Titel:
Prozesskostenhilfe gegen Rückforderung von BAföG-Leistungen wegen möglichen Verstoßes gegen Beratungspflicht
Normenketten:
SGB II § 7 Abs. 5 S. 1
BAföG § 15b Abs. 3 S. 3, § 41
SGB I § 13, § 14, § 15
VwGO § 166
ZPO § 114
BGB § 242, § 839
GG Art. 34
Leitsatz:
Die Rückforderung von BAföG-Leistungen verstößt gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn der BAföG-Empfängerin bei korrekter Beratung Leistungen nach dem SGB II gegen das Jobcenter zugestanden hätten. (Rn. 17 und 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rückforderung von BAföG-Leistungen, Beratungspflicht des Leistungsverpflichteten, Sperrwirkung des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II, BAföG, Rückforderung, Beratungspflicht, Amtshaftung, Aufrechnung, Jobcenter
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 25.02.2022 – RN 9 K 20.1910
Fundstelle:
BeckRS 2023, 980
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 25 Februar 2021, RN 9 K 20.1910, wird dahingehend abgeändert, dass der Klägerin für das Klageverfahren mit dem Aktenzeichen RN 9 K 20.1910 zu 87% der Verfahrenskosten Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt wird, soweit sie eine Aufrechnung mit einem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG geltend macht.
II. Ihr wird insoweit Rechtsanwalt … … … …, mit der Maßgabe beigeordnet, dass keine höheren Kosten geltend gemacht werden können als bei der Beiordnung eines im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwaltes.
III. Im Übrigen wird der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nebst Anwaltsbeiordnung abgelehnt und die dies betreffende Beschwerde zurückgewiesen.
Gründe
1
Die Klägerin wendet sich gegen eine Rückforderung zuviel gewährter Förderungsleistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und in diesem Zusammenhang gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg betreffend die beantragte Prozesskostenhilfe.
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1. Der Klägerin waren vom Beklagten bis 31. März 2016 Förderungsleistungen nach dem BAföG in Höhe von 670,- EUR monatlich bewilligt worden. Als der Beklagte erfuhr, dass die Klägerin ihre Bachelorarbeit bereits am 14. Dezember 2015 abgegeben hatte, setzte er mit Bescheid vom 6. Juli 2016 das Ende des Bewilligungszeitraums auf einschließlich Dezember 2015 fest und forderte für die Monate Januar bis März 2016 einen Betrag von 2.010,- EUR zurück, obwohl die Klägerin laut Immatrikulationsbescheinigung der TH D… vom 7. Juli 2015 bis 14. März 2016 für ihr Studium eingeschrieben war.
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Der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 6. Juli 2016 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 2020 durch den Beklagten zurückgewiesen. Das Datum der Zeugniserteilung im März 2016 sei nicht maßgeblich, sondern der Abschluss des Studiums im Dezember 2015. Darauf sei die Klägerin mehrfach hingewiesen worden. Sie sei ihren Mitteilungspflichten dem Beklagten gegenüber insoweit nicht nachgekommen.
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2. Am 1. September 2020 erhob die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten Klage beim Verwaltungsgericht Regensburg und stellte gleichzeitig Antrag auf Prozesskostenhilfe. Der Beklagte habe gegen seine Beratungspflicht im Hinblick auf § 28 SGB X verstoßen. Dem Beklagten sei seit dem Widerspruch der Klägerin vom 27. Juli 2016 bekannt gewesen, dass die Klägerin im Januar 2016 Leistungen nach dem SGB II beantragt habe und dies bis März 2016 wegen der (zunächst) bewilligten BAföG-Leistungen abgelehnt worden sei. Der Klägerin stehe ein Amtshaftungsanspruch wegen unterlassener Beratung zu, mit dem sie aufrechne. Der Erstattungsforderung des Beklagten stünden der Einwand des „dolo petit“ sowie § 242 BGB entgegen. Überdies sei der Erstattungsanspruch gemäß §§ 107, 103 SGB X gesperrt, da der Beklagte gegenüber dem Jobcenter einen Erstattungsanspruch nach § 103 SGB X gehabt habe.
