kläger, sollte er seinen transportführenden Kollegen T. S. nicht darauf hingewiesen haben, dass eine solche erforderlich ist, trotz der Tatsache, dass der Transportführer grundsätzlich die Gesamtverantwortung des Einsatzes trägt, auch ein Vorwurf gemacht werden kann. Denn der Kläger dürfte aufgrund seiner Qualifikation als Notfallsanitäter gehalten sein, etwaige dem Transportführer unterlaufende Fehler betreffend den Rettungseinsatz selbst und den Erfolg desselben zu vermeiden und diese nicht „sehenden Auges“ zu unterstützen. Auch Herr Dr. med. …1a geht in seiner Stellungnahme vom 20.3.2023 davon aus, dass der Fahrzeugführer zwar nicht in medizinische Entscheidungen eingebunden ist, jedoch im Ausnahmefall entsprechend seiner Qualifikation beratend hinzugezogen werden kann.
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Soweit sich die Klägerseite darauf beruft, dass aufgrund der durch den Patienten unterschriebenen Transportverweigerung keine Nachalarmierung des Notarztes erfolgen musste, verbleiben beim Gericht nach summarischer Prüfung jedenfalls durchgreifende Zweifel dahingehend, ob der Patient im vorliegenden Fall entscheidungsfähig war. Insbesondere fehlt hierzu jegliche schriftliche Dokumentation. Die klägerseits vorgelegte, nicht näher benannte „Entscheidung der obersten Rettungsdienstbehörde“ (Bl. 96 d. GA) ändert ebenfalls nichts daran, dass nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) NotSanG die medizinische Maßnahme der Erstversorgung im Anschluss grundsätzlich durch einen Arzt legitimiert werden muss. Außerdem geht diese selbst davon aus, dass Feststellungen des Rettungsdienstpersonals zur Entscheidungsfähigkeit des Patienten, zur Aufklärung über die etwaigen Folgen einer Transportverweigerung und zur dennoch erfolgten Ablehnung dokumentiert werden sollten, um rechtliche Konsequenzen möglichst auszuschließen. Die Dokumentation zur Entscheidungsfähigkeit und auch zum Vorhandensein eines Dolmetschers fehlt vorliegend aber gänzlich. Soweit Herr Dr. med. …1a in seiner Stellungnahme vom 20.3.2023 darauf abstellt, der Patient sei nach Aktenlage nach Infusion wieder einsichtsfähig gewesen, weshalb die Hinzuziehung eines Notarztes nicht zielführend erscheine, ist anzumerken, dass zur Einsichtsfähigkeit – wie oben beschrieben – jegliche Dokumentation der Einsatzkräfte fehlt.
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d) Unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes dürfte auch der Vorwurf der Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Dokumentationspflichten der Sache nach berechtigt sein. Dieser Fehler wurde auch vom Kläger und seinem transportführenden Kollegen eingeräumt. Ob dem Kläger diesbezüglich aber auch ein subjektiver Vorwurf gemacht werden kann, bezweifelt das Gericht nach Aktenlage. Denn maßgeblich verantwortlich für die Dokumentation des Einsatzes ist der Transportführer. Aus Sicht des Gerichts wäre eine Überprüfungspflicht durch den Fahrer des Rettungswagens im Wege des Gegenzeichnens o.Ä. in der Praxis nur schwer zu gewährleisten. Auch handelt es sich bei der Dokumentation – anders als bei der Notarztnachalarmierung (s.o.) – nicht um einen Handlungsschritt im Rahmen des Rettungseinsatzes selbst, sondern um eine dem Einsatz nachgeschaltete Verpflichtung, für die ausschließlich der Transportführer zuständig ist.
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e) Ob der Vorwurf der fehlenden Einsicht des Klägers den Widerruf der Delegation rechtfertigen kann, bleibt nach Aktenlage ebenfalls ungeklärt. Hierbei kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Weise der Kläger auf die Vorwürfe im Rahmen des Gesprächs am 6.11.2020 mit u.a. dem ÄLRD und auch darüber hinaus reagiert hat. In der Gesprächsnotiz des ÄLRD zum 6.11.2020 ist jedenfalls nichts festgehalten, was auf eine fehlende Einsicht des Klägers hindeuten würde. Ohne eine Dokumentation der Aussagen vermag das Gericht aber nicht zu beurteilen, inwieweit die Prognose der Unzuverlässigkeit des Klägers gerechtfertigt ist. Hierzu hätte es einer weitergehenden Aufklärung durch Einvernahme des ÄLRD, des Klägers und auch des beim Gespräch am 6.11.2020 anwesenden Kollegen T. S. im Rahmen der mündlichen Verhandlung bedurft.
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Aus Sicht der Kammer dürfte eine fehlende Einsicht im Hinblick auf Fehler bzw. Unstimmigkeiten bei einem Rettungsdiensteinsatz jedoch grundsätzlich die Prognose des Wegfalls der erforderlichen Zuverlässigkeit rechtfertigen, da – insbesondere, um Schäden und Gefahren für Patienten zu vermeiden – im Rettungsdienstbereich jederzeit gewährleistet sein muss, dass (delegierte) Maßnahmen ordnungs- und vorschriftsgemäß durchgeführt werden.
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f) Nicht zuletzt hätte die Prognose der fehlenden Zuverlässigkeit des Klägers – begründet durch die vom Beklagten geltend gemachten Vorwürfe – vom Gericht im Wege einer Gesamtschau ermittelt und bewertet werden müssen. In diese Bewertung hätte auch die Frage, wie der Beklagte auf das dem Kollegen T. S. vorgeworfene Fehlverhalten reagierte, namentlich, ob dessen Delegation ebenfalls mit Bescheid widerrufen wurde oder nicht, miteingestellt werden und anhand einer Gesamtabwägung aller in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls die Verhältnismäßigkeit des Widerrufs der Delegation geprüft werden müssen.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Gerichtskostengesetz (GKG) unter Berücksichtigung des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.