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Der Beklagte erwiderte, dass § 107 SGB X nicht einschlägig sei, weil der aufgehobene Bewilligungsbescheid von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Im Übrigen bestehe kein Erstattungsanspruch des Beklagten gegen das Jobcenter nach § 102 SGB X.
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Eine Beratungspflicht des Beklagten sei zu verneinen, da der Beklagte erst durch die Widerspruchsschrift vom 21. Juli 2016 durch die Klägerin Kenntnis vom SGB-II-Bezug erlangt habe. Zudem habe die Klägerin selbst nichts unternommen, um unter Vorlage des Bescheides vom 6. Juli 2016 Leistungen vom Jobcenter zu erhalten. Hierin liege ein grobes Mitverschulden. Mit Hilfe des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches könne nicht die Herstellung eines rechtswidrigen Zustandes erreicht werden.
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3. Das Verwaltungsgericht billigte mit Beschluss vom 25. Februar 2022 der Klägerin Prozesskostenhilfe gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO unter Beiordnung des Rechtsanwaltes Schumann zu, da zu 60% des streitigen Betrages eine Aufrechnung mit einem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG als offen zu beurteilen sei. Das Verwaltungsgericht stellte dabei die für April 2016 gewährte Leistung des Jobcenters in Höhe von 404,- EUR der Leistung nach dem BAföG i.H.v. 670,- EUR monatlich gegenüber.
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Der Anwendungsbereich des § 28 SGB X sei, so das Verwaltungsgericht, nicht eröffnet, da die Klägerin bei beiden Leistungsträgern, Jobcenter und Beklagtem, Leistungen beantragt habe. Zudem habe die Klägerin über die Problematik der Doppelförderung Bescheid gewusst. Sie hätte nach Rückforderung durch den Beklagten das Jobcenter um Leistungen ersuchen müssen. Ein Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG falle nicht unter die Prüfungs- und Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 17 Abs. 2 Satz 2 GVG), eine Aufrechnung im Verwaltungsgerichtsverfahren setze eine rechts- oder bestandskräftig festgestellte oder unbestrittene Forderung voraus, woran es hier fehle.
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Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bestehe nicht, weil er auf eine gesetzeswidrige Leistung des Beklagten hinausliefe. Der Anwendungsbereich des § 107 SGB X sei nicht eröffnet. Da die Klägerin bereits im 9. Fachsemester gewesen sei, sei die Förderungshöchstdauer bereits im Jahre 2015 überschritten gewesen, so dass die Rückforderung gerechtfertigt sei. Ebenso seien die Voraussetzungen der §§ 103 ff. SGB X nicht erfüllt.
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Ein Erlass komme wegen des Fehlens einer besonderen Härte ebenso nicht Betracht. Des Weiteren habe der Beklagte den Rückforderungsanspruch nicht verwirkt. Der Widerspruch der Klägerin, über den erst nach vier Jahren entschieden wurde, bedeute kein Wirksamkeitshindernis, sondern nur ein Vollziehungshindernis.
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Mit weiterem Beschluss vom 25. Februar 2022 setzte das Verwaltungsgericht Regensburg darüber hinaus das Klageverfahren aus und gab der Klägerin eine Frist von drei Monaten nach Rechtskraft des Prozesskostenhilfebeschlusses auf, um Klage vor dem zuständigen Zivilgericht gegen den Beklagten aufgrund Amtshaftung zu erheben.
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4. Gegen den Beschluss zur teilweisen Bewilligung von Prozesskostenhilfe vom 25. Februar 2022 legte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigen Beschwerde beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein, die mit Schriftsätzen vom 3. und 13. Mai 2022 wie folgt begründet wurde:
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Aufgrund § 28 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 7 SGB II hätte die Klägerin auch für die Vergangenheit Leistungen nach dem SGB II erhalten können, was sie nicht wusste, zumal dies nicht einmal manchen Fachleuten aus der Praxis bekannt sei. Die Klägerin habe von dieser Möglichkeit jedenfalls keine Kenntnis gehabt. Umso mehr wäre ein Hinweis hierauf seitens des Beklagten geboten gewesen. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides im Jahre 2020 sei der Klägerin der besagte Weg jedoch versperrt gewesen. Infolge dessen liege ein Beratungsverschulden, auch im Hinblick auf § 16 Abs. 2 SGB I, vor. Der Klägerin hätten für die Monate Januar bis März 2016 404,- EUR Regelleistung und für Januar und Februar 266,- EUR für Kosten der Unterkunft zugestanden, mithin 670,- EUR. Die Klägerin vertrete nicht die Auffassung, dass ihr für Januar bis März 2016 ein Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG zustehe. Sie hätte vom Jobcenter aber bei korrekter Beratung für Januar und Februar 2016 670,- EUR und für März 2016 404,- EUR bewilligt erhalten, was zusammen 1.744,- EUR ergebe. Nach § 16 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 SGB I könne der Antrag auf Leistungen nach dem SGB II auch beim Beklagten gestellt werden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
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Die zulässige Beschwerde hat teilweise Erfolg.
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1. Der Klägerin steht gemäß ihrem Antrag nach § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ZPO Prozesskostenhilfe zu, soweit sie in Höhe von 87% des Rückforderungsbetrages des Beklagten (1.744,- EUR von 2.010,- EUR) eine Aufrechnung mit einem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG geltend macht. Die Erfolgsaussichten eines Schadensersatzanspruches erscheinen nicht nur als offen, sondern liegen weitestgehend auf der Hand.
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2. Die Klägerin hat nach summarischer Prüfung einen Anspruch gegen den Beklagten auf Amtshaftung für die entgangene mögliche Leistung des Jobcenters Nürnberg für die Monate Januar bis März 2016 (1.744,- EUR statt der vom Beklagten zurückgeforderten 2.010,- EUR; denn für März 2016 fällt laut Mietvertrag vom 29. Juni 2015 keine Miete an). Sie wurde zwar stets vom Beklagten auf die Verpflichtung zur Abgabe von Änderungsanzeigen gemäß § 60 SGB I pauschal hingewiesen. Indes fehlte hierzu die notwendige individuelle Beratung der Klägerin, was anzeigepflichtige Änderungen im Einzelnen sind, geschweige denn die Beratung über die Rechtsfolgen von unvollständigen Angaben, die wegen der strengen Abgrenzungsregelung des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II gravierend sein können. Angesichts der Kollisionsnorm des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II hatte der Beklagte als vorrangiger Sozialleistungsträger eine besondere Beratungssowie Fürsorgepflicht und Verantwortung für die Hilfeempfängerin. Im Übrigen ist der Beklagte laut seinem eigenen Vorbringen trotz Kenntnis der Tatsachen selbst noch davon ausgegangen, dass es sich bei der Angabe des 3. Fachsemesters im 1. Semester um einen Systemfehler gehandelt hat. Infolge dessen kann der Beklagte dies der fachunkundigen Klägerin erst recht nicht entgegenhalten. Der Beklagte hätte im vorliegenden Fall die Klägerin vielmehr individuell beraten müssen (§ 41 BAföG). Diese ausdrückliche Pflicht tritt neben die allgemeinen Beratungs-, Hinweis- und Auskunftspflichten nach §§ 13 - 15 SGB I (vgl. Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 41 Rn. 8). Insbesondere fehlte es zum Zeitpunkt des Erlasses des Rückerstattungsbescheides an einer solchen Beratung, die die Klägerin veranlasst hätte, sich nunmehr an das Jobcenter zu wenden, was inzwischen allein schon aufgrund der abgelaufenen Frist nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 SGB X unmöglich geworden ist.
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Laut dem Widerspruchsbescheid vom 10. August 2020 hat die Klägerin das förderfähige 7. Fachsemester im Dezember 2015 abgeschlossen, sodass ab Januar 2016 nach Auffassung des Beklagten keine Förderung nach dem BAföG mehr möglich war. Diese Unmöglichkeit der Weiterförderung liegt jedoch nicht in der Person der Klägerin begründet, sondern in den ausbildungsförderrechtlichen Bestimmungen, die dahingehen, dass trotz Immatrikulation bis März 2016 bereits ab Januar 2016 (nach Auffassung des Beklagten) keine Förderung mehr zulässig ist.
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Damit besteht kein Anspruch auf BAföG-Leistungen dem Grunde nach, wie es § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II voraussetzt. Gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Nur in besonderen Fällen können Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen geleistet werden.
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Ein Anspruch dem Grunde nach auf Leistungen nach dem BAföG bedingt, dass ein alle studienfachlichen Voraussetzungen erfüllender Studierender Leistungen beanspruchen könnte, wenn er die persönlichen Voraussetzungen hierfür erfüllte. Im vorliegenden Fall war es der Klägerin der Auffassung des Beklagten nach ab dem 1. Januar 2016 unmöglich, BAföG-Leistungen zu beanspruchen. Hierzu wurde sie jedoch nicht (individuell) beraten, obwohl derartige Konstellationen in der Praxis geläufig sind und immer wieder zu Verwerfungen führen.
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Der Gesetzeszweck des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II, der eine Doppelförderung nach dem BAföG und dem SGB II ausschließen wollte, würde überinterpretiert und entspräche nicht dem Grundsatz der Einheit der Sozialrechtsordnung, wenn man Personen, die aus nicht in ihrer Person liegenden Gründen keinen Förderanspruch nach dem BAföG mehr besitzen, eine Sicherung des Existenzminimums nach dem SGB II verweigern würde. “Dem Grunde nach förderungsfähig” im Sinne der Vorschrift des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II bedeutet, dass die Ausbildung an sich förderfähig sein muss, unabhängig davon, ob aus in der Person des Betroffenen liegenden Gründen ihm eine Förderung seiner Ausbildung konkret nicht zusteht, sie etwa aus Gründen des Ausbildungs- oder Fachrichtungswechsels gemäß § 7 Abs. 2 und 3 BAföG versagt wird (vgl. Hess. LSG, B.v. 07.11.2006 - L 7 B 223/06 AS - juris, Rn. 19). Entscheidend ist die abstrakte Förderungsfähigkeit der Ausbildung (vgl. BSG, U.v. 06.09.2007 - B 14/7 b AS 36/06 R - BSGE 99, 67). Leistungen nach dem SGB II sind etwa dann nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II nicht möglich, wenn Auszubildende wegen eines Fachrichtungswechsels oder wegen subjektiv zurechenbarer Überschreitung der Förderungshöchstdauer oder aufgrund anderer individueller Versagensgründe keine Leistungen nach dem BAföG erhalten (vgl. BeckOGK/Hänlein, Stand 1.12.2021, SGB II, § 7 Rn. 122).
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2. Die Klägerin hat mit dem ihr zustehenden Amtshaftungsanspruch den Erstattungsanspruch des Beklagten aufgerechnet. Über das Bestehen des Anspruchs haben indes die ordentlichen Gerichte zu entscheiden. Im Falle des Bestehens eines Amtshaftungsanspruchs liegt ein typischer Fall des Verbotes des „dolo petit“ (§ 242 BGB analog) vor, da die Rückforderung des Beklagten gegen § 242 BGB, den Grundsatz von Treu und Glauben, verstößt. Dies trifft auf die Höhe der Leistungen zu, die der Klägerin nach dem SGB II gegen das Jobcenter bei korrekter Beratung durch den Beklagten zugestanden hätten, also 87% des zurückgeforderten Betrages (1.744,- EUR von 2.010,- EUR).
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3. In einem Amtshaftungsprozess (zur Amtshaftungspflicht vgl. Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 41 Rn. 10) wäre zu prüfen, ob die Klägerin dadurch ein Mitverschulden trifft, dass sie nicht unverzüglich nach Zugang des Rückforderungsbescheides beim Jobcenter Leistungen hätte rückwirkend beantragen müssen, was allerdings aufgrund des Beratungsdefizits seitens des Beklagten nicht naheliegt. Die Klägerin konnte zudem nur schwer erkennen, dass bei laufender Korrektur ihrer Bachelorarbeit und bei fortwährender Immatrikulation bis März 2016 das Studium ausbildungsförderungsrechtlich schon mit der Abgabe ihrer Bachelorarbeit im Dezember 2015 beendet sein sollte (oder gar bereits zum März 2015).
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4. Hinzu kommt, dass zum - maßgeblichen - Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (10. August 2020) nach § 15b Abs. 3 Satz 3 BAföG in der seit 1. August 2016 geltenden Fassung die Hochschulausbildung nunmehr mit Ablauf des Monats beendet ist, in dem das Gesamtergebnis des abgeschlossenen Ausbildungsabschnitts bekanntgegeben wird (am 11. März 2016 endete mit der Notenbekanntgabe die Abschlussprüfung), spätestens jedoch mit Ablauf des zweiten Monats nach dem Monat, in dem der letzte Prüfungsteil abgelegt wurde (hier 29. Februar 2016), so dass sich eine Änderung nach § 53 BAföG ohnehin nur für den Monat März 2016 ergäbe. Der Erstattungsanspruch des Beklagten reduziert sich damit - folgt man der Begründung im Widerspruchsbescheid, nach der die Förderfähigkeit nach dem BAföG mit Abschluss des letzten Semesters, angenommen Dezember 2015, endete - auf den Betrag für den Monat März 2016. Hinsichtlich des nunmehrigen Einwands des Beklagten aber, dass bereits im Jahre 2015 die Förderungshöchstdauer wegen des Erreichens der höchstmöglichen Fachsemesterzahl überschritten worden sein soll, gelten die Ausführungen zur Beratungspflicht der Klägerin gegenüber (s. hierzu 2.) erst recht.
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Weiter weist der Senat darauf hin, dass eingedenk der gesetzlichen Formulierung in § 15b Abs. 3 Satz 2, 2. Halbs. BAföG in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung, nach der für den Abschluss einer Hochschulausbildung stets der „Zeitpunkt des letzten Prüfungsteils“ maßgebend war, im vorliegenden Fall das Ausbildungsende der Klägerin möglicherweise nicht auf den Zeitpunkt der Abgabe der Bachelorarbeit fällt, sondern bei einem modularisierten Studiengang auf die Erbringung der letzten ECTS-Leistungspunkte (vgl. Lackner in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2000, § 15b Rn. 11) abzustellen ist, sodass sich die Rückforderung der BAföG-Leistungen für den Zeitraum Januar bis März 2016 bereits aus diesem Grund als rechtswidrig darstellt. Der Beklagte sollte deshalb eine Korrektur des streitgegenständlichen Bescheides erwägen.
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5. Ob ungeachtet dessen die Rechtsfigur des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs im Recht der Bundesausbildungsförderung überhaupt Anwendung findet, wie der Prozessbevollmächtigte der Klägerin postuliert, ist umstritten (vgl. offengelassen von BayVGH, U.v. 24.09.2008 - 12 BV 07.1939 - juris, Rn. 27, ebenso offengelassen durch BVerwG, U.v. 15.11.1994 - 11 C 19.94 - juris Rn. 21; nur - wegen Art. 20 Abs. 3 GG - bei zulässiger Amtshandlung: BSG, U.v. 2.10.2008 - B 9 VH 1/07 R - juris, st. Rspr.). Materiell stellt das BAföG nach § 68 Nr. 1 SGB I als zum besonderen Teil des Sozialgesetzbuchs gehörig Sozialrecht dar. Auf alle Fälle muss ein durch das pflichtwidrige Amtshandeln eingetretener Nachteil durch eine zulässige, also rechtmäßige Amtshandlung beseitigt werden können (Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. BSGE 92, 267, 279). Aufgrund der mutmaßlichen Amtspflichtverletzung kommt es hierauf indes entscheidungserheblich nicht an.
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6. Die vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin angezogenen Vorschriften aus dem SGB X und SGB I sind sämtlich nicht einschlägig.
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6.1 Insbesondere gilt dies für § 28 SGB X, der voraussetzt, dass statt des Antrags beim Jobcenter der Antrag an den Beklagten gestellt worden sein müsste. Nach § 28 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 7 SGB II kann zwar ein Leistungsberechtigter, wenn er von der Stellung eines Antrages auf eine Sozialleistung abgesehen hat, weil ein Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht worden ist, und diese Leistung versagt wird oder zu erstatten ist, einen (bis zu einem Jahr zurückreichenden) nachholenden Antrag stellen, wenn dieser innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist. Dies war nach Erlass des Widerspruchsbescheides des Beklagten qua Fristablauf nicht mehr möglich. Ein nachholender Antrag wäre aber daran gescheitert, dass die Klägerin nicht von der Stellung eines Antrages beim Jobcenter abgesehen hat, sondern diesen im Januar 2016 gestellt hat, so dass § 28 SGB X tatbestandlich nicht greift.
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6.2 § 16 SGB I regelt nur die Annahme von Sozialleistungsanträgen beim unzuständigen Leistungsträger und die Verpflichtung dieses Leistungsträgers, diese Anträge unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten. Ist dann die Sozialleistung von einem Antrag abhängig, gilt der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einer der in § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I genannten Stellen eingegangen ist. Dies führt im gegebenen Fall aber materiell nicht weiter.
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6.3 Der eigenständige Erstattungsanspruch aus § 102 Abs. 1 SGB X dient entgegen der Auffassung der Klägerin dem Zweck, eine auf Grund vorläufiger Leistungsgewährung eingetretene, aber dem materiellen Sozialrecht an sich widersprechende Lastenverschiebung rückgängig zu machen, und hängt daher von der materiellen Leistungspflicht des in Anspruch genommenen Leistungsträgers ab. Die Erstattungspflicht besteht somit grundsätzlich nur dann, wenn der auf Erstattung in Anspruch genommene Leistungsträger durch die vorläufig erbrachte Sozialleistung von einer an sich ihn treffenden Leistungsverpflichtung entlastet worden ist (BVerwG, U.v. 13.03.2003 - 5 C 6.02 -, juris).
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6.4 Die Anwendbarkeit von § 103 SGB X scheitert am Nichtvorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen; § 104 SGB X ist unanwendbar, weil nicht der nachrangig verpflichtete Leistungsträger geleistet hat. Dies schließt auch die Anwendung von § 105 SGB X aus. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug.
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7. Erstaunlicherweise hat die Klägerin einen Anspruch gegen das Jobcenter nicht erwogen. Denn letztlich hätte ex post betrachtet das Jobcenter Leistungen nach dem SGB II ggf. für die Monate Januar, Februar und zumindest März 2016 gewähren müssen. Insofern hat sich also das Jobcenter Leistungen erspart. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch würde hier ggf. auf eine gesetzlich zulässige Leistung gerichtet sein (vgl. aber zur Verjährung § 45 SGB I).
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8. Es ist auch, anders als die Klägerin meint, keine Verwirkung eines Erstattungsanspruches eingetreten. Die Verwirkung setzt als Anwendungsfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat, was hier der Fall ist, und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (BVerfGE 32, 305; BVerwGE 44, 339, 343). Solche, die Verwirkung nach sich ziehenden „besonderen Umstände“ liegen hier nicht vor. Die Klägerin durfte nicht infolge eines bestimmten Verhaltens des Beklagten darauf vertrauen, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen wollte, sie durfte sich infolgedessen in ihrem Vorgehen und Verhalten nicht demgemäß einrichten, sodass ihr durch den späten Erlass des Widerspruchsbescheides insofern kein unzumutbarer Nachteil entstanden ist (vgl. BSGE 80, 41, 43, BVerwGE 44, 339, 343 f, BSGE 114, 69, BSG, U.v. 31.03.2017 - B 12 R 6/14 R - juris, Rn. 19).
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9. Eine Kostenentscheidung erweist sich vorliegend als entbehrlich, weil Gerichtskosten in Angelegenheiten des Ausbildungsförderungsrechts nach § 188 Satz 2, Satz 1 VwGO nicht erhoben und Kosten im Prozesskostenhilfebeschwerdeverfahren nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden.
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10. Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.